Bestenlisten
Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.
NEU: Longlist 4/2024, veröffentlicht am 5. Oktober 2024
Orchestermusik und Konzerte
Bruckner: Symphonie Nr. 9
Anton Bruckner: Symphonie Nr. 9 d-Moll. Bamberger Symphoniker, Jakub Hrůša. accentus music ACC30605 (Naxos)
Zu Bruckners 200. Geburtstag waren neue Aufnahmen seiner Symphonien zu erwarten. Die vorliegende Neunte mit den Bambergern unter Jakub Hrůša überragt sie alle. Seit 2016 Chef in Bamberg, hat er das Orchester zu einem neuen Höhenflug geführt. Das belegen auch die fabelhaften Produktionen der letzten Jahre. Warmer Streicherklang, großartiges Blech und wunderbar klare Holzbläser charakterisieren dieses bayerische Eliteorchester. So auch hier. Ein nie versiegender musikalischer Fluss, große Schlichtheit ohne Pathos, technische Brillanz und emotionale Hingabe. Transparenz und Klangfülle sind kein Gegensatz, weder im Scherzo noch im herrlichen Adagio; Bruckners Abgesang an das Leben. Für die Jury: Peter Stieber
Orchestermusik und Konzerte
Britten: Violinkonzert
Benjamin Britten: Violinkonzert op. 15, Reveille (Konzertstudie), Suite für Klavier und Violine op. 6, Two Pieces für Violine, Viola und Klavier. Isabelle Faust, Boris Faust, Alexander Melnikov, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Jakub Hrůša. harmonia mundi HMM 902668 (harmonia mundi/Bertus)
In den letzten Jahren mehren sich hochkarätige Einspielungen des einzigen Violinkonzerts von Benjamin Britten (1913-1976). Für Isabelle Faust sprechen die zugegebenen frühen Kammermusikwerke, von denen die »Two Pieces« des 16-Jährigen für Geige, Bratsche und Klavier willkommene Ersteinspielungen sind. Wie vertraut Frau Faust mit der Klangsprache Brittens geworden ist, zeigt vor allem die sehr kontrastreiche und nuancierte Darstellung des Konzerts. Geigerisch souverän zeigt sie auch die satirischen Seiten. Ein weiteres Plus ist das höchst aufmerksame Orchester. Für die Jury: Lothar Brandt
Kammermusik
Ysaÿe: Sonaten für Violine
Eugène Ysaÿe: Sonaten für Violine solo op. 27 Nr. 1-6. Sergey Khachatryan. naïve V 5451 (Indigo)
Obsessionen, wilde Furien, melancholisch Hauchdünnes finden sich in Eugène Ysaÿes sechs Solosonaten. Sergey Khachatryan spielt solche Extremlagen mit wohlklingender geigerischer Waghalsigkeit. Das Erzählende, das allen Sonaten eigen ist, lässt er dabei nie außer Acht. Ebenfalls bestens bei ihm aufgehoben: die elegant weitergezwirbelten neobarocken Anklänge an das Vorbild Bach. Oft als Virtuosenstücke abgetan, wird hier klar, auf welch hohem Niveau diese »Sei solo« des 20. Jahrhunderts komponiert wurden. Und mit welchem Tiefgang sie gespielt werden können. Für die Jury: Benjamin Herzog
Kammermusik
Beethoven: Violinsonaten Vol. III
Ludwig van Beethoven: Violinsonaten Nr. 1, 5, 6 & 10 (Vol. III). Antje Weithaas, Dénes Várjon. 2 CDs, CAvi 4260085535088 (Bertus)
Ein fulminantes Großprojekt hat seinen krönenden Abschluss gefunden. Mit diesem dritten und letzten Teil der Gesamteinspielung aller Violinsonaten von Beethoven liegt eine Veröffentlichung vor, die zu den Meilensteinen und Sternstunden der Diskografie zu zählen ist. Antje Weithaas und Dénes Várjon verabreichen den viel gespielten Werken eine Frischzellenkur – aufregend, durchdacht, klanglich und im Zusammenspiel auf höchstem Niveau. Beethoven wird hier als Revolutionär der Klassik gezeichnet, der in jedem Moment herausfordert. Eine Referenzaufnahme, die niemand versäumen sollte. Für die Jury: Andreas Göbel
