Bestenlisten
Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.
Orchestermusik und Konzerte
Sergej Rachmaninow: Symphonien Nr. 1-3
& Die Toteninsel, Capriccio Bohémien. WDR Sinfonieorchester, Cristian Măcelaru. 3 CDs, Linn CKD 778 (Naxos)
Rachmaninows Orchesterwerke sind in Konzerten eher selten vertreten; zu Unrecht, wenn man diese Neueinspielung zum Maßstab nimmt. Der rumänische Dirigent Cristian Măcelaru gehört längst zu den Großen seiner Zunft. Er führt durch Rachmaninows sinfonischen Kosmos ohne Kitsch und Zuckerguss. Dennoch mangelt es nicht an einfühlsamer Phrasierung, großzügigen Rubati, feiner Agogik und herrlichen Klangfarben. Die WDR-Sinfoniker spielen in Höchstform und sorgen für einen facettenreichen, blühenden Orchesterklang, unterstützt durch eine exzellente Aufnahmetechnik. Für die Jury: Peter Stieber
Orchestermusik und Konzerte
Recorder Concertos from Sanssouci
Blockflötenkonzerte von Johann Joachim Quantz, Franz Benda, Carl Philipp Emanuel Bach, Carl Heinrich Graun. Isaac Makhdoomi, Ensemble Piccante. Prospero PROSP0112 (Note 1)
Die Vortragsbezeichnung »Arioso e mesto« meint »gesanglich und betrübt«. Doch wenn hier der gleichnamige Satz aus Quantz’ Flötenkonzert (hier in der Bearbeitung für Blockflöte) in einen unendlich langen Atem überführt wird, kann man an die andere Deutung des Satztitels denken: luftige Wehmut. Am Ende des wunderschönen Klagegesangs improvisiert Solist Isaac Makhdoomi wenige Sekunden so idiomatisch und mitteilsam, dass man unmittelbar fühlt: Diese, vor 275 Jahren für Traversflöte komponierte Musik findet 2025 einen lebendigen Herzschlag. Dazu hochvirtuoses Passagenwerk und blindes Verständnis zwischen Ensemble und Solist. Eine Pracht. Für die Jury: Jörg Lengersdorf
Kammermusik
Timothy Ridout – Viola solo
Georg Philipp Telemann, Johann Sebastian Bach, Benjamin Britten, Caroline Shaw: Werke für Viola solo. Timothy Ridout. harmonia mundi HMM 902750
Timothy Ridout lässt die Bratsche aus dem Schatten ihrer kapriziösen kleinen Schwester, der Geige, treten. Und das auch noch mit Bachs d-Moll-Partita und Telemann-Fantasien, die eigentlich für Violine komponiert sind. Hier wie in den originalen Bratschenstücken von Benjamin Britten und Caroline Shaw führt Ridout ein Gespräch mit sich selbst, ruft in den Raum hinaus, hört sein Echo, gibt die Antwort. Die Stimmen verfolgen, umkreisen und umschwärmen sich – man weiß kaum, wo man zuerst hinhören soll. Für dieses Glück braucht es nur eine Bratsche. Und einen Meister seines Instruments. Wie Timothy Ridout. Für die Jury: Susanne Stähr
Kammermusik
Discovering Roslavets
Vol. 1: Silver Night – Dmitri Schostakowitsch: Klaviertrio Nr. 1 op. 8, Mélanie Bonis: Soir, Nikolaj Roslavets: Klaviertrio Nr. 3, Arnold Schönberg: Verklärte Nacht op. 4. Brackman Trio. Challenge Classics CC720009# (Bertus)
