Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

NEU: Longlist 2/2024, veröffentlicht am 5. April 2024

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Debussy Schönberg: Pelléas et Mélisande

Claude Debussy: Pelléas et Mélisande – Suite symphonique, Arnold Schönberg: Pelleas und Melisande op.5. Orchestre de la Suisse Romande, Jonathan Nott. 2 SACDs, Pentatone PTC 5186 782 (Naxos)

Dass »Pelléas et Mélisande«, einzig vollendete Oper Claude Debussys, einst als vollgültiges Orchesterstück erklingen könnte, war nicht zu erwarten. Inzwischen ist es Realität – dank dem Dirigenten Jonathan Nott, der das Bühnenwerk zu einer veritablen Symphonischen Dichtung umgeformt hat. Konzentriert auf Schlüsselstellen und erweitert durch instrumental ausgeführte Singstimmen erfährt das Stück eine packende Verdichtung, zumal es vom Orchestre de la Suisse Romande und seinem Musikdirektor farbenreich vorgetragen wird. So kann Debussy direkt auf Arnold Schönberg stoßen, was einen einzigartigen Erlebnishorizont schafft. Für die Jury: Peter Hagmann

Orchestermusik und Konzerte

Beethoven Berg Bartók: Violinkonzerte

Ludwig van Beethoven: Violinkonzert op. 61, Alban Berg: Violinkonzert »Dem Andenken eines Engels«, Béla Bartók: Violinkonzerte Nr. 1 & 2. Frank Peter Zimmermann, Berliner Philharmoniker, Daniel Harding, Kirill Petrenko, Alan Gilbert. 2 CDs & 1 Blu-ray, Berliner Philharmoniker Recordings BPHR 210151 (Direktvertrieb)

Die Berliner Philharmoniker und Frank Peter Zimmermann verbindet schon seit langem eine überaus ergiebige künstlerische Zusammenarbeit. Sie begann 1985, da war der junge Geiger gerade zwanzig. Auf dem Eigenlabel des Orchesters wird diese Allianz nun auf höchstem Niveau fortgesetzt, interpretatorisch, klangtechnisch und editorisch. Zimmermann gestaltet die Violinkonzerte von Beethoven, Berg und Bartók souverän und abgeklärt, zugleich spannend und ideenreich und dabei ungemein tonschön. All das geschieht auf absoluter Augenhöhe und in Kongruenz mit dem Orchester und den drei beteiligten Dirigenten. Auch ästhetisch ist diese Edition sehr schön gestaltet. Herausragend! Für die Jury: Norbert Hornig

Kammermusik

»‘round midnight«

Arnold Schönberg: Streichsextett »Verklärte Nacht« op. 4, Henri Dutilleux: Streichquartett »Ainsi la nuit«, Raphaël Merlin: Streichsextett»Night Bridge«. Quatuor Ébène, Antoine Tamestit, Nicolas Altstaedt. Erato 0190296641909 (Warner)

In puristischeren Zeiten hätten sie dieses Album mit Nachtmusiken vielleicht »Nocturne« genannt. Doch das jazzliebende Quatuor Ébène und seine beiden Gast-Partner entschieden sich stattdessen für Thelonius Monks Musiktitel »‘Round Midnight« als Referenz. Darüber und über weitere Standards hat der Cellist des Quartetts, Raphaël Merlin, eine tolle Suite komponiert. Das Raffinement, mit dem die sechs Kammermusiker dieses jazzdurchtränkte Werk mit dem Quartett-Meisterwerk »Ainsi la Nuit« von Henri Dutilleux und Arnold Schönbergs Streichsextett-Klassiker »Verklärte Nacht« verbinden, ist ganz große Kunst. Für die Jury: Bernhard Hartmann

Kammermusik

Schostakowitsch Arensky: Klaviertrios

Dmitri Schostakowitsch: Klaviertrios Nr.1 c-moll op. 8 & Nr. 2 e-moll op. 67, Anton Arensky: Klaviertrio Nr. 1 d-moll op.32. Trio con Brio Copenhagen. Orchid Classics ORC100181 (Naxos)

