Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Tschaikowsky – Paavo Järvi

Peter Tschaikowsky: Symphonie Nr. 5 e-moll op.64; Francesca da Rimini op.32. Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi. Alpha Classics ALPHA 659 (Note 1)

Schon das einleitende, klagende Klarinettensolo macht klar, dass hier Entscheidendes verhandelt wird: Es geht um alles oder nichts. Paavo Järvi und sein hoch motiviertes Tonhalle-Orchester durchleben Tschaikowskys Fünfte als großes Drama. Das ist direkt, plastisch, stringent, und tönt bis zum Finale dieser russischen Schicksalssymphonie nie parfümiert, immer packend. Auch in der oft unterschätzten Orchesterfantasie »Francesca da Rimini« geht es musikalisch um Leben und Tod. Das dürfte ein spannender Tschaikowsky-Zyklus aus Zürich werden! Für die Jury: Rainer Wagner

Orchestermusik und Konzerte

Martinů, Bartók – Frank Peter Zimmermann

Bohuslav Martinů: Violinkonzerte Nr. 1 H.226 & Nr. 2 H.293; Béla Bartók: Sonate für Violine solo Sz. 117. Frank Peter Zimmermann, Bamberger Symphoniker, Jakub Hrůša. SACD, BIS Records BIS-2457 (Klassik Center)

Immer noch gehört Bohuslav Martinů zu den Komponisten, denen man in den Konzertsälen außerhalb Tschechiens selten begegnet. Einer der wenigen Geiger, die sich seiner Werke annehmen, ist Frank Peter Zimmermann. Seine Einspielung der Violinkonzerte mit dem aus Brünn stammenden Jakub Hrůša und dessen Bamberger Symphonikern ist ein großer Wurf! Hier trifft prachtvolle Klangentfaltung glücklich zusammen mit einem sicheren Gespür für das Idiom von Martinůs Musik. Zimmermanns Beherrschung der technisch diffizilen Soloparts ist herausragend. Auch in Béla Bartóks Solo-Sonate hält er dieses Niveau: Gelungen ist eine der erfindungsreichsten, klangschönsten Interpretationen dieses Werkes. Für die Jury: Norbert Hornig

Kammermusik

»Solo II« – Tabea Zimmermann

Johann Sebastian Bach: Suiten für Violoncello solo BWV 1009 & 1010 (Bearb. für Viola); György Kurtág: 6 Stücke aus »Signs, Games and Messages« für Viola. Tabea Zimmermann. Myrios Classics MYR026 (harmonia mundi)

Tabea Zimmermann ist eine Ausnahmekünstlerin, einzigartig auf ihrem Instrument. Wenn sie die Solosuiten von Johann Sebastian Bach auf einer modernen Vatelot-Bratsche von 1980 spielt, fremdelt der Hörer nicht eine Sekunde lang mit dem Klang. Die Eleganz dieser mit Wärme und tänzerischer Leichtigkeit aufgeladenen, aber auch tontechnisch sorgfältig eingefangenen Interpretationen trifft hier auf sechs Stücke aus Kurtágs Zyklus für Streichinstrumente in verschiedenen Besetzungen, »Jelek, Játékok és Üzenetek« (Zeichen, Spiele, Botschaften), darunter die ihr gewidmete, spieltechnisch enorm anspruchsvolle Hommage »… eine Blume für Tabea …«. Für die Jury: Bernhard Hartmann

Kammermusik

Variations on Folk Songs

Ludwig van Beethoven: Variationen über Volksweisen op.105 & op.107; Franz Doppler: Fantaisie pastorale hongroise op.26, Airs valaques op.10; Friedrich Kuhlau: Variations sur un ancien air suédois (aus op.83 Nr.1); Eugène Walckiers: Rondo auvergnat (aus op.47). Anna Besson, Olga Pashchenko. Alpha Classics ALPHA 639 (Note 1)