Behutsam, genau, expressiv – in allen Richtungen zeigt sich das niederländische Brackman Trio extrem. Töne, die bis zum Zerfallen leise werden können, heißer Überschwang, alles so, als sei die Musik noch nie gespielt worden. Tatsächlich ist Nikolai Roslavets noch immer zu entdecken. Sein Trio von 1925, in dem sich Gesten der Spätromantik in autarker Nachtonalität auflösen, verbindet perfekt die Aufbruchswerke des 17-jährigen Schostakowitsch und des 25-jährigen Schönberg, dessen »Verklärte Nacht« (1899) in der Klaviertriofassung, so sensibel, wie sie hier gespielt wird, auch eine sternenklare Nacht ist. Für die Jury: Volker Hagedorn
Tasteninstrumente
Rachmaninow: Klaviersonaten Nr. 1 & 2
Sergej Rachmaninow: Klaviersonaten Nr. 1 op. 28 & Nr. 2 op. 36, Die Toteninsel op. 29 (bearb. G. Kirkor/B. Giltburg). Boris Giltburg. Naxos 8.574601
Boris Giltburg hat bereits mehrfach seine Nähe zur Musik von Sergej Rachmaninow dokumentiert und legt nun eine Einspielung der beiden sehr unterschiedlichen Klaviersonaten vor, samt einer eigenen Bearbeitung der sinfonischen Dichtung »Die Toteninsel«. Giltburg bleibt sich und seinen eigenen hohen Maßstäben im besten Sinne treu. Uneitel meidet er alles sportiv Virtuose. In den Sonaten dringt er umsichtig in die Zonen des Melancholischen vor, nie kitschumwölkt, dafür mit Raum für Zwischentöne. Auch Rachmaninows Nervosität, gerade in den Ecksätzen, kommt treffend zum Ausdruck. Für die Jury: Christoph Vratz
Tasteninstrumente
Flemish Organ Heritage
Orgelwerke von André De Vaere, Edgar Tinel, Joseph Callaerts, Hermann Roelstraete, Flor Peeters, Camil Van Hulse. Ignace Michiels. Passacaille PAS 1119 (Note 1)
Viele musikalische Schätze schlummern unentdeckt in der Rumpelkammer der Musikgeschichte. Ignace Michiels, Titularorganist der Kathedrale zu Brügge, hat nun in der flämischen Abteilung gestöbert und Namen wie Callaerts, De Vaere, Tinel, Peeters, Van Hulse oder Roelstraete ausgegraben, die hierzulande überwiegend völlig unbekannt sind. Das allein ist schon überaus verdienstvoll. Michiels präsentiert sich zudem als brillanter Spieler mit feurigem Temperament und musikalischem Feingefühl. Das Ergebnis ist absolut herausragend. Meisterlicher hätte man diese spannenden Raritäten kaum wiederentdecken können. Für die Jury: Guido Krawinkel
Oper
José de Nebra: Venus y Adonis
Paola Valentina Molinari, Natalie Pérez, Jone Martínez, Ana Vieira Leite, Judit Subirana, Margherita Maria Sala, Los Elementos, Alberto Miguélez Rouco. 2 CDs, Aparté AP373 (harmonia mundi/Bertus)
Ein Doppelalbum wie eine Wundertüte: Man entdeckt einen kaum bekannten spanischen Komponisten aus dem 18. Jahrhundert, der mit einer bezaubernden Mischung aus spanischer Zarzuela und italienischer Opera seria ein antikes Allerweltsthema zu neuem Leben erweckt. Und dann ist hier der gerade 31-jährige Dirigent Alberto Miguéles Rouco, ein ausgebildeter Countertenor, für den die Pflege der Musik de Nebras eine Herzensangelegenheit darstellt. Die Aufnahme mit dem jungen, von ihm 2018 in Basel gegründeten Ensemble Los Elementos und dem hervorragend disponierten Solistensextett ist rundum geglückt – ein Hörerlebnis der Extraklasse! Für die Jury: Max Nyffeler