Diese Klaviertrio-Formation, begründet vor dreiundzwanzig Jahren an der Wiener Musikhochschule, beherrscht die Kunst, ohne Pathos schwelgen zu können. Da zerbersten marmorschwere Akkorde, Melodien aus Samt spenden Wärme inmitten pechschwarzer Nacht. Auf Arenskis Klaviertrio Nr. 1 in d-moll lastet Melancholie, doch das Trio con Brio Copenhagen durchsticht diesen Charakter mit gestraffter Eleganz. Im Klaviertrio Nr. 2 e-moll von Schostakowitsch dagegen herrscht emotionales Chaos: Möchte diese Leichtigkeit zum Lachen führen? Oder wütet schon Wahnsinn in der vorwärtspreschenden Virtuosität? Eine Einspielung, die vor allem dank ihrer Mehrdeutigkeit brilliert. Für die Jury: Thilo Braun

Tasteninstrumente

The Essential Scarlatti

Domenico Scarlatti: 37 Sonaten. Michael Korstick. 2 CDs, cpo 555 473-2 (jpc)

Michael Korsticks Auswahl folgt der 2014 erschienenen, wissenschaftlichen Edition des Musikverlags G.Henle, die er mit vier bekannten Scarlatti-Hits einrahmt. So wird der Hörer mit zwei populäreren Sonaten an die Hand genommen und erlebt dann ein schier elektrisierendes Feuerwerk atemraubender Virtuosität. Die stilistische Vielfalt wie auch der grenzenlose Einfallsreichtum dieses rätselhaften Klavierrevolutionärs wirkt wie in die Klangsprache des 21. Jahrhunderts übersetzt. Was Vladimir Horowitz schon vor sechzig Jahren erahnte, als er erstmals den Klangzauber Scarlattis enthüllte, das steigert Korstick zu einem Welttheater der starken Gefühle, der entfesselten Rhythmen, des freien Denkens. Für die Jury: Attila Csampai

Tasteninstrumente

Le fier virtuose: Le clavecin de Louis XIII

Werke von Etienne Moulinié, Charles Bocquet, Antoine Boësset, Louis Couperin, Claude Lejeune, Michael Praetorius, Guillaume Dumanoir, Jacques Champion de Chambonnières. Arnaud De Pasquale. Château de Versailles Spectacles CVS047 (Note 1)

Arnaud De Pasquale hat sich an die Rekonstruktion einer Klangwelt gewagt, die zwar oft beschrieben wurde, aber kaum in Drucken bezeugt ist: die der französischen Cembalomusik des frühen siebzehnten Jahrhunderts. Aus Zeugnissen über die Musizierweise, verstreuten Quellen und späteren Überlieferungen, nebst stilsicheren eigenen Ergänzungen baut er ein reichhaltiges Programm – und musiziert es so tänzerisch schwungvoll und mit einem Klangsinn, dass man gar nicht weghören mag. Das liegt auch an den beiden ausgezeichneten Instrumenten in historischer Stimmung und der plastisch-farbigen Aufnahmecharakteristik. Für die Jury: Friedrich Sprondel

Oper

Jean-Philippe Rameau: Platée

Marcel Beekman, Jeanine De Bique, Cyril Auvity, Marc Mauillon, Edwin Crossley-Mercer, Emmanuelle de Negri, Padraic Rowan, Emilie Renard, Ilona Revolskaya, Arnold Schoenberg Chor, Les Arts Florissants, William Christie. 2 CDs, harmonia mundi HAF 8905349.50

Dass eine so witzige Opernproduktion wie Rameaus »Platée«, als Modezirkus-Parodie inszeniert von Robert Carsen, erst auf DVD und dann auch noch auf einer fulminanten CD landet, ist selten. Es dürfte dem klanglich spritzwütigen, lässig pointierenden William Christie zu danken sein, aber auch dem genialischen Marcel Beekman in der Titelrolle. Die hässliche Sumpfnymphe, die um Liebe buhlt, ist bei ihm keine Figur zum Auslachen. Beekman girrt und gurrt auf charakterkomische Weise, die Mitgefühl provoziert. Gerade weil er so virtuos chargiert, gelingt ihm eines der ergreifendsten Rollenportraits der letzten Jahre – und ein Bruch mit dem Komödien-Tabu. Auch Komisches darf ernst genommen werden. Für die Jury: Kai Luehrs-Kaiser