Tasteninstrumente
J.S. Bach: Sechs Partiten
Johann Sebastian Bach: Sechs Partiten BWV 825-830. Martin Helmchen. 2 CDs, Alpha Classics 994 (Naxos)
An erstklassigen Aufnahmen der Bach’schen »Partiten« herrscht kein Mangel. Nun präsentiert Martin Helmchen die barocken Tänze nicht nur musikalisch überzeugend und musikantisch mitreißend, seine Aufnahme besitzt ein Alleinstellungsmerkmal: Helmchen spielt auf einem Tangenten-Flügel von 1790. Dabei geht es ihm nicht um so genannte »Werktreue«. Mit der Erfahrung eines modernen Pianisten und der Neugier eines nimmermüden Entdeckers erschafft er faszinierende Klangräume, in denen die Stimmen miteinander kommunizieren, anstacheln, ausbremsen, stützen, kontern oder sich aneinander schmiegen – einmalig erstklassig. Für die Jury: Kalle Burmester
Tasteninstrumente
»enSuite«
Werke von Joseph-Hector Fiocco, Carl Philipp Emmanuel Bach, Georg Anton Benda, Francesco Geminiani, Jacques Duphly. Korneel Bernolet. Ramée RAM 2304 (Naxos)
Der belgische Cembalist Korneel Bernolet beleuchtet klanglich unmittelbar packend die Entwicklung von der Suite mit ihren zahlreichen Zwischenformen zur Sonate. Er präsentiert einen Querschnitt mit fünf europäischen Komponisten, die sich zwischen der Tradition der »Pièces de Clavecin« und den italianisierenden »Sonaten« bewegen. Die Einspielung überzeugt mit einer differenziert ausgeklügelten Interpretation, die die kontrastreichen Werke vor allem in ihrer dynamischen Spannbreite auf einem einmanualigen Cembalo von Joannes Daniel Dulcken aus dem Jahr 1747 feinnervig auslotet. Für die Jury: Yvonne Petitpierre
Oper
Domenico Cimarosa: L’Olimpiade
Josh Lovell, Rocío Pérez, Marie Lys, Maité Beaumont, Mathilde Ortscheidt, Alex Banfield, Les Talens Lyriques, Christophe Rousset. 2 CDs, Château de Versailles Spectacles CVS143 (Naxos)
Mehr als 70 Mal wurde Pietro Metastasios Libretto zu »L’Olimpiade« vertont, von Vivaldi und Pergolesi über Hasse, Piccinni bis zu Mysliveček – und Cimarosa. Der weicht hier vom Pfad seiner Buffa-Tugenden ab. Der Charakter bleibt dennoch so heiter, als hätten wir es mit dem direkten, ungemein starken Vorgänger Rossinis zu tun. Diese Neuproduktion triumphiert schon wegen Josh Lovell (Clistene), Marie Lys (Argene) und Maite Beaumont über die zwei Vorgänger-Aufnahmen. Christophe Rousset legt seine wichtigste Gesamtaufnahme seit vielen Jahren vor (abgesehen nur vom Lully-Zyklus). Die Talens Lyriques haben lange nicht so gut geklungen. Für die Jury: Kai Luehrs-Kaiser
Oper
Giacomo Meyerbeer: L’Africaine – Vasco da Gama
Michael Spyres, Claudia Mahnke, Kirsten MacKinnon, Brian Mulligan, Andreas Bauer Kanabas u.a., Chor der Oper Frankfurt, Frankfurter Opern- und Museumsorchester, Antonello Manacorda. 3 CDs, Naxos 8.660558-60