Oper
Amilcare Ponchielli: I Lituani
Jūratė Švedaitė-Waller, Kristian Benedikt, Modestas Sedlevičius, Tadas Girininkas, Arūnas Malikėnas, Lithuanian National Symphony Orchestra, Kaunas State Choir, Modestas Pitrènas. 3 CDs, Accentus Music ACC 80642 (Naxos)
Neues aus dem 19.Jahrhundert: Dass Amilcare Ponchielli (1834-1886) über »La Gioconda« hinaus weitere Bühnenwerke komponiert hat, war bislang eher Lexikonstoff. Nun ist mit dem 1874 uraufgeführten, dann 1875 erfolgreich überarbeiteten Dreiakter »I Lituani« ein weiteres, gewichtiges Werk erstmals eingespielt worden. Parallel zum Zeitgeist des »Risorgimento« werden ein Aufstand der Litauer gegen den Deutschen Orden, eine Historie aus dem 14.Jahrhundert, dazu eine scheiternde Liebe und erkennbare politische Anspielungen gestaltet. Beste »Italianità«! Für die Jury: Wolf-Dieter Peter
Chor und Vokalensemble
Requiem for an Emperor
Pierre de Manchicourt: Missa da Requiem, Werke von Cornelius Canis, Thomas Crecquillon, Nicolas Gombert, Luis de Narváes, Nicolas Payen und anderen. Utopia Ensemble, Jan van Outryve. Ramée RAM2401 (Naxos)
Pierre de Manchicourt haben Musikfreunde nicht auf dem Zettel. Aber der Mann wirkte an den größten Kathedralen, 1549 wurde er Hofkapellmeister bei Philipp II. von Spanien. Dort komponierte er ein fünfstimmiges Requiem für Kaiser Karl V., Philipps Vater, ein verschattetes, melancholisches Meisterwerk. Als zeitlich entfernte »Trauergemeinde« berauschen wir uns an einer Kunst von der Schwelle zur Moderne, deren Musiksprache etwas Drängendes, Fragendes besitzt. Das Utopia Ensemble musiziert mit vollkommener Intonation und einem Stilgefühl, das uns zutiefst beeindruckt zurücklässt. Für die Jury: Wolfram Goertz
Klassisches Lied und Vokalrecital
Licht und Schatten
Franz Schubert: Lieder. Samuel Hasselhorn, Ammiel Bushakevitz. harmonia mundi HMM 902747
Samuel Hasselhorn und Ammiel Bushakevitz versenken sich in Schuberts Liederjahr 1824/25, geprägt von Krankheit, Niedergeschlagenheit, zugleich Reiselust und künstlerischem Aufbruch. Zu hören ist ein spannungsreiches Programm bekannter und weniger bekannter Werke aus zeitlicher Nachbarschaft. »Licht und Schatten« – eigentlich wird das titelgebende Gegensatzpaar der spezifischen Qualität dieses Albums nicht gerecht: Die liegt in der Kunst der Schattierung. Zwischen kämpferischem Schicksalstrotz und leiser Vergeblichkeit öffnet sich ganz unprätentiös eine Welt aus Zwischentönen. Für die Jury: Holger Noltze
Alte Musik
Georg Österreichs wiederentdeckte Schätze ...
