Jahrespreise
Einmal jährlich trifft sich der Jahresausschuss des PdSK e.V., um zehn Jahrespreise für die besten Produktionen des zurückliegenden Jahres zu bestimmen. Im Jahresausschuss arbeiten zehn Jurorinnen und Juroren aus verschiedenen Fachjurys zusammen. Die Besetzung des Jahresausschusses rotiert. Die Nominierungen für evtl. Jahrespreise obliegen der Gesamtheit aller Jurorinnen und Juroren. Jahrespreise werden im Rahmen öffentlicher Konzertauftritte oder Literaturlesungen (im Bereich Wortkunst) an die Preisträger verliehen. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jedem Preisträgerjahrgang hinterlegt.
Michael Spyres
»In the Shadows« – Werke von Etienne-Nicolas Méhul, Ludwig van Beethoven, Gioacchino Rossini, Giacomo Meyerbeer, Vincenzo Bellini, Richard Wagner und anderen. Michael Spyres, Julien Henric, Jeune Chœur de Paris, Les Talens Lyriques, Christophe Rousset.
Executive Producer: Alain Lanceron, Recording Producer: Daniel Zalay. Erato 5054197879821 (Warner)
Das größte internationale Tenor-Mirakel der letzten Zeit heißt: Michael Spyres. Der Spross einer amerikanischen Musikerfamilie singt – mit zurzeit 45 Jahren – gelegentlich auch Bariton-Rollen und hangelt sich sogar bis zum »Contra-Tenor« hinauf. Er ist der beste Berlioz-Tenor überhaupt und absolviert auf seinem neuesten Album »In the Shadows« einen Gewalt-Parcours sondergleichen, von Grétry bis zu Richard Wagner – samt allen möglichen Zwischenstationen bei Beethoven, Rossini, Meyerbeer, Weber, Auber, Spontini, Bellini und Marschner. Ersichtlich hat er’s auf Lohengrin abgesehen (den er inzwischen auch auf der Bühne singt). Eine Rekord-Anstrengung, an der man manches fragwürdig oder gewollt finden kann. Schon es versucht zu haben, ist verdienstvoll, denn es legt Wagners Wurzeln frei. Hoffen wir, dass dieser Manegen-Artist weiter gesanglich seiltanzt. Der Ziellauf, den er auf diesem Album meistert, steht in der Gesangsgeschichte einzig da. Für den Jahresausschuss: Kai Luehrs-Kaiser
Antje Weithaas, Dénes Várjon
Ludwig van Beethoven: Die 10 Violinsonaten (Vol. 1-3). Antje Weithaas, Dénes Várjon.
Tonmeister: Christoph Franke.
4 CDs, CAvi 8553512, 8553535 & 8553508 (Bertus)
Beethoven für alle. Antje Weithaas und Dénes Várjon schaffen mit ihrer Aufnahme aller Violinsonaten ein üppiges Klanggartenlabyrinth, in das jeder mit Freuden eintritt, um sich leiten zu lassen und erfrischt wieder herauszukommen. Egal, ob er die Ornamentik des Heckenschnitts studiert, die Namen der Pflanzen auf Latein kennt oder einfach die Blüten bewundert. Als Referenzaufnahme darf der mit der dritten CD vollendete Zyklus gelten. Diese setzt eine lyrische Klammer um die Fülle lebenslanger Klangfinesse und Experimentierfreude des Komponisten. Nicht hochglanzpoliert, nicht selbstdarstellerisch, sondern durchlässig für die Freiheit, die Beethoven sich nimmt und für alle Menschen fordert. Mit einer Wärme, die anderen Interpretationen fehlt, wird die Person Beethoven zu Klang. Handfest humorvoll, philosophisch oder aus dem tiefsten Innern wetternd. Zwei haben sich hier gefunden, die tiefe Werkkenntnis und interpretatorischen Feinsinn längst nicht mehr beweisen müssen und beides verschenken wie eine reiche Ernte an Kenner wie an Neuentdecker. Für den Jahresausschuss: Julia Kaiser
Víkingur Ólafsson
Johann Sebastian Bach: Goldberg-Variationen BWV 988. Víkingur Ólafsson.