Oper

Antonín Dvořák: Rusalka

Asmik Grigorian, Eric Cutler, Karita Mattila, Katarina Dalayman, Maxim Kuzmin-Karavaev, Sebastià Peris, Manel Esteve, Juliette Mars u.a., Chorus & Orchestra Teatro Real Madrid, Ivor Bolton, Regie: Christof Loy. 2 DVDs/Blu-ray, C Major 759508/759604 (Naxos)

Die noch fix-bandagierte Achilles-Sehnen-OP von Eric Cutler arbeiteten Regisseur Christoph Loy und Ausstatter Johannes Leiacker bei dieser Produktion mit ein: Es gibt Krücken für den Prinzen, zusätzliche Sitzmöbel, und auch Rusalkas Anderssein gründet sich auf einen Primaballerina-Traum trotz verkrüppeltem Fuß. Klar, dass dieses Außenseiter-Paar sich finden muss! Asmik Grigorians lyrische Sehnsucht und beseelte Liebesglut überwältigt. Diese Solisten sowie ein ausdifferenziertes Ensemble wird von Ivor Bolton mit rhythmischem Feingefühl und farbiger Klangsensibilität geführt und gesteigert zu einem bewegenden Liebes-Tod-Finale. Für die Jury: Wolf-Dieter Peter

Chor und Vokalensemble

Josquin the Undead

»Laments, deplorations and dances of death« – Werke von Josquin Desprez. Graindelavoix, Björn Schmelzer. Glossa GCD P32117 (Note 1)

Seit fünfhundert Jahren ist er nun schon untot, der Meister Josquin, und wenn man dem Ensemble Graindelavoix zuhört, glaubt man es aufs Wort. Beamen einen die soghaften Vokalklänge in eine imaginär ferne Vergangenheit? Oder sind die in sich verschlungenen Strukturen, die der Klage Laut und der Trauer Form geben, von brisant-existenzieller Präsenz? Die hypnotischen Tempi und die freien Ornamente – Verzierungen ohne Zierlichkeit – fügen sich, der »stimmkörnigen« Gesangsmanier sei Dank, zum wunderbaren Paradox: schwebende Gravitas, unvergangene Zeit. Der Aufruf etwa an die »Nymphes des bois« ist hier, was er fordert: hoch expressives Lamento, performativ im wahrsten Sinne. Für die Jury: Martin Mezger

Klassisches Lied und Vokalrecital

Baritenor

Arien von Wolfgang Amadeus Mozart, Etienne-Nicolas Méhul, Gaspare Spontini, Gioacchino Rossini, Jacques Offenbach, Adolphe Adam, Gaetano Donizetti u.a.. Michael Spyres, Orchestre Philharmonique de Strasbourg, Marko Letonja. Erato 0190295156664 (Warner)

Ein Zwitter? Oder ein Chamäleon? Beides griffe zu kurz. Michael Spyres führt auf diesem Konzeptalbum ein Fach vor, das einst Opernalltag war und noch immer, wenn auch weitgehend unerkannt, fortlebt. Ob vokale Stratosphäre oder breite, bronzene Mittellage, sogar gelegentliches Abtauchen in (Un-)Tiefen – alle Register und Farben stehen diesem Wundermann zur Verfügung. Das ist technisch bestechend gesungen, lupenrein in der polyglotten Textformung und mit großer Reflexion erfüllt. Zirzensische Lust hört man heraus und intelligente Hinterfragung. Ein fulminantes Programm, das Spyres mit einem klugen Booklet-Text begründet. Für die Jury: Markus Thiel

Alte Musik

Marin Marais: Quatrième Livre de Pièces de Viole (1717)

François Joubert-Caillet, L’Achéron. 4 CDs, Ricercar RIC 432 (Note 1)