Norddeutsche Kantaten um 1700 von Johann Theile, Heinrich Bokemeyer, Johann Philipp Förtsch, Michael & Georg Österreich, Johann Friedrich Meister, Giulio Giuliani. Musica Gloria, Nele Vertommen, Beniamino Paganini. Et’Cetera Records KTC 1819 (harmonia mundi/Bertus)
Georg Österreich (1664-1735) wirkte als Musiker und Komponist an den Höfen von Braunschweig-Wolfenbüttel, Holstein-Gottorf und Coburg. Seine eigentliche historische Bedeutung liegt aber in der Anlage der »Sammlung Bokemeyer«, in der zahlreiche Unikate aus der Zeit zwischen Schütz und Bach erhalten sind. Die enthusiastischen Sänger und Instrumentalisten des Ensembles Musica Gloria arbeiten den zumeist evangelischen Predigtton dieser Musik mit sicherem Instinkt heraus und sind in Details wie der richtigen Stimmtonhöhe oder der adäquaten Besetzung des Basso continuo erfreulich genau, ohne kopflastig zu wirken. Für die Jury: Matthias Hengelbrock
Zeitgenössische Musik
Klaus Ospald: Escribí
Pierre-Laurent Aimard, Teodoro Anzellotti, Edicson Ruiz, WDR Sinfonieorchester, Ensemble Modern. bastille musique bm033 (rudi mentaire distribution)
Reibungen – Fragen – Komplexität stehen im Zentrum von Klaus Ospalds Schaffen. Unbeirrt von ästhetischen Moden lässt er sich von Dichtung inspirieren, ohne Sprache direkt in Klang zu übertragen. Es ist die Zerrissenheit der modernen menschlichen Existenz, die seiner Musik zugrunde liegt. Scheinbar Unvereinbares, etwa ein konzertierender Dialog zwischen Kontrabass und Akkordeon, zieht unmittelbar in Bann. Die vier nun erstmals eingespielten Werke würdigen in exemplarischen Interpretationen einen Komponisten, der auf dem Tonträgermarkt bislang kaum präsent war. Für die Jury: Nina Polaschegg
Historische Aufnahmen
Albert Sammons spielt Edward Elgar
Edward Elgar: Violinkonzert op. 61 (Aufnahmen 1916 & 1929), Violinsonate op. 82. Albert Sammons, William Murdoch, New Queen’s Hall Orchestra, Henry Wood. Biddulph Recordings 85054-2 (Naxos)
Edward Elgar ist einem breiten Publikum durch Werke wie »Pomp and Circumstance Marches«, das Cellokonzert und die »Enigma-Variationen« bekannt. Das Violinkonzert gelangte erst nach dem Zweiten Weltkrieg in das Repertoire zahlreicher Geigerinnen und Geiger. Vorher setzte sich Fritz Kreisler für das Werk ein, danach wurde es vor allem von britischen Geigerinnen und Geigern aufgeführt. Hier werden – historisch interessant – die erste, gekürzte Tonaufnahme und eine spätere Einspielung mit Albert Sammons vorgelegt. Sammons beriet auch Kollegen wie Heifetz in Aufführungsfragen des Werks. Für die Jury: Stephan Bultmann
Grenzgänge
Masako Ohta & Matthias Lindermayr: Nozomi
LP/CD, Squama Recordings SQM028 (Alive)
Vor sechs Jahren kamen Masako Ohta und Matthias Lindermayr bei einer Preisverleihung in München in Kontakt. In der Folge sind die sensible japanische Pianistin und der deutsche Trompeter mit dem luftigen Ton zu einem Duo herangereift und legen nun ihr zweites Album vor. »Nozomi« (Hoffnung) besticht durch einen traumwandlerischen Sound zwischen Kammerjazz und Nocturne sowie eine Ökonomie der Mittel: Aus einem Minimum an Tönen (mal eine kleine Melodie, mal eine Handvoll Akkorde) erwächst immer wieder ein betörender Klangfluss – und damit ein Maximum an Magie. Für die Jury: Christoph Irrgeher
Filmmusik
Dascha Dauenhauer: No Beast. So Fierce
(Kein Tier. So Wild). Digital, DD Records (Direktvertrieb)