Dieser Flötenklang ist magisch. Warm, dunkel, vielsagend, vielfarbig. So lebendig, dass wir coronal ausgehungerten Konservenhörer hier keine CD zu hören meinen, sondern mit Anna Besson und der fulminanten Olga Pashchenko am Fortepiano zusammen sind und wieder begreifen, dass der Klang die Musik macht; dass auch Folklore und ein atmendes Fantasieren den Horizont erweitern, nicht nur geniöse Konzepte – was Franz Doppler offenbar hörbar besser wusste als Beethoven. Und: dass nach der romantischen Klappenflöte die Entwicklung der modernen Querflöte auch eine Entzauberung war. Hier ist sie überwunden. Für die Jury: Volker Hagedorn

Tasteninstrumente

Silver Age – Daniil Trifonov

Sergej Prokofjew: Klavierkonzert Nr. 2 op. 16; Sarkasmen op. 17; Klaviersonate Nr. 8; Gavotte aus Cinderella op. 95; Alexander Skrjabin: Klavierkonzert fis-moll op. 20; Igor Strawinsky: Serenade A-Dur für Klavier; Feuervogel-Suite für Klavier; 3 Sätze aus Petruschka für Klavier. Daniil Trifonov, Mariinsky Orchestra, Valery Gergiev. 2 CDs, Deutsche Grammophon 483 5331 (Universal)

Daniil Trifonov überträgt für sein Doppel-Album mit dem Mariinsky-Team den Begriff vom »Silbernen Zeitalter« aus der russischen Literatur auf die Musik von Prokofjew, Skrjabin und Strawinsky – mit zwei Klavierkonzerten und verschiedenen Solo-Werken. Ob mit schroffen Akkorden und wilden Sprüngen wie in Prokofjews »Sarkasmen«, oder sanft im Anschlag, geheimnisvoll in der atmosphärischen Ausleuchtung des Skrjabin-Konzertes – Trifonov erweist sich als glänzender Führer durch dieses Panorama. Sein Spiel wahrt stets das Versprechen einer unverfälschten Darstellung, mit klug gewählten Mitteln, die ihm zahlreiche Nuancen erlauben. Für die Jury: Christoph Vratz

Tasteninstrumente

Matthias Weckmann: Die Orgelwerke

Léon Berben. 2 SACDs, Aeolus AE-11261 (Note 1)

Diese Einspielung der Orgelwerke von Matthias Weckmann löst aufs Schönste alles ein, was schon die äußeren Umstände versprechen: die Tangermünder Scherer-Orgel von 1624 mit zwei jüngst rekonstruierten Zungenstimmen; die Stellwagen-Orgel der Lübecker Jakobikirche von 1636; ein brillantes Aufnahmeteam; und, nicht zuletzt, ein Künstler, dessen Expertise und charmante Musikalität die unendlich erfinderische Kontrapunktik Weckmanns ins Licht rücken. Berben schöpft aus dem Vollen, besonders in den großen Choralzyklen, die regelrecht erblühen in der Klangvielfalt und Klangpracht beider Orgeln. Für die Jury: Friedrich Sprondel

Oper

Marin Marais: Alcione

Lea Desandre, Cyril Auvity, Marc Mauillon, Lisandro Abadie, Hasnaa Bennani, Hanna Bayodi-Hirt, Antonio Abete, Le Concert des Nations, Jordi Savall. 3 SACDs, Alia Vox AVSA9939 (harmonia mundi)

Vor drei Jahrzehnten ist Marin Marais dank eines Films mit Gérard Depardieu (»Tous les matins du monde«, mit dem deutschen Titel: »Die Siebente Saite«) auch außerhalb des Zirkels der Alte-Musik-Liebhaber bekannt geworden, als sagenhafter Gambenspieler. Erst in den letzten Jahren rückte er auch als Opernkomponist stärker in den Fokus. Und parallel dazu: der enorm produktive Jordi Savall. Er wurde als Gambist mit eben jenem Musikfilm zum Weltstar seines Instruments. Hier präsentiert er mit großem Ensemble – allein vierzehn Gesangssolisten! – eine opulent-lebendige Einspielung von »Alcione«, der bedeutendsten Tragédie lyrique von Marais, die bis ins kleinste Detail fasziniert. Für die Jury: Martin Elste

Oper

Jaromír Weinberger: Frühlingsstürme.