Der Gambist Marin Marais, Hofkomponist von Ludwig XIV., galt zu seiner Zeit als einer der Größten seiner Zunft. François Joubert-Caillet und sein Ensemble L’Achéron haben ihre Gesamteinspielung der Gambenwerke von Marais jetzt mit dem vierten Band der Pièces de Viole aus dem Jahr 1717 fortgesetzt. Herausgekommen ist eine transparente, bestens ausbalancierte Aufnahme dieser außerordentlich lebendigen, farbigen Musik, die von einer spielerischen und verspielten Virtuosität geprägt wird und dabei nie in die Nähe von Gleichförmigkeit gerät. Eine Produktion, die Interesse nicht nur wecken, sondern auch fesseln kann, immerhin: Es sind 105 Sätze. Für die Jury: Thomas Ahnert

Zeitgenössische Musik

Adriana Hölszky: grenzWELTEN – zeitENDEN

Klangbild für einen Blechbläser. Paul Hübner. SACD, Neuklang NCD4250 (in-akustik)

Als Adriana Hölszky vor fast dreißig Jahren das circa siebenminütige Stück »WeltenEnden« schrieb, ahnte sie nicht, dass lange Zeit später der Blechbläser Paul Hübner anregen würde, daraus ein umfangreiches Opus zu generieren. So entstanden 2016 in kongenialer Zusammenarbeit von Komponistin und Interpret »grenzWelten / zeitEnden« – ein Kosmos von Klangbildern, der den starken Ausdruckswillen der beiden Beteiligten zeigt, dokumentiert auf einem perfekt produzierten Mehrspurband: eine unglaublich assoziative Musik, ein expandierter Hörraum, der in Grenzwelten entführt. Ein akustischer »Comic Strip«, der es in sich hat! Für die Jury: Marita Emigholz

Historische Aufnahmen

Claudio Arrau – The Unreleased Beethoven Recital 1959

udwig van Beethoven: Klaviersonaten Nr. 23, 26 & 31. Claudio Arrau. The Lost Recordings TLR-2103039 (Bertus)

Die Zeitschrift »Signale für die musikalische Welt« vom März 1918 schrieb über den Fünfzehnjährigen: »Der jugendliche Arrau zählt schon zu den ‚ausverkauften’ Pianisten. In der Tat leistet er technisch wie musikalisch Hochragendes. Beethovens Eroica-Variationen verrieten kräftiges Gestalten und eine werdende künstlerische Persönlichkeit.« Ab seinen mittleren Studio-Aufnahmen erlebten wir Arrau dann als einen eher »starren, kaum spontanen Meister der Form«. Im Konzertsaal aber konnte er nach wie vor risikoreiche, flammende Interpretationen vermitteln, und genau dass sind die bei vorliegendem Recital eingefangenen Stärken! Man kann wieder staunen – über Arrau und über Beethoven… Für die Jury: Wolfgang Wendel

Grenzgänge

Christian Brückner, Michael Wollny: Heinrich Heine – Traumbilder

CD/LP, ACT 9935-2/LP 9932-1 (Edel)

»Heute Nachmittag trat er unvermuthet bei uns ein, heiser, erkältet und an der Brust leidend«. Die Rede ist von Heinrich Heine, der seine Hamburger Freundin Rosa Maria im Februar 1830 besuchte. Wie ein spontanes Gespräch greifen die Improvisationen des Jazzpianisten Michael Wollny und die Rezitation des zu Recht legendären Christian Brückner ineinander. Nie hat ein Duo diesen jungen, tänzerisch versifizierenden Frechdachs besser verkörpert, auch nicht den alternden, an der »Wunde Deutschland« sterbenden Exilanten. Lyrik in ungewohnter Auswahl wird von provozierend schönen Klanggirlanden umspielt. Oder rhythmisch zerhackt, satirisch grell, pessimistisch düster. Darunter auch die oft zersungene Loreley, deren Dichter im Dritten Reich »Unbekannt« hieß. Für die Jury: Nikolaus Gatter

Filmmusik

Alfred Schnittke: Film Music Vol. 5

(Tagessterne, Der Liebling des Publikums, Vater Sergius). Rundfunkchor Berlin, Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Frank Strobel. Capriccio C5350 (Naxos)