Giacomo Meyerbeer wollte seine Oper »L’Africaine« eigentlich »Vasco da Gama« nennen. Michael Spyres rückt die Tenor-Hauptpartie mit einer voluminösen Mittellage, strahlenden Höhen und viel Geschmack auch jenseits der Arie »O paradis« ins Zentrum. Auch die übrige Besetzung mit Claudia Mahnke (Selica) und Brian Mulligan (Nelusco) genügt höchsten Standards. Antonello Manacorda motiviert das Opern- und Museumsorchester zu einem schlanken, französischen Klang. Es ist die bisher beste Einspielung dieses lange vernachlässigten Hauptwerks der Oper der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Für die Jury: Robert Braunmüller
Chor und Vokalensemble
»The Lamb’s Journey«
A Choral Narrative from Gibbons to Barber. Ensemble Altera, Christopher Lowrey. Alpha Classics 1029 (Naxos)
Diese erste CD des Ensemble Altera, »The Lamb’s Journey« (Die Reise des Lamms) betitelt, ist nichts weniger als eine Sensation. Kein Plattendebüt der letzten Zeit in diesem Bereich verlief ähnlich spektakulär. Nie sind die Stimmen dürr, sondern immer voll, warm. Spitzentöne kommen ohne jedes Klirren; bisweilen wehen sie schier unmerklich, wie Federwölkchen, in den Klang hinein. Die Intonation ist perfekt bis auf die siebte Stelle hinterm Komma. Jeder einzelne Ton wirkt poliert, aber nie aalglatt. Stets erlebt der Hörer strömende Musikalität, tiefen Ausdruck, Dynamik, Leidenschaft. Ganz wunderbar! Für die Jury: Wolfram Goertz
Klassisches Lied und Vokalrecital
Mozart, Strauss: Lieder
Wolfgang Amadeus Mozart, Richard Strauss: Lieder. Sabine Devieilhe, Mathieu Pordoy, Vilde Frang. Erato 5054197948862 (Warner)
Strauss hat seine Interpretinnen nicht geschont. Die hohe Lage, die unangenehmen Intervalle – Sopranistinnen können sich da oft nur schwer verständlich machen. Nicht so Sabine Devieilhe. Die Französin singt kristallwasserklarer als viele deutsche Kolleginnen. Außerdem ist nichts überparfümiert oder rutscht ins Pathos. Mit musterhaftem Legato und klug dosiertem Ausdruck gleitet ihre Stimme durch die Phrasen. Auch in den Mozart-Liedern, wo ihr das Schwerste gelingt: schlicht und natürlich, aber nie naiv oder leichtgewichtig zu klingen. Pianist Mathieu Pordoy trägt sie dabei auf Händen. Für die Jury: Markus Thiel
Alte Musik
Padovano: Missa A la dolc’ombra
Annibale Padovano: Missa A la dolc’ombra & Missa Domine a lingua dolosa. Cinquecento. Hyperion CDA68407 (Note 1)
Wer kennt heute noch den italienischen Renaissance-Komponisten Annibale Padovano? Zu Lebzeiten war er hochgeschätzt, nicht nur an San Marco in Venedig, sondern auch am Grazer Hof von Erzherzog Karl II. Das Ensemble Cinquecento hat sich zwei Messen dieses brillanten Musikers vorgenommen. Für diese anspruchsvolle Musik scheint das Ensemble mit seiner perfekten Intonation und seinem ausdrucksstarken Gestus geradezu prädestiniert zu sein. Es ist ein weiterer strahlender Höhepunkt in der Diskografie von Cinquecento! Für die Jury: Bettina Winkler
Zeitgenössische Musik
Stockhausen: Mantra
Karlheinz Stockhausen: Mantra. GrauSchumacher Piano Duo, SWR Experimentalstudio. Neos 12320 (harmonia mundi/Bertus)