Die Filmmusik von Dascha Dauenhauer zu einer freien Adaption von William Shakespeares »Richard III.« – es wird von der Machtübernahme der jüngsten Tochter der Yorks zur Chefin der Berliner Unterwelt erzählt –, überzeugt durch düstere Klangfarben, eine spannungsvolle Dynamik, crescendohafte Intensität und subtile vokale Elemente. Die Musik berührt, verstört, fasziniert – ist ein Klanggemälde voller Tiefe und Ausdruck. Sie besticht durch emotionale Tiefe und Vielschichtigkeit, was sie zu einem eindrucksvollen Bestandteil der filmischen Erzählung macht. Für die Jury: Milena Fessmann
Musikfilm
Element of Crime: Wenn es dunkel und kalt wird in Berlin
Ein Film von Charly Hübner. Element Of Crime, Sven Regener, Jakob Ilja, Richard Pappik, Maike Rosa Vogel, Florian Horwath, Isolation Berlin, Von Wegen Lisbeth, Steiner & Madlaina, Ansa Sauermann. Blu-ray, DCM 4061229512671 (Leonine)
»Wo die Luft am schlimmsten ist/Ist das Atmen intensiver/Und das Husten attraktiver/Als irgendsonstwo auf der Welt«. Schwermütige Songs voll lakonischer Komik wie der Titelsong dieser Doku sind ein Markenzeichen der Band »Element Of Crime«. 2024 begleitete Charly Hübner die Gruppe bei einer Mini-Tour an fünf Berliner Spielorte: vom kleinen »Privatclub« bis zur »Zitadelle Spandau« vor 9.000 Zuschauern. Impressionen und Interviews collagiert er mit Archivmaterial der 1980er und 1990er Jahre zu einem unprätentiösen, atmosphärisch-dichten Porträt der Band und der Berliner Musikszene. Für die Jury: Andreas Kunz
Jazz
Florian Raepke Big Band & Charlotte Illinger: Young And Foolish
JazzJazzRecords JJ51028 (Broken Silence)
Das ist mehr als eine Bigband: 19 Musiker, dazu jazzfernere Instrumente wie Streichquartett, Harfe und Oboe. Die elf Titel der CD, durchweg Preziosen aus dem »Great American Songbook«, sind wie ein Nostalgietrip in die dreißiger, vierziger Jahre der goldenen Bigband-Ära – als Swing und Pop noch deckungsgleich waren. Dabei gewinnt der Arrangeur und Bandleader Florian Raepke selbst oft gehörten Evergreens stets neue, »zeitgenössische« Klangfarben ab, lässt die Musiker solistisch glänzen und bietet Charlotte Illingers mal weicher, mal rauher, doch stets passgenauer Stimme den perfekten musikalischen Rahmen. Für die Jury: Rainer Nolden
Jazz
Joachim Kühn: Échappée
(Piano Solo). 2 CDs, Intakt Records Intakt CD 431 (harmonia mundi/Bertus)
Für Joachim Kühns Doppelalbum erscheint die Gattungsbezeichnung »Jazz« fast zu eng. Kühn verarbeitet Material vielfältiger Herkunft, seine Improvisation pflegt große Nähe zu dem, was in der älteren Musik »Fantasieren« hieß. »Échappée« ist ein erstaunliches Meisterwerk, aufgenommen in Kühns eigenem Studio, über Monate gereift, nachgehört, verworfen, verbessert. Alles, was man von ihm erwarten kann, ist hier zu erleben: Polyphonie; spannungsreiche Tonwirbel, elastische Dynamik, hohe Temperatur, innehaltende Nachdenklichkeit und eine gelassene Vorliebe für die Schönheit des Nicht-Vorhersehbaren. Für die Jury: Hans-Jürgen Linke
Weltmusik
Piers Faccini & Ballaké Sissoko: Our Calling
CD/LP/Digital, Nø Førmat Nøf 65 (Indigo)
»Our Calling« ist eine Produktion, die dem oft so hektischen Zeitgeist erfreulich unaufgeregt zehn ruhige Songs entgegenhält. Die Kora-Arpeggien von Ballaké Sissoko um die Melodien von Piers Faccini sind harmonische Oasen für Leute, die dieselbe Kunst pflegen wie die beiden Musiker: einander zuzuhören. Seit 20 Jahren verbindet die beiden Musiker eine wertschätzende Freundschaft. Kulturelle Schranken zwischen der Welt der Mandinka Westafrikas, der englischen Folktradition und den Rhythmen und Düften des Mittelmeerraums sind längst abgebaut, respektive hier in die Kompositionen eingewoben. Für die Jury: Jodok W. Kobelt
Traditionelle Ethnische Musik
Divinerinnen: divinerisch!
