Jahrespreise
Einmal jährlich trifft sich der Jahresausschuss des PdSK e.V., um zehn Jahrespreise für die besten Produktionen des zurückliegenden Jahres zu bestimmen. Im Jahresausschuss arbeiten zehn Jurorinnen und Juroren aus verschiedenen Fachjurys zusammen. Die Besetzung des Jahresausschusses rotiert. Die Nominierungen für evtl. Jahrespreise obliegen der Gesamtheit aller Jurorinnen und Juroren. Jahrespreise werden im Rahmen öffentlicher Konzertauftritte oder Literaturlesungen (im Bereich Wortkunst) an die Preisträger verliehen. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jedem Preisträgerjahrgang hinterlegt.
Stile Antico
Giovanni Pierluigi da Palestrina: Missa Papae Marcelli (Serie: »The Golden Renaissance«). Stile Antico. Decca 4870791 (Universal)
Wie dünn der seidene Faden der Geschichte doch sein kann, an dem zuweilen der Reichtum späterer Generationen hängen kann! Giovanni Pierluigi da Palestrina hat einen solchen kostbaren Faden für seine Zeit ins Licht gehoben und damit die vokal-sakrale Welt gerettet. In einer Zeit der Kirchenspaltung bewies er durch seine Missa Papae Marcelli, dass polyphone Kirchenmusik keineswegs unverständlich und die Kunstfertigkeit stimmlicher Verflechtungen auch nicht verwirrend sein musste. Er schuf darin ein derart überzeugendes Muster an kompositorischer Ausgewogenheit, dass man ihn bald allein mit Verweis auf dieses Werk gar zum Retter der Kirchenmusik hat ausrufen können. Die Wahrheit mag nuancierter sein, doch allemal verhalf Palestrina komplexer Polyphonie zu Akzeptanz und Glanz und prägte nebenbei einen eigenen Kompositionsstil, den Stile Antico. Das gleichnamige britische Vokalensemble singt diesen Geniestreich selbstverständlich in lupenreiner Diktion, dazu in glühender Nicht-Distanziertheit zum Text, ohne Korsett, atmend, schmiegsam. Für den Jahresausschuss: Julia Kaiser
Raphaël Pichon, Pygmalion
Wolfgang Amadeus Mozart: Requiem KV 626, Miserere mei KV 90, O Gottes Lamm KV 343/1 u.a. geistliche Musik. Ying Fang, Beth Taylor, Laurence Kilsby, Alex Rosen, Chadi Lazreq, Pygmalion, Raphaël Pichon. harmonia mundi HMM 902729
Es war vor sechs Jahren in Aix-en-Provence, als Mozarts »Requiem« zu tanzen begann: Romeo Castellucci inszenierte, Raphaël Pichon und seine Pygmalion-Ensembles lieferten eine seraphisch leuchtende Interpretation, der Chor tanzte Archaisches, aus der Totenmesse wurde eine Feier des Lebens. Fünf Jahre später ist Pichon ins Studio gegangen und stellt – wie schon in Aix – zum »Requiem« mehrere Musikstücke, diesmal den gregorianischen Choral »In Paradisum«, sowie Mozarts Kanon »Ach, zu kurz ist unsers Lebens Lauf« und sein frühes »Miserere mei«. Pichon begreift Mozarts Schaffen als »Konzentrat von Menschlichkeit« und steht für eine neue Ernsthaftigkeit im Umgang mit dem geschundenen Götterliebling. Pygmalion-Chor und -Ensemble musizieren historisch informiert, lassen aber das Schmalbrüstige, oft mutwillig Aufgeraute der Konkurrenz weit hinter sich. Die atemberaubende Einspielung bedient sich der geschmähten Vervollständigung durch Franz Xaver Süßmayr, denn Pichon ist davon überzeugt, dass viel mehr originaler Mozart in der Partitur steckt, als bislang angenommen. Für den Jahresausschuss: Regine Müller
Juan Diego Flórez, Orquesta y Coro Juvenil Sinfonía por el Perú
»Zarzuela« – Arien von Federico Moreno Torroba, José Serrano, Pablo Luna, Ruperto Chapí, Gerónimo Giménez, Amadoe Vives, Pablo Sorozábal u.a. Juan Diego Flórez, Orquesta y Coro Juvenil Sinfonía por el Perú, Guillermo García Calvo. Flórez Records JDF001 (Naxos)