Stefan Kurt, Alma Sadé, Vera-Lotte Boecker, Dominik Köninger, Tansel Akzeybek, Tino Lindenberg, Luca Schaub, Tänzer & Orchester der Komischen Oper Berlin, Jordan de Souza, Regie: Barrie Kosky. Blu-ray/DVD, Naxos NBD0122V/2110677-78

Immer wieder hat sich Barrie Kosky als Intendant der Komischen Oper Berlin mit den verdrängten Operetten der Weimarer Republik befasst. So ließ er die 1933 am Metropoltheater mit Richard Tauber uraufgeführte, von den Nazis wieder abgesetzte, nur als Klavierauszug überlieferte Operette »Frühlingsstürme« von Jaromír Weinberger rekonstruieren. Nach 87 Jahren Vergessenheit kam das Stück wieder auf eine deutsche Bühne: eine Liebes- und Spionagegeschichte aus dem russisch-japanischen Krieg von 1905, inszeniert in einer kargen Holzkiste mit viel Dialogwitz und Drehtür-Slapstick, mit feinen Solisten. Dirigent Jordan de Souza widmet sich mit Sorgfalt der opernhaften Opulenz von Weinbergers Musik. Für die Jury: Robert Braunmüller

Chor und Vokalensemble

Bruckner: Messe Nr. 2 – Philippe Herreweghe

Anton Bruckner: Messe Nr.2 e-moll WAB 27; Te Deum WAB 45. Hanna-Elisabeth Müller, Ann Hallenberg, Maximilian Schmitt, Tareq Nazmi, Collegium Vocale Gent, Orchestre des Champs-Élysées, Philippe Herreweghe. Phi LPH 034 (Note 1)

Der Chor trägt hier die Hauptlast. Es gibt keine Solisten, Orgel, Streicher. Herreweghe lässt die Bläser aber so differenziert agieren, dass der Eindruck eines kompletten Orchesters entsteht. Er meidet flächige Bläserattacken, wie man sie aus Bruckners späteren Symphonien kennt, scheut aber keineswegs klangliche Exzesse, wie er sie mit dem makellosen Collegium Vocale Gent herrlich ausleben kann. So entstehen große magische Momente, wie natürlich, ohne die gewohnte Grabesschwere. Manchmal klingt es gar wie der Versuch, von Schuberts Geborgenheitssehnsucht zum Ausdrucksfuror von Berlioz eine luftige Hängebrücke zu spannen. Für die Jury: Helmut Mauró

Klassisches Lied und Vokalrecital

Erwin Schulhoff: Lieder

Sunhae Im, Tanja Ariane Baumgartner, Hans Christoph Begemann, Klaus Simon, Britta Stallmeister, Myvanwy Ella Penny, Delphine Roche, Filomena Felley, Philipp Schiemenz. 3 CDs, bastille musique bm012 (rudi mentaire distribution)

Zum ersten Mal sind in dieser Edition alle 94 Lieder von Erwin Schulhoff versammelt. Vom Slowfox über den zur Miniatur verdichteten Seelenschmerz bis zum komponierten Streik-Aufruf reicht die Palette. Künstlerischer Motor der Produktion ist der Pianist Klaus Simon, der einen Teil der Stücke für den Schott Verlag erstmals edierte, aufgenommen wurde im SWR zwischen 2016 und 2018. Unter den Solisten ragt Tanja Ariane Baumgartner heraus. Wie immer beim Label bastille musique werden die drei CDs durch ein luxuriöses und liebevoll gestaltetes Booklet ergänzt. Für die Jury: Stephan Mösch

Alte Musik

Josquin Desprez: Messen

Missa Hercules Dux Ferrarie; Missa D’ung aultre amer; Missa Faysant regretz. The Tallis Scholars, Peter Phillips. Gimell Records CDGIM 051 (Note 1)

