Bestenlisten
Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.
NEU: Longlist 1/2025, veröffentlicht am 5. Januar 2025
Orchestermusik und Konzerte
Igor Strawinsky: L’Oiseau de feu
& Edvard Grieg: Småtrold. Alexander Glasunov: The Seasons (Ausschnitt) u. a. Les Siècles, François-Xavier Roth. Actes Sud ASM 06 (harmonia mundi)
Auch wer die »period instruments« auf ihrem Weg in die Gegenwart für ausgereizt hält, muss doch zugeben, dass der frische Zugriff des Ensembles Les Siècles unter François-Xavier Roth dem »Feuervogel« neue, gleißende Federn verpasst hat. Auch wer das beliebte Strawinsky-Stück gut zu kennen glaubt, wird neue Flügelschläge entdecken: kurzweilig, farbenreich und spannend. Und die anderen Programmteile verweisen wieder einmal darauf, dass wir Alexander Glasunow immer noch gerne unterschätzen. Unterhaltung in Rein-Kultur! Für die Jury: Rainer Wagner
Orchestermusik und Konzerte
Berg, Beethoven: Violinkonzerte
Ludwig van Beethoven: Violinkonzert D-Dur op.61. Alban Berg: Violinkonzert. Isabelle Faust, Orchestra Mozart, Claudio Abbado. Harmonia mundi HMC 902105
Die originelle, aber einleuchtende Zusammenstellung der Violinkonzerte von Beethoven und Berg vereint zwei Werke, die in ihrer Ausgewogenheit von formaler Strenge und expressiver Dichte singulär sind. Isabelle Faust und Claudio Abbado verwirklichen dies nicht nur technisch perfekt, sondern mit jener unaufdringlichen Dezenz und Werkdienlichkeit, wie sie eigentlich selbstverständlich sein sollte, in einem an äußerlichen Events orientierten Musikleben aber zu oft in subjektivistischen Deutungen untergeht. Hier aber erlebt man die Kernaussage der Werke in vollkommener Natürlichkeit. Für die Jury: Hartmut Lück
Kammermusik
Carolin Widmann, Alexander Lonquich – Schubert
Franz Schubert: Fantasie C-Dur op.post.159 D 934; Rondo h-Moll op.70 D 895; Sonate A-Dur op.post. 162 D 574. Carolin Widmann, Alexander Lonquich. ECM New Series 2223/4764546 (Universal)
Kammermusik vom Feinsten: Nicht nur, weil hier eine Geigerin und ein Pianist blendend zusammenwirken. Es gelingt Carolin Widmann auch, mit den denkbar zartesten Tönen die Verletzlichkeit, die Schuberts C-Dur-Fantasie immer wieder andeutet, erlebbar zu machen. Mit ihrem weiten geigerischen Horizont, in dem Erfahrungen mit neuer Musik wie mit historischer Aufführungspraxis anklingen, bringt sie die Musik nicht nur zum Singen, sondern auch zum Sprechen. Und Alexander Lonquich weiß das in reichhaltiger Weise aufzunehmen. Für die Jury: Peter Hagmann
Tasteninstrumente
Das Kunstharmonium. Hommage à Victor Mustel
Werke von George Bizet, César Franck, Alexandre Guilmant u. a. Jan Hennig (Kunstharmonium). Ambiente ACD-3013 (Medienvertrieb Heinzelmann)
So klang sie also: Die Musik in den Pariser Salons, die Musik der Belle Époque, gespielt auf einer sogenannten Orgue célesta, jenem Klangwunderwerk der Pariser Firma Mustel. Jan Henning inszeniert auf diesem Harmonium ein musikalisches Feuerwerk, er nobilitiert das Instrument mit seinem virtuosen und klangsinnlichen Zugriff. Eine beglückende Begegnung mit Originalwerken, die man so noch nicht gehört hat. Für die Jury: Martin Hoffmann