Auch der beste Tenor der Welt muss sich von Zeit zu Zeit neu erfinden. Juan Diego Flórez, über die Mitte des Lebens und seiner Karriere inzwischen hinaus, tut es in Gestalt eines Genres, durch das er ursprünglich zur Oper fand. Die Zarzuela, als spanische Spezialform der Operette, ist auch in Flórezʼ peruanischer Heimat populär. Entsprechend großartig und zugleich charmant gelingt dem wie immer superprofessionellen Flórez sein erstes Album auf eigenem Label. Durch Mitwirkung des Orquestra Juvenil Sinfonica por el Perú macht er ein echtes Jugendprojekt draus. Mit Schwung, Schmelz und Schmackes klingt Flórez jünger, auch weniger herb als die meisten Zarzuela-Tenöre, die man kennt. Er vermag den draufgängerischen Liebhaber geltend zu machen ebenso wie den tenoralen Zuckerjungen und Schluffi, dem nichts Böses zuzutrauen ist. Wenn er zarzuelagerecht irgendwo abblitzt, wird dieser Leichtnehmer eben zur nächsten Blüte weiter flattern. Ach, wer da mitflattern könnte! Für den Jahresausschuss: Kai Luehrs-Kaiser
Stenhammar Quartet
Kalevi Aho: Streichquartette Nr. 1-3. Stenhammar Quartet, Produktion & Ton: Marion Schwebel, Thore Brinkmann. SACD, BIS 2609 (Naxos)
Vom jugendlichen Autodidakten mit Begeisterung für die traditionelle Form des Streichquartetts bis zur etablierten Größe im internationalen Konzertleben – diese spannende Entwicklung des 1949 geborenen Kalevi Aho zeichnet das Stenhammar Quartet nach. Ahos genuine Erfindungskraft und sein Formbewusstsein, das ihm ein überlegenes, packendes Spiel mit lapidaren und selbst naiven Motiven erlaubt, macht es zugleich möglich, dass sich diese Entwicklung auch schlüssig gegen den Uhrzeigersinn erzählen lässt. So kann sein 1967 entstandenes tonales Erstlingswerk als Abschluss des Albums direkt nach dem 3. Streichquartett von 1971 bestehen, das harmonisch einen höheren Abstraktionsgrad anstrebt, das aber – dem modernen finnischen Design vergleichbar – zeitgemäßen Ausdruck nicht durch Dekonstruktion anstrebt. Ahos Lust am farbenreichen Spiel mit definierten Formen wie am virtuos gemeisterten Handwerk geht auch bei den Interpreten eine untrennbare Einheit ein. Das Ergebnis ist eine überaus intelligente, frische Liebeserklärung an das Genre des Streichquartetts mit skandinavisch-nordischem Akzent, die nachhaltig berührt. Für den Jahresausschuss: Carsten Niemann
Beat Furrer, Klangforum Wien
»Furrer 70« – Medienbox. Ein Projekt von Klangforum Wien. Beat Furrer, Klangforum Wien u.a. 6 CDs, 3 Filme, 2 Bücher, Klangforum Wien 658606291324 (Direktvertrieb)
Ein wahrhaft königliches Geschenk macht Klangforum Wien dem Komponisten Beat Furrer zu seinem 70. Geburtstag mit einer Medienbox, die sechs CDs, drei Filme und zwei Bücher enthält. Sie ist mehr als nur eine umfassende Werkschau des 1954 in Schaffhausen geborenen Komponisten. Denn das Solisten-Ensemble Klangforum Wien spielt in einer eigenen Liga und ist in Sachen Furrer die wirklich allererste Adresse. Ensemble und Komponist wuchsen sozusagen lebenslang aneinander, denn Furrer selbst gründete das Ensemble 1985. Die Gründung fiel in eine Aufbruchstimmung, Claudio Abbado prägte das Klima, das Festival »Wien Modern« ging erstmals über die Bühne und Furrer trug mit seinem Ensemble nicht wenig dazu bei, dass Wien heute eine Hauptstadt der Neuen Musik ist. Furrers Denken in sprechenden Klängen wird hier aufs Delikateste erfahrbar, 18 Schlüsselwerke seines Schaffens erklingen in Neuaufnahmen und von ihm selbst dirigiert. Eine Schule des Hörens durch maßstabsetzende Interpretationen. Für den Jahresausschuss: Regine Müller