Tonmeister: Christopher Tarnow.
CD/2 LPs, Deutsche Grammophon 486 4553 (Universal)
Kaum ein Großwerk für Tasteninstrumente ist häufiger aufgenommen worden als Bachs »Goldberg-Variationen«. Wer sich die »Clavier Ubung«, diesen 1741 erstveröffentlichten Zyklus aus einer »Aria« und 30 »verschiedenen Veraenderungen«, erneut im Studio vornimmt, sollte also etwas zu sagen haben. Ein Vierteljahrhundert hat Víkingur Ólafsson sich Zeit gelassen, bevor er die Expedition durch Bachs labyrinthische Wunderkammer wagte. Um uns mit Klangbildern, mit Klangbauten zu verblüffen, die wir komplett ausgeleuchtet wähnten. Bald überschäumend virtuos, bald suchend introvertiert, vergegenwärtigt der gerade 40-jährige Pianist aus Island die gewaltige Konstruktion mit improvisiert wirkendem Furor und resümiert dabei unter der Hand auf seine Art die Interpretationsgeschichte. Vieles schlägt hier echohaft durch: vom schroff artistischen Eigensinn des jungen Glenn Gould bis zur weichen Kantabilität eines András Schiff. Und doch: Ólafsson bleibt in jedem Takt bei sich. Fulminant! Für den Jahresausschuss: Albrecht Thiemann
ORA Singers, Suzi Digby
»Sanctissima« – Vespern & Benediktionen zum Fest Mariä Himmelfahrt von Giovanni Pierluigi da Palestrina, Francisco Guerrero, James McMillan, John Joubert, Oliver Tarney, Sven-David Sandström, Matthew Martin und anderen. ORA Singers, Suzi Digby.
Tonmeister: Nick Parker, Mastering: Mike Hatch.
2 CDs, harmonia mundi HMM 905334.35 (harmonia mundi/Bertus)
Symbiotische Verbindungen von historischer Vokalmusik mit zeitgenössischen Kompositionen schaffen zu können, bleibt oft ein frommer Wunsch. Die Vesper zu Mariä Himmelfahrt, die Suzi Digby und ihre ORA Singers hier musikalisch zelebrieren, kann ihn jedoch erfüllen. Alle acht in Ersteinspielung dargebotenen Auftragswerke des Albums haben Repertoirewert, wobei allein die Vielfalt effektvoller vokalspezifischer Klänge vom intensiven Austausch zwischen Komponisten und Chor auch nach Auftragsvergabe zeugt. Hörbare reflektierende Bezüge zu drei modellhaften Motetten der Renaissance sowie der einstimmig dargebotenen Liturgie sorgen für Stringenz und ermutigen zum Hinterfragen starrer Abgrenzungen von Tradition und Moderne. Interpretiert mit nobler Perfektion, die differenzierten epochentypischen Ausdruck mit dem besonnenen Charakter einer Vesper in Einklang bringt, ergibt sich ein Album, dessen ebenso klares wie vielschichtiges Konzept auf allen Ebenen aufgeht. Für den Jahresausschuss: Carsten Niemann
Harry Vogt, Martina Seeber (Hrsg.)
Radio Cologne Sound – Das Studio für Elektronische Musik des WDR. Werke von Karlheinz Stockhausen, Iannis Xenakis, Marco Stroppa, Youngi Pagh-Paan, Nicolaus A. Huber, York Höller und anderen.
Tonmeister: Harry Vogt u.a.