Mit dieser CD schließen die Tallis Scholars rechtzeitig zum 500. Todestag Josquins ihre Gesamtaufnahme sämtlicher Messen dieses wohl bedeutendsten Meisters der Renaissance-Polyphonie ab. Sie hatten dieses Projekt vor vierunddreißig Jahren begonnen. Einmal mehr begeistert, wie es Peter Phillips gelingt, seine Sängerinnen und Sänger auf eine Interpretation einzuschwören, die die vollkommene Homogenität des Klangs mit der strukturellen Durchhörbarkeit einer jeden einzelnen Stimme verbindet. Mathematik wird zur Magie – ein Ereignis, das Josquins strenge Kunst in all ihrer Fremdheit unmittelbar gegenwärtig macht. Für die Jury: Uwe Schweikert

Zeitgenössische Musik

Rebecca Saunders: Still / Aether / Alba

(musica viva #35). Carolin Widmann, Carl Rosman, Richard Haynes, Marco Blaauw, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Ilan Volkov, Peter Eötvös. BR Klassik 900635 (Naxos)

Kompositorische Brillanz und Originalität, Farbigkeit im Geräuschhaften, suggestive Klangimagination und Abgründigkeit: All dies verbindet sich hier mit einer ebenso dramatisch packenden wie überlegen ruhigen Gestaltungsweise. Die drei auf diesem Album versammelten Konzertwerke markieren Höhepunkte im jüngeren Schaffen der britischen Komponistin Rebecca Saunders, die vorletztes Jahr mit dem Siemens Musikpreis ausgezeichnet wurde. Wunderbar spielfreudige Solisten tragen diese Produktion des Bayerischen Rundfunks mit, herausragend die Geigerin Carolin Widmann und der Trompeter Marco Blaauw. Für die Jury: Thomas Meyer

Historische Aufnahmen

George Szell: The Warner Recordings 1934-1970

Werke von Ludwig van Beethoven, Edouard Lalo, Johann Strauss, Antonín Dvořák u.a.. Bronislaw Hubermann, David Oistrach, Pablo Casals, Mstislaw Rostropowitsch, Emil Gilels, Artur Schnabel, Benno Moiseiwitsch u.a., Cleveland Orchestra, Wiener Philharmoniker, London Symphony Orchestra, London Philharmonic Orchestra, Tschechische Philharmonie. 14 CDs, Warner Classics 9029526718

Diese Szell-Edition schlägt einen weiten zeitgeschichtlichen Bogen. Mit der Tschechischen Philharmonie nahm der ungarisch-österreichische Dirigent, der eigentlich György Endre Szél hieß und so früh und steil Karriere gemacht hatte, 1937 Werke von Dvořák auf. Auch die Dokumentation seiner Zusammenarbeit mit Musikern wie Casals, Huberman oder Schnabel, festgehalten 1939 auf Schellackplatten, stammt noch aus der Zeit vor seiner Emigration. In Amerika entstanden später Aufnahmen, die dem amerikanisch-sowjetischen Kulturaustausch zu verdanken sind, mit Rostropowitsch, Oistrach oder Gilels. Die Linie führt am Ende wiederum zu Dvořák, aufgenommen 1970 in Cleveland. Für die Jury: Stephan Bultmann

Grenzgänge

Gabriele Hasler: Herden und andere Büschel

Laika Records 3510384.2 (Rough Trade)

Eine »Herde von Klängen« hüten? Wird kompliziert, wenn Allophone und Affrikate, Postalveolare und Frikkative »ständig in Bewegung« sind. Gabriele Hasler ist Hirtin, Jägerin und Köchin zugleich, ihr geht kein Laut flöten. Namen werden Schall und Hauch, Worte durch den Vokalwolf gedreht, mit Konsonantenschleifer bearbeitet und durch Wiederholung, Weglassung oder Nachwürzen versinnlicht. Was sie in Wikipedia-Wortstrecken vorfindet, aus Vokabelheften rezitiert oder den Vögeln vom Schnabel abliest, nennt sie »Höricht«. Minimale Interventionen erzeugen aus Sprache Melodien, aus Gesang Geräusch und umgekehrt. Das lässt sich immer aufs Neue staunend anhören und am Ende noch mitsummen. Für die Jury: Nikolaus Gatter