Design/Foto: © Liza Borovskaya-Brodskaya, Mitzi Gugg, Jakob Mayr
Maria Faust Sacrum Facere
Marches Rewound And Rewritten. CD/LP, Stunt Records STUCD 25072 (in-akustik)
Am Anfang ist dieses klopfend stampfendes Geräusch, Schuhsohlen, die im Viervierteltakt marschieren. Eine Trompete und ein Saxofon gesellen sich einstimmig dazu, eine schneidende Snare Drum, dann Tuba, Posaune, Altsaxofon und Klarinette. Links-rechts-left-right. Und schon marschieren wir mit. 2014 gründete die aus Estland stammende Saxofonistin Maria Faust das Ensemble Sacrum Facere, das seit Jahren auf seinen Konzeptalben gegen Formen der Gewalt und Tyrannei anspielt. Das geschieht auch hier. Maria Faust wuchs in der Sowjetunion auf, und der Marsch gehörte zum Soundtrack ihres Lebens. Doch diese neun Märsche verstören, mit reibenden Dissonanzen, einem zunehmend stolpernden Rhythmus, wenn die Bläser ausbrechen, und sich in freien Improvisation Luft verschaffen. Das sind Stellen von betörender Schönheit. Von Freiheit. Solche Märsche haben wir seit Mauricio Kagels »Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen« nicht mehr gehört. Das Album »Marches Rewound And Rewritten« sendet eine kraftvolle, vielschichtige Botschaft. Hören wir sie! Für den Jahresausschuss: Petra Rieß
Dascha Dauenhauer
No Beast. So Fierce (Kein Tier. So Wild) Digital, DD Records (Direktvertrieb)
Dieser Soundtrack ist ein echtes Biest – eines von der Sorte, der man lieber nicht allein in einer dunklen Straße begegnen möchte. Die Filmmusik-Komponistin Dascha Dauenhauer hat schon bei »Berlin Alexanderplatz« mit dem Regisseur Burhan Qurbani für eine passgenaue klangliche Atmosphären-Abmischung gesorgt. Für »Kein Tier. So Wild«, ein finsteres Update von Shakespeares »Richard III.«, musste es archaisch und bedrohlich raunen und knarzen. Die Geschichte zweier verfeindeter Clans in Berlin-Neukölln, sie klingt nun manisch, brutal, ausweglos. Eiskalt. Die Beats pulsieren nervös unter der Gänsehaut, es wird nie auch nur ansatzweise hell in dieser Tonspur. Dauenhauer will nicht nur dezent untermalen, sie will mitmischen im Plot, das Drama vorantreiben. Angesichts des sensationellen Schauspieler-Casts und der radikalen Umsetzung des Klassikers kann man keinen Moment wegsehen. Und noch viel weniger weghören. Filmmusik, für die man einen Waffenschein bräuchte. Für den Jahresausschuss: Joachim Mischke
Jenn Butterworth
Her By Design. CD/Digital, One in Ten 110CD001 (Direktvertrieb)
Wie eine wunderbare warme weiche Welle überschwemmt einen die Musik auf Jenn Butterworths neuem Soloalbum. Die Arrangements überzeugen durch eine großartige Dimensionalität und lassen bei jedem Hören neue Ecken entdecken. »Her by Design« zeigt, wozu die schottische Folk-Szene in der Lage ist. Dass Jenn Butterworth mit meisterhaftem Spiel auf diversen Saiteninstrumenten und schier perfektem Gesang überzeugt, ist hinlänglich bekannt. Für dieses Album hat sie sich Lieder der Folk-Tradition zusammengesucht, in denen Frauen im Mittelpunkt stehen. Zentral in den Arrangements sind neben Butterworths eigenem Spiel die großflächigen Streichersounds – fantastisch gesetzt von Seonaid Aitken – in Verbindung mit geschmackvollen Synthesizerspuren, geschickt eingewobene Zweitstimmen und eine grandiose Zusammenarbeit von Bass, Schlagzeug und Percussion. Die Musik saugt das Ohr an den Lautsprecher, verlangt gebanntes Zuhören und schwirrt dann noch lange durch den Kopf. Einfach nur brillant! Für den Jahresausschuss: Sabrina Palm