Wenn der digitale Ringmodulator präzise die Tonhöhe der Klavierklänge trifft und Sinusgenerator und Lautsprecher nicht mehr rauschen, und wenn diese Technik (kontrolliert vom Klanggestalter Michael Acker) in den Händen des Duos GrauSchumacher liegt, dann erreicht »Mantra« (1970) endlich die Perfektion, um die Karlheinz Stockhausen zeitlebens auch in Proben mit dem Piano-Duo gerungen hat. Als Resultat kosten GrauSchumacher Übergänge zwischen Harmonie und Disharmonie feinnervig aus, zeigen Spaß an witzigen Einwürfen und entwickeln spielerisch einen farbig glühenden Bilderbogen. Für die Jury: Margarete Zander
Historische Aufnahmen
William Steinberg: Complete Command Classics Recordings
Werke von Beethoven, Schubert, Brahms, Bruckner, Wagner, Tschaikowsky, Rachmaninow u.a. (1961–1968). Pittsburgh Symphony Orchestra, William Steinberg. 17 CDs, Deutsche Grammophon 4864442 (Universal)
Ohne jede Selbstinszenierung, mit sparsamer Gestik erreichte William Steinberg das musikalisch Wesentliche. Besondere Verdienste erwarb sich der aus Köln stammende Dirigent, der wegen seiner jüdischen Herkunft Deutschland verlassen musste, als Leiter des Pittsburgh Symphony Orchestra. Er formte es zu einem Klangkörper der Spitzenklasse, gemeinsam gelangte man auch im Aufnahmestudio zu künstlerisch herausragenden Ergebnissen. Mit der kompletten Wiederveröffentlichung der in den 1960er Jahren für das US-Label Command Records entstandenen Einspielungen setzt die DG dem Dirigenten posthum ein diskografisches Denkmal. Für die Jury: Norbert Hornig
Grenzgänge
DLW: Extended Beats
Dell-Lillinger-Westergaard, Klangforum Wien, Sonar Quartett, Tamara Stefanovich, Martin Adámek, Johannes Brecht. CD/2 LPs, bastille musique bm028 (rudi mentaire distribution)
Die Avantgarde ist tot, es lebe die neue! Deshalb bezieht sich ein Stück des Albums explizit auf Boulez, aus der Rückschau erweitert zum »Trialogue de lʼombre double«. Wechselnde Mitspieler steuern unterschiedliche Perspektiven bei. Akkordik gliedert zwar, führt aber andererseits zu Brüchen, Übergängen und Neuansätzen. Komposition und Improvisation greifen ineinander, steigern sich zu Wucherungen bis hin zur elektronischen Erweiterung im Finale. Erst mehrmaliges Hören erweitert den Erlebnishorizont der »Extended Beats«, die buchstäblich Nachhal(l)tigkeit auslösen. Für die Jury: Heinz Zietsch
Musikfilm
Vienna Calling
Ein Film von Philipp Jedicke. Voodoo Jürgens, Der Nino aus Wien, EsRAP, Kerosin95, Lydia Haider, Gutlauninger, ZINN, Samu Casata u.a.. DVD, Falter Verlag – Edition Filmladen ISBN 978-3-85439-745-8 (mindjazz pictures)
Falcos Ruf »Vienna Calling« wurde von Philipp Jedicke erhört. Sein aberwitzig amüsanter Dokumentarfilm taucht ein in die schräge Alternativszene Wiens. Mit Nino aus Wien, Lydia Haider, Kerosin95 u.v.a. porträtiert und inszeniert er den musikalischen Geist, der in den Katakomben und Hinterzimmern Wiens fröhlichen Hedonismus feiert. Im Untergrund der Staatsopern- und Operettenseligkeit entfaltet dieses kameragenaue Meisterstück das musikalisch Unbewusste Wiens, ganz nah an wundersamen Locations und ihren exzentrischen Protagonisten, die den neuen Wien-Hype begründen. Eine selbstironische, kulturpolitische Hommage an die Musikstadt. Für die Jury: Thorsten Lorenz
Jazz
Art Tatum, Everett Barksdale, Slam Stewart: Jewels In The Treasure Box
The 1953 Chicago Blue Note Jazz Club Recordings. 3 CDs, Resonance Records HCD-2064 (harmonia mundi/Bertus)