Schon seit fünfundzwanzig Jahren erfüllt der Dirigent Frank Strobel einen innigen Wunsch des russisch-deutschen Komponisten Alfred Schnittke: Er arrangiert aus dessen Filmmusiken Konzertsuiten und spielt sie mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin ein. Strobel entreißt den Archiven Skizze für Skizze, er fügt sie zu einem klingenden Vermächtnis zusammen. Ein besonderes Vertrauensverhältnis zu Schnittkes Lebzeiten und ein Liebesdienst an seinem Nachlass, in dem sich eine faszinierende Persönlichkeit spiegelt: warmherzig, ironisch, verspielt – wie in Vol. 5 dieser einzigartigen Filmmusikserie. Für die Jury: Ulrich Amling

Jazz

Erroll Garner: Symphony Hall Concert

CD/LP, Mack Avenue MAC1189 (in-akustik)

Ein denkwürdiges Konzert, bei dem sich Vergangenheit und Zukunft ein Stelldichein geben: Erroll Garner hatte hier längst das Niveau erreicht, das er Zeit seiner Karriere aufrechterhalten konnte. Dieser Künstler mit »mehr feeling als fast alle anderen Pianisten« (Mary Lou Williams) erwies an jenem Abend des 17. Januar 1959 Fats Waller und Art Tatum seine Reverenz und bereicherte die Musik seiner großen Vorbilder um einen ganz eigenen Sound. Die Garner-Girlanden, die wuchtigen Akkorde der machtvollen Linken, die perlenden Läufe, die melodischen Verzierungen – all das bringt die oft gehörten Standards zu neuem Funkeln. Für die Jury: Rainer Nolden

Jazz

Adam O’Farrill: Visions Of Your Other

Digital, Biophilia Records BREP0025 (Direktvertrieb)

Er ist erst siebenundzwanzig, aber Adam O’Farrill gehört bereits zu den derzeit markantesten Trompetern. Das liegt wohl auch an seinen Wurzeln: Sein Opa ist der Cuban-Jazz-Innovator Chico O’Farrill, sein Vater Arturo leitet das Afro Latin Jazz Orchestra. Adams akkordloses Quartett agiert frei von Latin-Einflüssen, und auch sonst völlig freischwebend. Die furiosen Reiz-Reaktions-Muster zwischen ihm und seinem Saxophonisten erinnern mitunter an Ornette Coleman und Don Cherry. Nur spielt man hier in der Gegenwart. Das Stück »Kurosawa at Berghain« etwa lässt über einem treibenden Dance-Groove zerrissene Kürzel der Hörner blitzen – im Wechselbad von Struktur und Freiheit, Feuer und Lakonie. Für die Jury: Guenter Hottmann

Weltmusik

Onipa: Tapes of Utopia

Digital, Boomerang Records BOOM005 (Rough Trade)

Das britisch-ghanaische Produzenten-Duo Onipa hat ein altes Rauschmittel namens »Mixtape« wieder belebt: mit Disco-Pop durchgeknetete Ton-Aussaaten von DJs für Kassettenrecorder-Benutzer. Perlende Soukous-Gitarren, Afrobeat, Space-Sounds, zaghaftes Autotuning, analoge Perkussion und munter marschierende Chor-Riffs mit Sprechgesang sind wie Klangsticker aus Zimbabwe, Kongo, Ghana, Nigeria. Plus Dubstep, Elektroperkussion, synthetische Klangfaser-Teppiche, aber auch einfache »Uffta«-Beats. Darunter das unaufdringlich sortierende, ewig jung anrollende Schlagwerk des verstorbenen Tony Allen. Alles in allem: ein pures Vergnügen. Für die Jury: Johannes Theurer

Traditionelle Ethnische Musik

Susana Baca: Palabras Urgentes

CD/LP, Realworld RW237 (Universal)