Gramola 99345 (Naxos)
Wer meint, das Ethnische sei mit gewissen Härten verbunden, der kennt nicht das göttlich weibliche Siebengestirn aus Wien, das sich »Divinerinnen« nennt. Ein Hauch von Schuberts »Moments Musicaux« und Lanners Ländlern, dazu blitzsauberer Tiroler Dreig’sang nebst einer deftigen Prise Wienerlied – all das ist hier versammelt, und das Vergnügen ist unbeschreiblich. Zudem spielen hier lauter vorzügliche Instrumentalistinnen: ein Septett aus Klarinette, Knopfharmonika, Kontragitarre plus Streichern. Am Ende glaubt man gern, wenn uns (wie im Track 6) verraten wird: »D’ Weana Tanz san der höchste Spinat«. Für die Jury: Jan Reichow
Liedermacher
Konstantin Wecker: Lieder meines Lebens – Duo (Live)
2 CDs, Sturm & Klang S & K 102 (Alive)
Mit dem Album »Lieder meines Lebens« legt Konstantin Wecker eine sehr persönliche Auswahl aus über fünfzig Jahren vor; 78 wurde er Anfang Juni. Der Dichter, Sänger, Musiker, Lebemann, Anarchist und Romantiker, dessen überragende Bühnenpräsenz das Publikum seit Beginn der Karriere und bis heute begeistert, zeigt hier die vielen Facetten seines Schaffens. Privates, Politisches, Berührendes, Kämpferisches, Kritisches und Selbstkritisches, Gedichte, Lieder, Texte und Ansprachen an das Publikum wechseln sich ab. Zusammen mit dem langjährigen Piano-Partner Jo Barnickel gelingt ein großer Konzertabend. Für die Jury: Rainer Katlewski
Folk und Singer/Songwriter
Broom Bezzums: Standing Strong
CD/Digital, Feel Your Way Music FYW001 (Direktvertrieb)
So langsam fehlen die Superlative, um das in Deutschland beheimatete englische Duo »Broom Bezzums« zu beschreiben. Schon das vorige Album hatte ja sozusagen die musikalische Champions League erreicht – in welcher Liga spielt dann aber die aktuelle akustische Mixtur aus wunderbaren Instrumentals und ausgesprochen starken, meist eigenen modernen Folksongs? Das ist aussagekräftig, ohrwurmverdächtig und zum Mitsingen. Und wer sogar einen fast schon zu Tode genudelten Klassiker wie »House of the Rising Sun« nur mit Fiddle und Gesang aufregend neu interpretieren kann, der muss schon sehr, sehr gut sein. Für die Jury: Mike Kamp
Rock
Joe Ely: Love and Freedom
Digital/CD/LP, Rack’ em Records RERCD0015 (Membran)
Das mittlerweile 21. Soloalbum des 78-jährigen Texaners ist eine mitreißende Song-Kollektion aus Country-, Americana-, Texmex- und Rock’n’Roll-Nummern, zusammengehalten von Joe Elys prägnanter Stimme. Ely zollt Vorbildern und Freunden Respekt und Tribut: Townes van Zandt, der Country-Legende Guy Clark und mit »Deportee« (»Abschiebehäftling«) auch Woody Guthrie. In neun Tracks aus eigener Feder greift er die traurige Situation der Immigrantinnen und Immigranten in den USA auf. »Diese Songs sind ein wenig radikal«, sagt Ely. »Aber ich finde, es ist Zeit, die Stimme zu erheben.« Gut, dass er es getan hat. Für die Jury: Manfred Gillig-Degrave
Hard und Heavy
Mantar: Post Apocalyptic Depression
CD/LP/Digital, Metal Blade Records 0039841613605 (Sony)