Tasteninstrumente
Mozart: Klaviermusik Vol. 3
Wolfgang Amadeus Mozart: Sonate B-Dur KV 433; Sonate F-Dur KV 332; Variationen F-Dur KV 613 (»Ein Weib ist das herrlichste Ding«); Fantasie c-Moll KV 396. Kristian Bezuidenhout. Harmonia Mundi USA HMU 907499
Dass Mozarts Klaviermusik auf einem Hammerflügel der Mozartzeit interessanter klingen kann als auf einem modernen Steinway, haben uns schon andere Pianisten vor Kristian Bezuidenhout hin und wieder bewiesen. Durch die dynamische Tiefenstaffelung der Register und durch die Trennschärfe der Klangfarben gewinnt diese Musik eine unerhörte Beredsamkeit. Bezuidenhout aber liest seinen Mozart im Originalklangkostüm quasi von rückwärts, er nimmt sich romantische Freiheiten heraus, wie Pedal- und Rubatospiel, gestaltet dramatisch-gesanglich. Jede einzelne Folge dieser Gesamtaufnahme aller Mozartschen Klavierkompositionen (hier ist es die dritte) zeigt uns überraschende Seiten des scheinbar Bekannten. Für die Jury: Eleonore Büning
Oper
Antonio Vivaldi: Orlando Furioso RV 728
Mit Verónica Cangemi, Philippe Jaroussky, Marie-Nicole Lemieux, Jennifer Larmore u. a. Chor des Théâtre des Champs-Élysées, Ensemble Matheus, Jean-Christophe Spinosi. Regie: Pierre Audi. DVD Naïve DR 2148 (Indigo)
Schwarzes Grau, schwarzes Blau, schwarzes Rot, schwarzes Schwarz – und gelegentlich etwas Weiß: Das ist die Farbenwelt von Pierre Audis Inszenierung des »Orlando furioso« von Vivaldi. Und so eingeschränkt wie die Farbskala ist auch der Raum: In einem barocken Salon verfällt Orlando dem »schwarzen« Wahnsinn. Audi fasst das Stück nicht als phantastische Zauberoper auf, sondern als ein psychologisches Kammerspiel. Brillant die vokalen Leistungen in den prominent besetzten Solopartien, vital das Orchester unter Jean-Christophe Spinosi. Für die Jury: Roland Wächter
Chor und Vokalensemble
Leoš Janáček: Chorwerke
Sechs Klänge aus Mähren (nach Dvořák); Die Wildente; Die Fährte des Wolfes; Elegie auf den Tod meiner Tochter; Kinderreime; Unsere Abende; Ave Maria; Vaterunser. Thomas Walker, Philip Mayers, Cappella Amsterdam, Radio Blazers Ensemble, Daniel Reuss. harmonia mundi HMC 902097
Bezaubernde Naturbilder, in denen sich auch Liebe, Enttäuschung oder Trennung der Menschen widerspiegeln, aber auch witzige Kinderreime, eine Trauermusik über die früh verstorbene Tochter und bewegende geistliche Werke – die Cappella Amsterdam unter der Leitung von Daniel Reuss hat eine faszinierend breite Palette von Leoš Janáčeks Chormusik erarbeitet. Perfekte Artikulation und sensible Melodiegestaltung machen diese Aufnahme zum einzigartigen Hörerlebnis. Für die Jury: Éva Pintér
Klassisches Lied und Vokalrecital
Hasse Reloaded
Johann Adolph Hasse: Arien aus »Didone abbandonata«, »Artaserse«, »La Gelosia«. Valer Barna-Sabadus, Hofkapelle München, Michael Hofstetter. Oehms OC 830 (Naxos)