Buch mit 5 CDs, Wolke Verlag ISBN 978-3-95593-259-6
Elektronische Musik aus Köln war in der Nachkriegszeit eine internationale Sensation, die bis in die Popmusik abstrahlte. Das Zusammenspiel von Komponisten, Wissenschaftlern und Studiotechnikern machte das Studio für Elektronische Musik des WDR zum Magneten für Komponisten aus aller Welt. Dort entstanden neben Werken der Studioleiter Herbert Eimert, Karlheinz Stockhausen und York Höller auch bis dahin ungehörte Klänge von Franco Evangelisti, György Ligeti, Mauricio Kagel oder Iannis Xenakis. »Radio Cologne Sound« erzählt eine zweifache Mediengeschichte besonderer Art: Die Zusammenstellung zeichnet über fünf Jahrzehnte hinweg beispielhaft die ästhetische Entwicklung elektronischer Musik im Studio unter sich wandelnden Produktionsbedingen nach und erinnert zugleich daran, wie ein öffentlich-rechtlicher Rundfunksender einen Ort förderte, an dem epochale neue Musikformen erforscht wurden, um in seinen Programmen dann die Ergebnisse zu präsentieren: »Preiset den Herrn« (Stockhausen)! Für den Jahresausschuss: Tim Caspar Boehme
HJirok
Hjirok.
Produzenten: Hani Mojtahedy, Andi Toma. Tonmeister: Siamand Mohammadi, Constantin Carstens.
LP/Digital, Altin Village & Mine AVM 077 (Bandcamp)
»Geliyê Hjîrokê«, das »Tal der Feigen«, nahe der kurdischen Stadt Erbil inspiriert »HJirok«. Eine Utopie: In den Dörfern leben Jesiden, Juden, Muslime und Christen in friedlicher Koexistenz. Ebenso verhält es sich mit den diversen musikalischen Einflüssen auf dem Album: Kurdisch-iranische Folkelemente verbinden sich mit dem polyglotten Gesang der Musikerin Hani Mojtahedy und den elektronischen Klängen von Andi Toma (bekannt als eine Hälfte von Mouse on Mars). Doch »HJirok« geht es nicht um Klangfusion. Daf-Trommeln, Tombak und Darbuka stehen unverfremdet für sich. Field Recordings von ihren Reisen ins irakische Kurdengebiet verleihen »HJirok« eine cineastische Qualität. In ihrer iranischen Heimat ist Mojtahedy Star und Verfolgte zugleich, dreimal saß sie im Gefängnis. Der Schlusstrack »Tehran« ist daher eine Hommage an die iranische Frauenbewegung »Jon, Jiyan, Azadî – Frau, Leben, Freiheit«. »HJirok« vertont den Zeitgeist so erschütternd wie bezaubernd und öffnet ein klangliches Portal in eine utopische, alternative Realität. Für den Jahresausschuss: Laura Aha
Ghost Train Orchestra, Kronos Quartet
Songs and Symphoniques – The Music Of Moondog.
Produzent: Brian Carpenter, Tonmeister: Zach Miley, Aaron Nevezie, Marc Urselli, John Kilgore, Brian Montgomery, Mastering: Bob Ludwig.
CD/2 LPs, Cantaloupe Music CA21192 (Naxos)
Diese Musik wird man nicht mehr los. »Enough about human rights! What about worm rights?« Ja, was ist mit den Rechten der Würmer? Denen der Frösche, der Bäume? Dieser Song aus dem Universum des blinden, einst in New York aktiven Komponisten, Musikers, Performers und Sängers Louis Hardin alias Moondog ist Teil seiner einzigartigen künstlerischen Welt. Philip Glass und Steve Reich nannten ihn den »Paten des Minimalismus«. Das Ghost Train Orchestra und das Kronos Quartet präsentieren siebzehn neue, lebendige Arrangements von Moondogs Musik, die vom musikalischen Leiter Brian Carpenter und Mitgliedern des in Brooklyn ansässigen Ensembles stammen. Es ist eine hinreißende Neuentdeckung dieses 1999 verstorbenen Künstlers, in dessen Liedern und Madrigalen sich Einflüsse von Klassik, Jazz, indianischer oder lateinamerikanischer Musik finden. Gesungen werden sie von berühmten Gästen wie Karen Mantler, Sam Amidon, Aoife O’Donovan oder Jarvis Cocker, und wir staunen angesichts der zeitlosen Schönheit, der Abgründe und des Humors darin. Für den Jahresausschuss: Petra Rieß
The Neptune Power Federation
Goodnight My Children. Mastering: Carl Staff.
Tonmeister: Jazzy Geoff Lee, Jaytanic Ritual.