Was wüssten wir in Europa von der Kultur der Afro-Peruaner, wenn es nicht Susana Baca gäbe? Mit ihrem neuen Album feiert diese Grande Dame, die quasi im Alleingang die Lieder und Tänze der Schwarzen Perus vor dem Vergessen bewahrt hat, ihr fünfzigjähriges Bühnenjubiläum. Und klingt nach wie vor frisch und engagiert! Einen argentinischen Tango der dreißiger Jahre deutet sie afro-pazifisch um. Mit satter Blaskapelle feiert sie ein Anden-Frühlingsfest. Und sie ehrt, zur Zweihundertjahrfeier der peruanischen Unabhängigkeit, die legendären Freiheitskämpferinnen Micaela Bastidas und Juana Azurduy. Mitproduziert wurde dieser Soundtrack eines neuen Peru von Snarky-Puppy-Bandleader Michael League. Für die Jury: Stefan Franzen

Liedermacher

Barbara Thalheim: Novemberblues

Deutschlands Neunte November. Reptiphon 03847 (Broken Silence)

Sie ist die Thalheim: ein 1947 geborenes DDR-Gewächs, das glücklich nach der Vereinigung weiterwuchs, in Ost und in West. Den »Novemberblues« pflegt sie gesamtdeutsch, indem sie mit einer chansongeschulten Band ein Programm spielt, das uns mit einer speziellen deutschen Misere konfrontiert. Das traditionelle Totengedenken im diesem Monat begleitet sie durch Lieder, die quer durch zwei Jahrhunderte an die jeweils im November blutig niedergeschlagenen Revolten erinnern. Eine musikalische Geschichtslektion für alle, besonders nützlich vielleicht für all diejenigen, die sich in diesen Tagen als Opfer einer »Coronadiktatur« wähnen. Für die Jury: Harald Justin

Folk und Singer/Songwriter

La Kejoca: Libertad

CD/DL, ARTyCHOKE artist productions AP-0821-CD (Direktvertrieb)

Denn sie wissen genau, was sie tun! Das Trio La Kejoca hat schließlich die solide Ausbildung der Düsseldorfer Robert-Schumann-Musikhochschule genossen. Nach einem thematischen Gemischtwarenladen auf der Debut-CD haben sich KEno Brandt, JOnas Rölleke und CArmen Bangert nun bei der internationalen Liedauswahl auf das Thema Freiheit konzentriert – und jetzt passt es plötzlich. Die drei sind nämlich nicht nur begnadete Multi-Instrumentalisten, sondern auch sehr gute Vokalisten. Überdies gehen sie hier zurück auf ihre unterschiedlichen Wurzeln, in Bolivien, Portugal und Friesland. Intelligent, mutig, überzeugend. Für die Jury: Mike Kamp

Pop

Steely Dan Live: Northeast Corridor

CD/2LPs, Universal 00602435938981

Einerseits haben Teile des Repertoires von »Northeast Corridor« ihre Geschichte, die bis in die siebziger Jahre zurück reicht. Auf der anderen Seite schafft es Donald Fagen mit seiner aktuellen Steely-Dan-Besetzung, so aktuell zu klingen, als wären ihm und seinem Team die Lieder eben erst eingefallen. Aufgenommen 2019 in edlen US-Sälen mit einer Spitzenmannschaft des erwachsenen Pops bringt das Live-Album musikalische Perfektion auf den Punkt, von der mitreißenden Bühnen-Atmosphäre über die pointiert groovenden Arrangements bis hin zum raffinierten Songwriting, das sich an der Gegenwart bewährt. Für die Jury: Ralf Dombrowski

Rock

Robert Plant & Alison Krauss: Raise the Roof

CD/2LPs, Rounder Records 0190296672194 (Warner)

Unter den Paarungen nach Art von »Älterer Herr sucht sich eine Jüngere« ist die von Robert Plant mit Alison Krauss die harmonisch-stimmigste. Was dieses Hardrock-Fossil mit dem Bluegrass-Goldkehlchen zu schaffen haben könnte, war schon vor fünfzehn Jahren anlässlich von »Raising Sand« nicht die Frage. Und ist es jetzt, bei dieser neuen, nur geringfügig anders betitelten Cover-Sammlung aus Country, Folk und Blues erst recht nicht mehr. Die bis in die amerikanische Depression zurückreichenden, mal zart gezupften, mal dosiert dröhnenden, von T. Bone Burnett wieder ideal produzierten Lieder sind Musterbeispiele für zeitgenössische Roots Music, die vor Liebe, Verzagtheit und Zuversicht nur so glüht. Für die Jury: Edo Reents