Filmmusik

Ludwig Göransson: Tenet

Original Motion Picture Soundtrack. 2 CDs, Watertower Music 9404320425 (Warner)

An einer Stelle in diesem wunderbaren Exemplar von schierem Überwältigungs-Kino heißt es: »Don’t try to understand it, feel it«. Trifft auf beides perfekt zu: auf Christopher Nolans Film und auf die Musik von Göransson, der schon mit »The Mandalorian« bewiesen hatte, dass auch einfache Blockflötenmelodien hitfähig sind. Hier, in diesem Soundtrack, denkt er den Begriff Filmmusik neu. Da werden Gitarren auf einen Ton reduziert, verfremdet und wie ein Peitschenschlag eingesetzt – eine drängende, fordernde Musik, die nichts Niedliches und Verharmlosendes hat. »Tenet« hat das große Ziel, seine Zuschauer zu verunsichern. Dass das grandios gelingt, liegt auch an Göranssons Musik. Ein Meisterwerk! Für die Jury: Peter Beddies

Musikfilm

Cunningham. Tanz ist Kunst

Ein Film von Alla Kovgan. DVD, good!movies 202810 (EuroVideo Medien GmbH)

Der Regisseurin Alla Kovgan gelang mit diesem Porträt des großen Tänzers und Choreographen Merce Cunningham ein Film, der weit über das Tanzgenre hinaus geht. Fokussiert auf die Schaffensphase bis 1972, werden brillant collagierte Film-, Ton-, Bild- und Skizzendokumente, historische Interviews und anderes Originalmaterial mit heutigen Neuinszenierungen verschränkt, getanzt von ehemaligen Mitgliedern der inzwischen aufgelösten Cunningham Dance Company, auf Dächern oder in Parks, an wundersamen Locations und in der Natur. Wie das Tänzerische hier Raum greift und gleichzeitig den Musiken von John Cage, Morton Feldman, Conlon Nancarrow oder Christian Wolff Raum lässt, das ist atemraubend. Für die Jury: Juan Martin Koch

Jazz

Ella Fitzgerald: The Lost Berlin Tapes

2 LP/CD, Verve 00602507450137 (Universal)

Sie hat den Scat nach Berlin gebracht! Wann immer Ella Fitzgerald in den Sechzigern zu Konzerten nach Europa kam, stand die Inselstadt auf dem Tourneeplan. Den Scat-Gesang mit Silben führte sie zur Meisterschaft, ihre Vokal-Soli standen gleichberechtigt neben den Instrumental-Soli. Die Live-Mitschnitte der Konzerte in der Deutschlandhalle 1960 und 1961 wie auch die Aufnahmen vom 25. März 1962 im Sportpalast strahlen Charisma und Energie aus. Dass der Musikproduzent Norman Granz seinerzeit auf allen Tourneen ein Team von Technikern nebst Equipment mitreisen ließ, erweist sich einmal mehr als Glücksfall. So lässt sich Ella in Berlin auch nach sechs Jahrzehnten in herausragender Form erleben. Für die Jury: Lothar Jänichen

Jazz

Alexander von Schlippenbach: Slow Pieces For Aki

Intakt Records Intakt CD 346 (harmonia mundi)

Um diese Musik spielen zu können, bedarf es einer Konzentration auf das Wesentliche, die sich so wohl erst im fortgeschrittenen Lebensalter einstellt. Alexander von Schlippenbach gestaltet einundzwanzig Miniaturen zu einem von ernster Lyrik durchzogenen Klavierzyklus, in dem sich kompositorische Ideen und Impulse aus der Improvisation trefflich ergänzen. Alles Überflüssige erscheint eliminiert, jedem Ton gilt die gleiche, gesteigerte Aufmerksamkeit. Im Vergleich mit der vom Free Jazz gewohnten Akzentuierung des Schnellen, Lauten und Exzessiven kommen diese Stücke eher bedächtig daher. Doch sie offenbaren – und das ist das Faszinierende – unter der Oberfläche den gleichen Freiheitsdrang. Für die Jury: Bert Noglik