CD/LP, Cruz Del Sur Music CRUZ620LP (Soulfood)
Zu entdecken gibt es auf dem sechsten Album der australischen Band um die Sängerin Screaming Loz Sutch eine ganze Menge. Einflüsse aus verschiedensten Rock-Traditionen werden in den acht Songs in den Fokus gerückt: Psychedelic, Glam, Stoner, Hardrock und Punk. Vor allem in den 1970er Jahren liegen die musikalischen Wurzeln, bei denen die Band allerdings nicht stehen geblieben ist. Die Vielseitigkeit ist durchaus eine Herausforderung, aber die Australier spiegeln die Facetten auf »Goodnight My Children« geschickt gegeneinander, permanent gekrönt vom äußerst ausdrucksstarken und gekonnten Gesang ihrer Imperial Princess, der von detailreichen Chorsätzen ergänzt wird. Die Gitarren sind sowohl im Backing als auch in den Soli absolut überzeugend auf den Punkt gespielt, knackig und mit geschmackvollen Sounds versehen. Eine klangvolle Klarheit voller Feinheiten kommt aus den Lautsprechern. Da hört man sich gerne fest! Für den Jahresausschuss: Sabrina Palm
Cat Power
Sings Dylan: The 1966 Royal Albert Hall Concert.
Produzent: Andrew Slater, Mastering: Mark Chalecki.
2 CDs/2 LPs, Domino Records WIGCD524 (Believe Digital)
Im Album »Cat Power Sings Dylan – The 1966 Royal Albert Hall Concert« laufen viele Stränge zusammen. Historisch markiert der Originalmitschnitt von Bob Dylan in Manchester – einst fälschlich der Royal Albert Hall zugeordnet – eine Übergangsphase, in der traditionelle Folk- in Rockmusik überging. Cat Powers Interpretation inszeniert diesen Epochensprung samt ursprünglicher Gliederung in Solo- und Bandabschnitt unter neuen Vorzeichen. Sie verneigt sich vor der Bedeutsamkeit des Originals, bringt den Revolutionär Dylan einem Publikum von heute nahe und führt dessen Ideen weiter in die Gegenwart. Die Lieder handeln von Gesellschaftskritik, sozialer Verantwortung, Selbstwerdung und sind nicht nur Hits, sondern Hymnen des Widerstands gegen das bornierte Amerika der Sechzigerjahre. Aus wertschätzender Perspektive einer Songwriterin macht Cat Power daraus aktuelle, zeitgemäße Botschaften. Und sie singt sie hinreißend präsent und mitfühlend, als kritische Verehrerin eines Ahnherrn ihres Fachs. Für den Jahresausschuss: Ralf Dombrowski
Nitai Hershkovits
Call On The Old Wise.
Produzent: Manfred Eicher. Tonmeister: Stefano Amerio, Mastering: Christoph Stickel.
CD/LP, ECM Records 2779 (Universal)
So etwas passiert selten: Ein Musiker setzt sich an sein Instrument, spielt ungebunden von Vorgaben eines komponierten Programms und schafft es dabei, so klar und gestalterisch maßgeblich zu klingen, als hätte er jede Nuance bis ins Detail geplant. Dem Wahl-New-Yorker Pianisten Nitai Hershkovits ist so ein Meisterstück gelungen. »Call On The Old Wise« war als Soloklavier-Recital für seine Mentorin gedacht, weitgehend frei aus dem Augenblick heraus improvisiert. Es wurde auf dem brillant klingenden Flügel des Auditorio Stelio Molo RSI im Schweizerischen Lugano aufgenommen und entwickelte sich zu einem Programm aus 18 Miniaturen. Nitai Hershkovits spielt auch mit Verweisen auf die pianistische Romantik, wie auf abstrakt zeitgenössische Harmonieschichtungen, mit Andeutungen von Jazzentertainment ebenso wie mit freier Texturarbeit. »Call On The Old Wise« wird damit zu einem Glücksfall des Solo-Klaviers. Denn hier treffen sich Leichtigkeit und Tiefe, Emotion und eine feine Prise Humor. Für den Jahresausschuss: Ralf Dombrowski