Nach der Apokalypse geht’s erst richtig los: Das Mantar-Duo versinkt nicht in Selbstmitleid, sondern lärmt zornig im Einklang mit dem Weltuntergang. Die Intensität von Sänger und Gitarrist Hanno Klänhardt sowie Schlagzeuger Erinç Sakarya ist auf der Bühne legendär. Nach dem polierten Vorgänger »Pain Is Forever And This Is The End« (2022) fühlten sich die Sludge-Metaller ausgebrannt – »Post Apokalyptic Depression« ist ihr Befreiungsschlag, klingt spontan, räudig, punkig und kantig, dabei jedoch (mit »Halsgericht« oder »Two Choices Of Eternity«) nicht weniger nach Hit als vom deutschen Duo gewohnt. Für die Jury: Sebastian Kessler
Alternative
FKA Twigs: Eusexua
CD/LP, Parlophone Label Group 0075678603136 (Warner)
Was die Britin Tahliah Barnett alias FKA Twigs anpackt, das gelingt ihr. Schon ihr Debütalbum »LP1« hat es Ende 2014 in die Bestenliste des PdSK geschafft, jetzt findet sie sich mit »Eusexua« erneut dort wieder. Zeitgenössische Beats und Retro-Electronica-Klänge bieten die Basis für einen experimentellen Popsound, der souverän die Genre-Grenzen sprengt. Über die instrumentale Opulenz legt sich eine vielseitige Stimme, die diesen komplexen Wurf krönt. Mit dem Kunstwort »Eusexua« möchte die Künstlerin einen Zustand völliger sinnlicher Entrückung beschreiben – mit diesem Album kommt sie dem schon ganz schön nahe. Für die Jury: Jan Ulrich Welke
Dieses Album gewann sowohl in der Jury Alternative als auch in der Jury Pop.
Club und Dance
Gaiko: Gaiko
LP/Digital, Nous’klaer Audio OEMOEMENOE13 (Direktvertrieb)
Das ist ein eindrucksvolles Debüt des belgisch-japanischen Produzenten – auf neun Tracks entfaltet Gaiko ein zeitgenössisches Sound-Design zwischen analogen Synthie-Klängen, 1990er-Referenzen an IDM, Downtempo und Drum&Bass-Klängen in cineastischem Weitwinkel, gemixt mit Gaikos ganz eigener 2020er-Jahre-Ästhetik. Dabei überzeugt der 25-Jährige auch als Beat-Frickler und mit musikalischem Gespür für Melodik und Harmonien. Mit ihnen zollt er auch der eigenen abgebrochenen Laufbahn als Pianist Tribut. »Introspektive Club-Musik« nennt Gaiko diesen erfrischend emotionalen Sound. Wir nehmen gerne bald mehr davon. Für die Jury: Christian Tjaben
Electronic und Experimental
Das Ende der Liebe x su dance110: Persist
Digital, Anunaki Tabla AT-019 (Broken Silence)
Wie klingt das Ende der Liebe? Und wer hat wen oder was geliebt? Das neue Album der kryptisch benannten Berliner Band führt uns auf einen wilden Trip durch spannungsgeladene Gefühlslandschaften in fragiler Zeit. Die Stimme von su dance110, der nicht-binären, transdisziplinär arbeitenden Künstlerin, fügt helle, humane Elemente in die düster-schroffen Klangattacken der Multi-Instrumentalisten Andreas Völk, Laurenz Gemmer, Kenn Hartwig und Thomas Sauerborn ein. Die Klänge verschmelzen, ihre Quellen sind nicht immer klar. Alles brodelt, als stünde eine Explosion bevor. Für die Jury: Guido Halfmann
Blues
Thorbjørn Risager & The Black Tornado: House Of Sticks
CD/LP, Provogue PRD77372 (tonpool Medien)