Hard und Heavy

Mastodon: Hushed and Grim

2CDs/2LPs, Reprise 9362487979 (Warner)

So viel Musik kann einen durchaus erschlagen: Mastodon, die mit ihrer ureigenen Mischung aus Sludge und Progressive Metal für anspruchsvolles Headbanger-Futter stehen, präsentieren hier ein knapp anderthalbstündiges Doppelalbum. Erneute Verluste im Umfeld der Band, im Gedenken an den verstorbenen Freund und Manager Nick John, brechen sich Bahn in gefühlvollen Stücken wie »Skeleton Of Splendor« und »Teardrinker«. Ansonsten geben sich die US-Südstaatler vertrackt episch und musikalisch (»The Crux«, »Eyes Of Serpents«) wie eh und je, sie nutzen die fünfzehn Songs aber auch, um tiefer in einzelne Sphären einzutauchen. Davon kann man nicht genug bekommen. Für die Jury: Sebastian Kessler

Alternative

Low: Hey What

LP/CD/MC, Sub Pop SP1435 (Cargo)

Wie eine Rettungsinsel im Chaos wirkt das dreizehnte Album von Low, es zeigt Zähne und streichelt die Seele. Der schwebende Gesang des Ehepaars Mimi Parker und Alan Sparhawk aus Duluth steht im Zentrum des Geschehens, ist der Ruhepol inmitten eines Wirbelsturms. Um sie toben Vibrationen von tiefen, verzerrten Gitarrenakkord-Drones, zerklüfteten, harsch zerschnittenen Sound-Samples und in sich gewundenen Synth-Chords. Die Produktion mit BJ Burton dekonstruiert mit abstrakt-elektronischen Mitteln und einer die Synapsen zerfetzenden Ästhetik die vertraut-sakrale Schönheit nachhaltig und innovativ. Für die Jury: Götz Adler

Club und Dance

Eris Drew: Quivering In Time

LP/DL, T4T LUV NRG T4T006B (Direktvertrieb)

»The Motherbeat« – so nennt Eris Drew den Sound, der zum Herzschlag ihres Lebens geworden ist und den sie mit ihrer Partnerin und Labelkollegin Octo Octa teilt. Und obwohl sie Chicago, das Epizentrum der House Music mittlerweile gegen eine Waldhütte in New Hampshire eingetauscht hat, fand sie genau hier die Ruhe, ihre Hommage an den Dancefloor in Albumform zu gießen. Ganz nach DJ-Art verwebt sie jackin’ Bangers virtuos mit psychedelischen Breakbeats und liefert mit einer referentiellen Sample-Flut zudem eine Geschichtsstunde »on the house«. Ein starkes Debüt, das die Wartezeit bis zum Club-Re-Opening verkürzt. Für die Jury: Laura Aha

Electronic und Experimental

Dark Star Safari: Walk Through Lightly

LP/DL, Arjunamusic Records AMEL-LP721 (Alive)

Dies ist das zweite Album von Jan Bang, Erik Honore, Eivind Aarset, Samuel Rohrer und John Derek Bishop, das den Namen Dark Star Safari für deren klanglichen Soundsafaris verwendet. Gemeinsam begeben sie sich auf eine Reise in den kargen, nächtlichen und nach innen gerichteten, zugleich intelligenten Leftfield-Pop, oft angeführt von Bangs sonorer und sehnsüchtiger Gesangsperformance, die von manchen Dub-Elementen durchzogen ist. Die emotionale Tiefe dieser meist fragmentarischen Kompositionen und ihre dunklen, geheimnisvollen Momente zirkulieren atmosphärisch zwischen Jazz, Ambient-Elektronik und impressionistischer Melodik. Sehr schön! Für die Jury: Olaf Maikopf

Blues

Eric Bibb: Dear America

CD/2LPs, Provogue PRD76472 (Rough Trade)