Der junge rumänische Countertenor Valer Barna-Sabadus, aufgewachsen und ausgebildet in Deutschland, stand im Mai 2011 als Hauptfigur auf der Bühne bei der Wiederentdeckung von Hasses Oper »Didone Abbandonata« am Münchner Prinzregententheater. Aus dieser allseits akklamierten Produktion ging nun sein Debut-Album hervor mit Hasses hochvirtuosen und affektreichen Arien: eine frische Stimme, eine gelungene Einspielung, die »il caro sassone« gründlich entstaubt. Für die Jury: Christian Kröber
Alte Musik
Music From The Missae Sex
Philippe Rogier: Missa Philippus Secundus Rex Hispaniae; Missa Inclita Stirps Jesse. Magnificat, Philip Cave. Linn Records CDK 387 (Codæx)
Philippe Rogier lebte von etwa 1561 bis 1596, er war Hofkapellmeister des spanischen Königs Philipps II. und der letzte bedeutende Vertreter der franko-flämischen Vokalpolyphonie. Zwei seiner retrospektiv den Renaissancestil verklärenden Messen hat das englische Vokalensemble »Magnificat« unter der Leitung von Philip Cave aufgenommen – mit homogenem, sonorem Klang, der das dichte Stimmengeflecht freilegt und dennoch der Musik nichts von ihrer energischen Vitalität nimmt. Eine lohnenswerte Entdeckung! Für die Jury: Uwe Schweikert
Zeitgenössische Musik
AsianArt Ensemble
Chung Il-Ryun: Kwang Ya – Fünf Koreanische Tänze. Volker Blumenthaler: Approximation. Hosokawa Toshio: Landscapes V; Manfred Stahnke: Changguflage. Lee Myung-Sun: Olleh. Xu Shuya: In Nomine II. Asian Art Ensemble. Celestial Harmonies 13291-2 (Naxos)
Ein aus Stücken fernöstlicher und deutscher Provenienz bezwingend komponiertes Programm! Den Musikern des 2007 in München gegründeten AsianArt Ensemble glückt es, eine Kultur des Zusammenspiels zu entwickeln, die staunen macht. Während sie im Klangfluss Intonationsweisen und Vokabularien, Kolorit und rhythmische Energien morgen- und abendländischer Tradition in Eins fließen lassen, möchte man als Hörer mitunter glauben, Zeit und Raum spielten keine Rolle mehr. Für die Jury: Helmut Rohm
Historische Aufnahmen
Mercury Living Presence: The Collector’s Edition
Mit Gina Bachauer, Yehudi Menuhin, Henryk Szeryng, London Symphony Orchestra, Antal Doráti, Rafael Kubelik, Stanisław Skrowaczewski u. a. 51 CDs. Decca 478 356 6 (Universal)
Von 1947 bis 1967 engagierte sich das ehemalige Poplabel Mercury auch im Bereich klassischer Musik. Die frühen Mercury-Stereo-Aufnahmen waren klangtechnisch fortschrittlich, aber ohne übertriebene Finessen, und sie sind nach wie vor maßstabsetzend. Das Repertoire bediente eine breite Hörerschaft. Mit dieser Edition wird wieder eine Zugriffsmöglichkeit auf diese Ära geboten, in meist vorbildlicher Digitalisierung, auch Beiheft und Bonus-CD lassen diese wichtige Schallplattenepoche faszinierend lebendig werden. Für die Jury: Christoph Zimmermann
Grenzgänge
Luc Ferrari: JETZT
– oder wahrscheinlich ist dies mein Alltag, in der Verwirrung der Orte und der Augenblicke. Mit Tiziana Bertoncini, David Fenech, Brunhild Ferrari, Luc Ferrari, Neele Hülcker, Frank Niehusmann, Antje Vowinckel. Vivant Quartet de Narbonne. 3 CDs Wergo 2066 2 (Note 1)