Weltmusik

Ayom

flowfish records 195448938876 (Broken Silence)

Die Band Ayom klingt, als würde sie schon jahrelang ihren Brasilien-Kapverden-Mittelmeer-Mix pflegen. Dabei traf die brasilianische Sängerin Jabu Morales erst vor knapp zwei Jahren auf das Forró Quartett aus Italien. Die Vielfalt der eingesetzten Rhythmen ist überwältigend: Merengue, Samba, Cumbia, Calypso, Tarantella, Polka…. das könnte auch schief gehen! Gelingt aber äusserst gut, ist ansteckend fröhlich, leichtfüssig und luftig. Eine kompakte Rhythmustruppe, ein facettenreiches Akkordeon, eine strahlende Leadstimme, eine ausgewogene Produktion, und fertig ist das Gute-Laune-Album der Saison. Für die Jury: Jodok W. Kobelt

Traditionelle Ethnische Musik

Terra Incognita: TUVA

Eine Reise zu Nomaden, Musikern und Schamanen (inkl. Musik von Huun-Huur-Tu und einer DVD-Dokumentation über das Oberton-Singen). Huun-Huur-Tu. Buch, CD & DVD, Jaro Medien ISBN 978-39813509-6-8

Tuva: Ein Sehnsuchtsort des Westens. Es wäre nicht übertrieben, festzustellen, dass dieses kleine Land im Herzen Asiens bei uns bekannt wurde erst durch seine Gesangstechniken. Man assoziiert sie mit mystischem Naturverständnis und Schamanismus. In wieweit diese komplexe akustische Welt mit den weiten Linien der Steppe und der blauen Berge, dem harten Leben der Zelt-Nomaden und ihren Pferden zu tun hat, das erfährt man nirgendwo eindringlicher als in dieser Publikation von Oberton-Konzert und Kehlkopfgesang, realistischem Film und zauberischem Bilderbuch: eine physische Innenwelt, ein tuvinisches Universum. Für die Jury: Jan Reichow

Liedermacher

Max Prosa: Grüße aus der Flut

CD/LP, Prosa Records 770055/770056 (tonpool medien)

Max Prosas neue CD fällt auf durch ihre reduzierte Optik, in schlichtem Schwarzweiß, doch sie punktet mit Qualität und mit lyrischen Bildern von Rang. Sie sind nicht kryptisch verschlüsselt, vielmehr nachvollziehbar und bereichernd für den, der zuhören will. Voller Leidenschaft interpretiert Prosa seine Lieder mit markanter Stimme und unverbrauchten Melodiebögen. Melancholisch, bitter-süß, und nie ohne Hoffnung. »Manchmal weiß ich gar nicht so genau, ob diese Texte Lieder werden oder Gedichte«, sagte er einmal in einem Radiointerview. Eines ist gewiss: Sie lassen sich auch als Lyrik lesen. Und zwar mit Gewinn. Für die Jury: Kai Engelke

Folk und Singer/Songwriter

Cinder Well: No summer

CD/LP, Free Dirt DIRT-CD-0098 (Galileo)

Gitarre, Piano, Fiedel und dazu eine eindringliche, fast mystische Stimme: Minimalistisch kommt dieses Album daher und schafft doch einen magischen Klangkosmos. Fast hat man das Gefühl, an einem Regentag Irlands musikalischem Herzen nachzuspüren. Dabei hat sich die gebürtige Kalifornierin Amelia Baker alias Cinder Well nicht nur von traditionellen Weisen der grünen Insel, sondern auch von der archaischen Volksmusik der Appalachen inspirieren lassen. Ein folkloristisches Kleinod, das zur Meditation einlädt. Für die Jury: Suzanne Cords

Pop

Idles: Ultra Mono

CD/LP, Pias/Partisan Records 39148402 (Rough Trade)