Älice
Wo die Mango wächst. Digital, Raposa (Direktvertrieb)
Ihr Sehnsuchtsland ist dort »Wo die Mango wächst«. Ob es Italien ist? Die Grundtemperatur ihres zweiten Soloalbums jedenfalls ist deutlich sommerlich. Die Hamburgerin Älice vereint Reggae, R’n’B, ein wenig Chanson, Electronics und Latin Pop zu einer süßen Mischung, die in den Texten keineswegs nur Zucker bietet: »Nimm die Blume aus den Worten, denn was Du sagst ist viel zu gut.« Gesunde Skepsis in klaren Worten sind eine ihrer Stärken und machen die zwölf Songs dieses Albums zu spannenden, kleinen Geschichten aus ihrem Leben. Darunter ein polnischer Song, als, wie sie sagt, Hommage an ihre Oma und Kindheit. Seit 2023 ist Älice neue Frontfrau bei der Münchner Urban Brass Band Moop Mama, in Hamburg kennt man sie auch als Teil des Dancehall Duos Chefboss. Unser Glück, dass sich die Sängerin, Songschreiberin und Produzentin genug Zeit für ihre Soloprojekte nimmt. Es wäre zu schade, wenn diese groovenden und dabei nachdenklichen Songs niemals die Schublade verlassen hätten. Für den Jahresausschuss: Petra Rieß
Fuffifufzich
Feel zu spät. Digital, Flirt99 (Direktvertrieb)
Fuffifufzichs »Feel zu spät« erzählt von Verliebt-sein, Verlassen-sein, Vermissen und Zeit als alles und alle umspannende Dimension – und immer sticht es ein wenig, wenn Fuffifufzich singt: »Ich häng’ so an dieser Zeit, which is called Vergangenheit.« Die (Un-)Endlichkeit von Liebe (und Zeit) wird ergründet, vermessen, gefühlt. Auf der Suche nach einem letzten Song, einem letzten Gefühl, nach »echtem« closure, vielleicht. Zwischen Schlager und Synthflächen öffnet sich ein Kosmos tiefer Zärtlichkeit. Die Stimme: flüchtig, fordernd, auch mal seicht; dabei aber immer (»… eventuell für immer«) on point. Die Texte: den Zeitgeist-konservierend, nah, über-abstrakt, verletzlich, im Staccato erhaben. »Feel zu spät« ist trotzig, arty und relatable für all jene, die der Zeit entgegenrennen, gerannt sind, gerannt sein werden. Es ist Musik für den Heim- oder Hinweg, den großen Moment, davor, danach; für Vercrusht-sein und für Liebeskummer. Dafür: der Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik. Für den Jahresausschuss: Nastassja von der Weiden
Mechthild Großmann
Mars-Leo Frei: Der Schwobbel. Ein Schleim zieht ein. Mechthild Großmann. Digital, sauerländer audio ISBN 978-3-7324-4430-4 (Argon Verlag)
Schon dem Charme des Untertitels »Ein Schleim zieht ein« kann man sich schwer entziehen. Das Kinder- und Jugendbuch »Der Schwobbel« von Mars-Leo Frei (ein Anagramm von Mario Fesler, dem Mannheimer Jugendliteratur-Preisträger) berichtet von einem Haufen Pudding, der eines Tages unerwartet vor der Tür steht. Der Schleim will rein. Und stellt müllfressend, bücherverachtend und herausfordernd das Leben von Akim, seinen Kumpels und seiner Familie auf den Kopf. Passiert alle Tage, könnte man sagen. Wie aber die geniale Mechthild Großmann, genannt »Die Stimme«, mit ihrem körnig-münsterländischen Bass den Text auf den Fliesen-Boden der Wirklichkeit holt, das macht das Ganze erst unsterblich. Großmann hat Sinn für Rhythmus, für herbe Sinnlichkeit und verfügt über eine beinahe körperlich tätliche Ironie und Süffisanz. Großartig! Und völlig unverständlich, dass eine der profiliertesten Sprecherinnen überhaupt bislang so wenig Hörbücher gemacht hat. So geht das nicht. Mechthild Großmann ist der Schleim! Und wir kriegen nicht genug davon. Für den Jahresausschuss: Kai Luehrs-Kaiser