Im August 1953 verwandelte Art Tatum, im Trio mit dem Gitarristen Everett Barksdale und dem Bass-Brummer Slam Stewart, aber auch unbegleitet, Standards in funkelnde Juwelen. Dieser sorgfältig gehobene Schatz ist eine wertvolle Ergänzung zur Diskografie des wohl größten Jazzpianisten seiner Zeit. Standard-Themen waren ihm nicht nur ein Sprungbrett für thematisch entlegene Improvisation, vielmehr erfuhren sie unter seinen Händen die subtilsten Verwandlungen. Sie wurden reharmonisiert, paraphrasiert, mit Zitaten angereichert, in barocker Lebensfülle vorgetragen und von wahrhaft verschwenderischer Ornamentik umrankt. Für die Jury: Marcus A. Woelfle
Jazz
Kamasi Washington: Fearless Movement
2 CDs/2 LPs, Young/Beggars Group YO350 (Indigo)
Voll von Flow und Atmosphäre: Neun Jahre nach dem aufstörenden Debüt- und Dreifach-Album »The Epic« hat Kamasi Washington jetzt das vierte reguläre Studioalbum »Fearless Movement« veröffentlicht. Es strotzt nur so von ausschweifenden Sound-Ideen: Eleganter Soul paart sich mit Hard Bop, Rap und Free-Jazz-Momenten, vulkanischer Bläsermix trifft auf weichen Funk. Trotz aller Hymnik und hochfahrenden Emphase sind die Stücke geerdet, besitzen Bodenhaftung durch die tanzbare Rhythmik. Hingabe im Kollektiv ist zu spüren; und derart offensive Gemeinschaftlichkeit wirkt heute schon fast wie ein politisches Statement! Für die Jury: Peter Kemper
Weltmusik
Nancy Vieira: Gente
Galileo GMC107
Die Sängerin Cesária Évora hat die Kapverdischen Inseln vor gut dreißig Jahren auf die Landkarte der Weltmusik gesetzt. In dieser sorgfältigen Produktion erfährt die reichhaltige Musiktradition des Archipels ein überzeugendes Update, in gekonnt dosierten Arrangements und in der gefühlvollen, nie übertriebenen Interpretation der Sängerin Nancy Vieira. Für zusätzlichen Reiz sorgen weitere (Star-)Stimmen aus der lusitanischen Welt: Paulo Flores, Amélia Muge, António Zambujo oder Remna. Ein Album voller Abwechslung, das vom ersten bis zum letzten der vierzehn Lieder Hörfreude macht. Für die Jury: Johann Kneihs
Weltmusik
Ali Doğan Gönültaş: Keyeyi
CD/Digital, Mapamundi Música MM002 (Direktvertrieb)
»Keyeyi« hieße in der Sprache der deutschen Romantik »Heimathen«, aber es gibt viel mehr zu lernen – neben den kurdischen Sprachen wie Kirdaski oder Zazaki sind die türkische oder armenische im Einsatz, um dem Schicksal der Minderheiten Ost-Anatoliens näherzukommen. »Nedendir« etwa steht für das Gefühl von Zärtlichkeit und Unruhe, wenn wir einem geliebten Wesen nicht nahe sein können. Aber den direktesten Weg zeigt wohl die Liedersammlung dieses weitgereisten Volkssängers, dessen intensive Stimme sich mit der kostbaren Klangfarbe der »Tembur«-Laute unvergesslich einprägt – in Melancholie und Zuversicht. Für die Jury: Jan Reichow
Folk und Singer/Songwriter
Malin Lewis: Halocline
CD/LP, Hudson Records HUD051 (Direktvertrieb)
Den landschaftlichen Facettenreichtum der schottischen Westküste hat Malin Lewis auf diesem Album in großartiger Weise eingefangen und in Musik umgesetzt. Mit Whistles und Pipes wird detailreich die Vielfalt von Strömungen, Licht und Farben dargestellt, die jederzeit völlig aufs Neue begeistert. Bei aller augenscheinlichen Traditionsverbundenheit wirkt hier dennoch alles absolut zeitlos frisch, angereichert von vielen Lagen diverser Saiteninstrumente und Bläser; brillant gemischt, sodass man jeden Ton fein heraushören kann. Das hat ganz große Klasse! Für die Jury: Sabrina Palm