Texte gegen Rassismus, Ausgrenzung und gegen Hass als vermeintliche Meinung, von Bandleader Joe Talbot mit herbem working-class-Akzent ins Mikrophon gebellt, dazu bratzige Gitarren und ein Schlagzeug mit der Wucht einer Dampfwalze: So fährt das britische Quintett Idles auf seinem dritten Studioalbum resolut die Ellbogen aus. Und zeigt mit einer Art Punkrock 4.0, was dieses Genre im Idealfall sein kann: politisch explizit in der Haltung, kompromisslos mitreißend im Sound. Nahtlos ins Bild passt da Savages-Sängerin Jehnny Beth, sie wettert in »Ne touche pas moi« gegen männlichen Sexismus. Eine echte Überraschung: der Auftritt von Rock’n’Roll-Jazzer Jamie Cullum in »Kill Them With Kindness« Für die Jury: Christof Hammer

Rock

Bruce Springsteen: Letter to you

2 LP/CD, Columbia Records 19439811582 (Sony)

Im Herbst 2019 hatte Bruce Springsteen seine E-Street Band einberufen, in nur vier Tagen spielten die alten Recken zwölf neue Stücke ein. Und zwar gleichzeitig, alle zusammen und live. Da verhaken sich die Instrumente zu einem fulminanten Sound – dem hörbaren Ausdruck dessen, wovon Springsteen in seinen Texten singt. Es sind Themen wie Alter, Tod und Vergänglichkeit. Und der Weg aus dem irdischen Jammertal führt dann geradewegs in das »House Of A Thousand Guitars«, natürlich am Samstagabend! Ein Studioalbum, das von der ersten bis zur letzten Minute klingt wie ein großartiges Livekonzert. Für die Jury: Fritz W. Haver

Hard und Heavy

Sodom: Genesis XIX

2 LP/CD, Steamhammer 243581/243582 (SPV)

Man muss nicht zur »Früher-war-alles-besser-Fraktion« gehören, um diese neue Sodom-Scheibe zu feiern – aber es hilft! Wer jedoch »Genesis XIX« auf die Oldschool-Debatte reduzieren will, der übersieht den thrashenden Punkt: Rückkehrer Frank Blackfire. Der hat nicht nur prima Songideen, er lässt selbst banale Allerweltsriffs wie das coolste Gitarren-Ding seit »Hit the Lights« klingen. Und das, ohne die Ruhrpott-Institution durch zu technisches Spiel ihres ruppigen Charmes zu berauben. Somit gilt wieder, frei nach Theresa May: »Sodom means Sodom«. Für die Jury: Felix Mescoli

Club und Dance

Avalon Emerson: DJ-Kicks

CD/LP, !K7 Records K7395 (Indigo)

Dieses Album ist ein Highlight in Avalon Emersons bisheriger Karriere – nicht nur wegen des guten Rufs der legendären Mix-Serie. Rund ein Viertel der Songs sind Eigenproduktionen der amerikanischen Künstlerin, ihre ersten Veröffentlichungen seit 2017. Raumgreifende Synthie-Flächen mit technoid-rumpelndem Unterbau spielen in ihren Tracks oft die Hauptrolle, so auch hier, sie fügen den ansonsten eklektischen Mix zusammen. Denn Emerson spielt mit Tempo und Genres: Wave, Disco-House, Breakbeat, Pop – kommt alles vor. Eine wilde Mischung, in der Emerson auch ohne DJ-Booth zeigt, dass sie das Publikum in ihren Bann zu ziehen versteht. Für die Jury: Cristina Plett

Blues

Kai Strauss: In My Prime

Continental Blue Heaven CBHCD 2038 (in-akustik)

Zuletzt hatte er mit der CD »Getting Personal« einen Bestenlisten-Titel 2017 errungen, jetzt legt er nach. Kai Strauss sagt von sich selbst, er sei ein Blues-Fan, der für Blues-Fans spielt. Er hat für sich die optimale Mitte gefunden, weiß um die Hinterlassenschaften der Altvorderen, aber auch um die Anforderungen des modernen Blues. Behutsam fügt er aktuelle Zutaten bei, ohne jedoch die »Ursuppe« zu verwässern, er legt Wert auf Eleganz im Klangbild, verliert aber dabei nie die ursprüngliche Raubeinigkeit des Blues aus dem Blick. Dieses Album ist ein echter Leckerbissen. Für die Jury: Karl Leitner