Dieses Album ist eine Liebeserklärung an die USA, an eine zerrüttete Nation zwischen Pioniergeist und Rassismus, Weltoffenheit und provinzieller Engstirnigkeit. Als einer von Spiritualität geprägten Persönlichkeit kam es dem Singer-Songwriter und Gitarristen Eric Bibb immer auch auf Haltung an, und zugleich auf Ausgleich und Versöhnung. Kaum einer schreibt wahrhaftigere Songs auf der Basis des Folk-Blues in einer so makellosen Sprache wie er! In seiner kritischen Aufarbeitung der jüngsten Verwirrungen in seiner Heimat wird er durchaus deutlich, doch sein Optimismus ist immer spürbar. Ein unmissverständliches Statement zur passenden Zeit. Für die Jury: Karl Leitner

R&B, Soul und Hip-Hop

Leona Berlin: Change

CD/DL, Wrong Lane Records 4064832723311 (Direktvertrieb)

Wer einen solchen Namen hat, kommt auch dorthin: Berlin ist zwar die Wahlheimat von Leona Berlin, doch ihr Name keine Hommage an die Stadt – sie hat ihn geerbt. Eine herausragende Künstlerin, die ihren Weg macht: Noch ist Leona mehr ein Geheimtipp, von ihren Fans geliebt. Musik war für sie immer alternativlos. Ihre Eltern haben sie machen lassen, sie studierte es, ein Plattenvertrag bei Warner, ein Song mit Snoop Dogg. Jetzt ist ihr zweites Album da, mit einer Mischung aus Soul, R&B und Jazz – Independent und selbst verlegt: Leona hat von der Musik, über Marketing bis hin zu den Videos alles in ihrer Hand. Auch live ist sie genial. Für die Jury: Jörg Wachsmuth

Wortkunst

Jahrhundertstimmen 1900-1945

Deutsche Geschichte in über 200 Originalaufnahmen. Herausgegeben von Hans Sarkowicz, Ulrich Herbert, Michael Krüger und Christiane Collorio. 3 mp3-CDs, der Hörverlag ISBN: 978-3-8445-1518-3

Eine akustische Schatzkiste! Diese fantastische Hörexpedition durch knapp ein halbes Jahrhundert versammelt, kenntnisreich kommentiert von den vier Herausgebern, die unterschiedlichsten O-Töne von Zeitzeugen. Da lobt etwa im Jahr 1903 Kaiser Franz Joseph die österreichische Akademie der Wissenschaften, die »Sprachen und Dialekte unseres Vaterlandes phonographisch« fixiert. Aber auch Hannah Arendt ist zu hören, Ernst Lubitsch, Max Pechstein, Otto Hahn, die Volkswirtschaftlerin Else Staudinger oder Wilhelm Voigt, der wahre Hauptmann von Köpenick. Woran es liegt, dass nur wenige Frauen dabei sind, erfährt man in dem klugen Aufsatz, den Annette Vogt für das hervorragende Booklet schrieb. Für die Jury: Manuela Reichart

Kinder- und Jugendaufnahmen

Alan Gratz: Vor uns das Meer

Lena Conrad, Omid-Paul Eftekhari, Benedikt Paulun. 7 CDs, derDiwan Hörbuchverlag ISBN: 978-3-941009-83-7

Syrien 2015: Ein Bombentreffer zerstört das Haus, in dem Mahmoud mit seiner Familie lebt. Deutschland 1939: Unter der Bedingung, dass er und seine Familie aus Deutschland verschwinden, wird der Vater von Josef aus dem KZ entlassen. Kuba 1994: Knapp entkommt Isabels Vater der Haft, er hatte wiederholt gegen Hunger und Diktatur demonstriert. Drei Zwölfjährige und ihre Sehnsucht auf ein Leben in Frieden – diese Geschichten von Josef, Isabel und Mahmoud sind, in all ihren Ängsten und ihren Hoffnungen, zeitlos miteinander verbunden, sie haben in der hörbaren Version noch an Intensität gewonnen. Und zwischen dem Hier und dem »Woanders«: das Meer. Für die Jury: Friederike C. Raderer

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