Es gibt derzeit im Blues nur ganz wenige Künstlerinnen und Künstler, die es wie Thorbjørn Risager auf überzeugende Weise schaffen, Roots und Blues mit den Sounds der Moderne zu vereinen. Risagers Art, Stücke zu schreiben und zu arrangieren, wird zum einen der Vergangenheit des Genres mit all ihrer Ursprünglichkeit und Bodenständigkeit gerecht, berücksichtigt aber auch zeitgenössische Spiel- und Ausdrucksformen. Das hat im Falle dieses Albums zu zehn herausragenden Kompositionen geführt, die den Hörer sofort in den Blues-Bann ziehen; auch wegen des charakteristischen Sounds einer immerhin achtköpfigen Band! Für die Jury: Karl Leitner
R&B, Soul und Hip-Hop
Damon Locks: List of Demands
LP/Digital, International Anthem Recording Company 0634457192218 (Direktvertrieb)
Dieses Album erzählt von der Grausamkeit und der Schönheit des Seins. Es ist eine einmalige, hypnotische Fusion, die Damon Locks hier entwickelt hat – Schnappschüsse der Gegenwart, über Rassismus, Einsamkeit, Liebe, Verzweiflung und Hoffnung, aufgelesen etwa in TV-Serien oder Radio-Nachrichten und dann kunstvoll collagiert in dichten Sprach- und Soundfetzen. Der in Chicago lebende und preisgekrönte bildende Künstler, Pädagoge und Songschreiber erzählt seine Geschichten mit Elementen aus Jazz, Hiphop und Soul. Entstanden sind zwölf Soundgemälde, so verstörend und faszinierend wie Filme von David Lynch. Für die Jury: Petra Rieß
Wortkunst
Gottfried Keller: Züricher Novellen
Frank Arnold, Ulrich Noethen, Stefan Kaminski, Torben Kessler, Martin Vischer, Michael Quast. 2 mp3-CDs mit 3 Textbüchern, Sinus Literatur ISBN 978-3-905721-66-9 (Sinus Verlag)
Gottfried Keller gehört zu den bedeutendsten Schweizer Autoren des 19. Jahrhunderts. Zu den bekanntesten Werken gehören »Der grüne Heinrich« oder die Novellensammlung »Die Leute von Seldwyla«. Mit den »Züricher Novellen« schließt der Sinus Verlag die siebenteilige Hörbuch-Edition der Werke Kellers ab. Wie immer wurden nicht nur hochkarätige Interpreten engagiert, auch die kompletten Texte sind Teil der Hörbuch-Boxen. Außerdem erhellen Essays und ein umfangreiches Glossar geschichtliche und gesellschaftliche Hintergründe. Besser kann man die von tiefer Menschenkenntnis geprägten Keller-Texte nicht präsentieren. Für die Jury: Dorothee Meyer-Kahrweg
Kinder- und Jugendaufnahmen
Bibi Dumon Tak: Regenwurm und Anakonda
Was Tiere über sich erzählen. David Nathan, Cathlen Gawlich, Julian Greis, Vanida Karun, Jodie Ahlborn, Matti Krause. 2 CDs, Silberfisch ISBN 978-3-7456-0538-9 (Hörbuch Hamburg)
Bibi Dumon Tak gelingt ein neues Meisterstück der Tierstimmenübersetzung – Tiere halten ein Referat über ihr Lieblingstier, diskutieren die Perspektive der Erzählenden und fragen, wie sie die jeweilige Beschreibung beeinflusst. Der Fuchs etwa sieht in der Gans nur das Fleisch, der Putzfisch referiert über sein Wirtstier, den Hai. Das szenische Lesen bereichert die mehrperspektivische Form der Wissenserzählung; und den Sprechenden gelingt es in großer stimmlicher Vielfalt, interessanteste Tiere und ihre Beziehungen vorzustellen: humorvoll und mit Einfühlungsvermögen. Ein herausragendes Hörvergnügen! Für die Jury: Astrid Henning-Mohr