R&B, Soul und Hip-Hop

Sault: Untitled (Rise)

CD/LP, Forever Living Originals FLO00006CD/FLO0006LP (Direktvertrieb)

Contemporary testimony – ein Zeitzeugnis. Dieses Prädikat gilt für alles, was vom englischen Kollektiv Sault rund um den Produzenten Inflo seit Mai 2019 veröffentlicht worden ist. Musikalisch beziehen sich Sault auf den Anfang der Siebziger, mit klaren Bezügen und unerschütterlichen Texten zur aktuellen politischen Lage, insbesondere der Black-Lives-Matter-Bewegung, ausgestattet mit Samples aus der Hochzeit des Soul, Jazz und Funk – ein Spagat, der nur wenigen Musikern und Produzenten gelingt. Ein Sound, der buchstäblich ins Schwarze der Jetztzeit trifft. Alle Erlöse werden wohltätigen Organisationen gespendet. Namen sind nicht wichtig, es geht um die Botschaft des Projekts. Für die Jury: Michael Rütten

Dieses Album gewann sowohl in der Jury R&B, Soul und HipHop als auch in der Jury Alternative.

Wortkunst

Garrett M. Graff: Und auf einmal diese Stille

Die Oral History des 11. September. Aus dem Englischen von Philipp Albers und Hannes Meyer. Torben Kessler, Sascha Rotermund, Peter Lontzek, Robert Frank, Reinhard Kuhnert, Detlef Bierstedt, Julia Stoepel, Vera Teltz, Nils Nelleßen, Gabriele Blum, Alexander Doering, Uve Teschner. 3 mp3-CDs, Hörbuch Hamburg ISBN 978-3-95713-222-2

Der Autor hat in Archiven geforscht und Interviews geführt mit Menschen, die die mörderischen Anschläge am 11. September 2001 miterlebt und überlebt haben. Aus fünfhundert Zeugnissen ist so eine eindrucksvolle Collage des Grauens entstanden, die in einer siebzehnstündigen Hörbuchfassung unter der Regie von Julia Ostrowski klug und sensibel umgesetzt wurde. Einundzwanzig Sprecher und Sprecherinnen lassen diese Oral History lebendig werden: Die Meldung einer Flugbegleiterin, die weiß, dass sie gleich sterben wird; die letzten Telefonate der Passagiere; die Frage eines Mitarbeiters der Flugabwehr: »Passiert das wirklich oder ist das Teil einer Übung?« Für die Jury: Manuela Reichart

Kinder- und Jugendaufnahmen

Linn Skåber: Being Young – uns gehört die Welt

Leonie Landa, Katinka Kultscher, Julian Greis, Hendrik Kleinschmidt, Jule Hupfeld, Marlon Bartel, Lilly Lengenfelder, Malin Gerken, Philip Engeli, Inana Marie Benn. 2 CDs, Goya libre ISBN 978-3-8337-4232-3 (Jumbo)

Für das Ende der Kindheit, den Eintritt ins Teenageralter fand die norwegische Autorin Linn Skåber das Bild eines Zimmers, das plötzlich neu einzurichten ist. Neugier, Abenteuerlust, Verliebtsein, erste sexuelle Erfahrungen, aber auch Verunsicherung, Trotz, Wut, Einsamkeit – eine Unmenge Emotionen stürmen auf den jungen Menschen ein. Gestützt auf Interviews wird die Zeit der Pubertät in kraftvolle Worte gekleidet: in literarischen, formal vielfältigen Monologen, mal nachdenklich, mal fröhlich, jedenfalls berührend – und überzeugend gelesen von unterschiedlichen Stimmen, die der Vielfalt der Erfahrungen ihren jeweils eigenen Klang geben. Für die Jury: Regina Himmelbauer

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