Pop
Beth Gibbons: Lives Outgrown
CD/LP/Digital, Domino Recording WIGCD287 (Believe Digital)
»Lives Outgrown« ist ein Album über die Herausforderungen des mittleren Alters. Es ist melancholisch, mitunter düster, dabei aber durchaus auch tröstlich. Beth Gibbons entfaltet ihre Klangwelt allmählich. Sie mischt akustische Gitarre und Geige, sie lässt einen Kinderchor singen und unterlegt einen Titel mit hypnotischem Rhythmus. Die intime Wirkung, die Erschütterung, die von dieser Produktion ausgeht, ergeben sich im Zusammenspiel der Arrangements mit Beth Gibbons’ Stimme. Die scheint über der Musik zu schweben, sie liegt irgendwo dahinter, und doch ist sie direkt und unmittelbar. Für die Jury: Philipp Holstein
Hard und Heavy
Judas Priest: Invincible Shield
CD/2 LPs, Columbia International 0196588516528 (Sony)
Die Band »Judas Priest« steht auch im 55. Karrierejahr aufrecht, stark und unbesiegbar. Die Metal-Götter verneigen sich auf dem 19. Album »Invincible Shield« vor der eigenen Historie. Das gelingt derart unbeschwert, dass es durchweg frisch und kraftvoll klingt. Jedes der elf Stücke hat seine eigene Identität, Qualität und Daseinsberechtigung: mal hektisch (der Titelsong), mal knallbunt (»Panic Attack«), mal düster (»Escape From Reality«), mal mächtig (»Devil In Disguise«) oder gefühlig (»Crown Of Horns«). Immer ist da mindestens ein Gänsehautmoment – und zu jeder Sekunde der begeisternde Sänger Rob Halford. Für die Jury: Sebastian Kessler
Club und Dance
Jlin: Akoma
CD/2 LPs/Digital, Planet Mu ZIQ460 (Direktvertrieb)
»Footwork« ist in Jlins DNA eingebrannt wie die Stahlindustrie in ihre Heimatstadt Chicago. Wann sie es schaffte, neben ihren Schichten in ebenjenen Stahlwerken ihre prägnante Klangsprache zu entwickeln, bleibt so rätselhaft wie die strukturelle Logik ihrer Tracks. Die synkopierten Grooves stolpern in mikrorhythmische Verschiebungen, nichts mäandert oder wiederholt sich gar. Dance Music dient Jlin als entfernter Bezugspunkt – ebenso wie die prominenten Features. Tatsächlich greifbar werden aber weder Björk noch Philipp Glass – sie sind Stichwortgeber. Der eigentliche Star auf »Akoma« bleibt der Beat. Für die Jury: Laura Aha
Electronic und Experimental
Brian Eno, Holger Czukay, J. Peter Schwalm: Sushi. Roti. Reibekuchen
CD/2 LPs/Digital, Grönland Records CDGRON 290 (Rough Trade)
Dieses Album ist eine Zeitkapsel, nur dank glücklicher Umstände wiederaufgetaucht: Aufgenommen im August 1998 bei einem der raren Live-Auftritte von Brian Eno, galt es als verschollen und ist dank des Einsatzes von J. Peter Schwalm und des Grönland-Teams endlich zu hören. Anlässlich der Eröffnung einer Brian-Eno-Ausstellung fanden sich drei Legenden der elektronischen Musik zusammen und entfesselten mit Mitgliedern aus Schwalms Band ihre Kreativität. Das historische Dokument dieser einmaligen Kollaboration zeigt sie uns als aufmerksam einander Zuhörende und den Erzählfaden der anderen weiterspinnende Klangarbeiter. Für die Jury: Jean Trouillet
Blues
Leif De Leeuw Band: Mighty Fine
CD/LP, Leif De Leeuw Band LDLB09 (Direktvertrieb)
Dass sich diese Formation aus den Niederlanden vor allem auf die legendäre »Allman Brothers«-Band beruft, ist offensichtlich. Aber wer im Blues bezieht sich nicht auf jemand, der vorher da war … entscheidend ist, was eine Band daraus macht. In diesem Fall entstand ein großartiges Gitarrenalbum mit Songs, die den Hörer und die Hörerin regelrecht vor sich hertreiben. Die Schubkraft ist enorm, und mit wohligem Schauer im Rücken stellt man erfreut fest, dass Southern Rock mit zwei Gitarristen, zwei Drummern und zwei Keyboard-Spielern fernab aller Trends immer zündet – sofern (wie hier) Meister ihres Faches am Werk sind. Für die Jury: Karl Leitner
R&B, Soul und Hip-Hop
Yaya Bey: Ten Fold
LP/Digital, Big Dada BD314 (Rough Trade)
Schon mit neun Jahren soll sie Hooklines für ihren Vater geschrieben haben, den Rapper Grand Daddy I.U. Seit dem Debüt unter eigenem Namen 2020 gilt die in Brooklyn lebende Yaya Bey als eine der starken und unverwechselbaren Stimmen des Rhythm’n’Blues. Nach der Außensicht auf politisch-gesellschaftliche Ereignisse ihrer ersten beiden Alben entfaltet sie auf »Ten Fold« Facetten ihres Innenlebens. Scharfsinnig, sinnlich und oft ironisch erzählt sie in einem faszinierend hypnotischen Mix aus Soul, Afrobeat, Elementen ihrer jamaikanischen Wurzeln und Hiphop vom eigenen Weg der Selbstbehauptung. Für die Jury: Petra Rieß
Wortkunst
Alice und was sie im Wundern fand
Susanne Aßmann & Lisa Ossowski: Alice und was sie im Wundern fand. Ein 3D-Hörspiel nach Motiven von Lewis Carroll. Ellen Neuser, Danne Hoffmann, Thorsten Giese, Charlotte Puder, Alexander Pensel u.a., Musik: Johannes Grimm, Regie: Lisa Ossowski. Digital, Buchfunk ISBN 978-3-86847-629-3
Ein Hörspiel nach Motiven des berühmten Romans von Lewis Carroll, eine Neu-Interpretation, die Motive aufnimmt und weiter erzählt, die das bekannte Personal auftreten lässt: die Grinsekatze, den Faselhasen, den Hutmacher, die Raupe, die Herzkönigin; eine akustische Reise ins Land der Wunder, das voller unverständlicher Regeln steckt – Alice fällt tief, aber wohin eigentlich genau? Diese neue Version der alten Geschichte ist ein Klangerlebnis, das man in einer Kopfhörer- oder Stereo-Fassung hören kann. Und es ist eine Coming-of-Age-Geschichte, die von weiblicher Emanzipation handelt. Grund zum Wundern gibt es da immer. Für die Jury: Manuela Reichart
Kinder- und Jugendaufnahmen
»Huhn oder Ei«
Johannes Kirchberg singt James Krüss. Johannes Kirchberg, Joerg Nassler. dermenschistgut Musik INDIGO CD 252042 (Indigo)
Mit musikalisch-literarischen Programmen rund um Kästner, Tucholsky und zuletzt Hans Leip hat sich Johannes Kirchberg einen Namen gemacht, nun gibt’s auch ein Programm für Kinder! Er hat die Gedichte von James Krüss gerade für sich entdeckt – und vertont. Hörbar ist Kirchbergs Vergnügen, wenn er die Sprachtüfteleien der Marke Krüss vorträgt; er vertraut auf die eigene Stimme – und auf im Kindermusikbereich eher ungewohnte akustische Instrumente. Texte wie die Reise ins »Land Pimpluzie« werden umspielt, nie erklärt. Doch kaum ist man eingetaucht in diesen kongenialen Kosmos, ist die CD schon zu Ende: schade! Für die Jury: Carola Benninghoven