Den Bordun-Grundton aus Verkehrslärm, Marktschreier, Lautsprecherdurchsagen, Waldesrauschen, Gesprächsfetzen, Mikrophontests hatte Luc Ferrari 1982 als O-Ton mitgeschnitten: Ein vielschichtig schillerndes Hörspiel, das im Augenblick des Zuhörens (also »jetzt«) entsteht, eine Art Autobiographie, in der sich ein Leben (oder vielmehr Augenblicke daraus) anekdotisch zusammensetzen, aus Tonbandschnipseln. Es ist ein Hörspiel über den Alltag und dessen Klänge, wozu auch das gesprochene Wort gehört, ein Hörspiel, das der Komponist mit seiner deutschen Frau Brunhild Ferrari sowie im Dialog mit ihr zugleich reflektierte, wie auch die Neukompositionen im Anhang Momente des »Jetzt«-Materials filternd herausgreifen und reflektieren. Ein origineller Streifzug durch Augenblicke des Lebens, das zum Verweilen einlädt: Das Leben ist »Jetzt«, wir leben jetzt. Für die Jury: Nikolaus Gatter & Heinz Zietsch
Filmmusik
Ludovic Bource: The Artist
The Brussels Philharmonic, Van Tiel. Sony 88697978952 (Sony)
Seit den frühen zwanziger Jahren wurden Filmmusiken komponiert und zunächst live, ab 1926 auch mittels technischer Aufnahmeverfahren eingespielt. Den Filmen wurden Musik und Geräusche, schließlich auch das gesprochene Wort beigemischt. In jener Übergangsphase ist »The Artist« angesiedelt. Kongenial wird die Aufbruchstimmung gespiegelt, die Lust auf Neues und der Niedergang all jener, die nicht Schritt halten konnten oder wollten. Ludovic Bource hat das gesellschaftliche und künstlerische Klima beispielhaft in seinem Score verdichtet. Er schwelgt im melodramatischen Pathos der orchestralen Klanggemälde, swingt beschwingt und heizt mit Charleston-Temperament die Fußsohlen an. Seine Musik ist wahrhaftig und dennoch leichtfüßig, eingängig in der Melodik, nie trivial. Dem zuzuhören ist ein Vergnügen. Für die Jury: Uwe Mies
Musikfilm
Renaud Garcia-Fons – Solo
The Marcevol Concert. Regie: Nicolas Dattilesi. CD & DVD. Enja ENJ-9581 2 (Soulfood)
Ein Mann, ein Kontrabass, ein fast nicht wahrnehmbares Publikum. Mit sparsamen Mitteln dokumentiert Nicolas Dattilesi ein Solokonzert des Kontrabassisten Renaud Garcia-Fons von 2011 in der Klosterkirche von Marcevol. Die Bildführung verzichtet auf alles, was von der einzigartigen, aus Klassik, Volksmusik und Jazz gespeisten und durch dezente Elektronik erweiterten Musik ablenken könnte. Das Konzentrierte, Schlichte, das so schwer zu machen ist – und in der Vollendung ebenso selbstverständlich wie federleicht wirkt. Für die Jury: Werner Stiefele
Musikfilm
Nach der Musik
Mit Otmar Suitner, Marita Suitner, Staatskapelle Berlin u. a. Regie: Igor Heitzmann. DVD b-there! 6413631 (Alive)
Der Dirigent Otmar Suitner hatte über vier Jahrzehnte ein ungewöhnliches Privatleben geführt: In Ostberlin lebte er mit seiner Frau Marita, in Westberlin mit seiner Geliebten Renate Heitzmann. Sein Sohn Igor Heitzmann drehte 2007 dieses bewegende Porträt seines Vaters, der zu diesem Zeitpunkt, 85jährig, das Dirigieren längst aufgegeben hatte und an Parkinson erkrankt war. Die hohe Qualität dieses Filmes rührt daher, dass der Autor eine Annäherung versucht, keine Abrechnung. Auch jenseits der komplizierten Vater-Sohn-Beziehung wird der Musiker Otmar Suitner gewürdigt. Für die Jury: Bernhard Hartmann
Jazz
When Lights Are Low
Pure Desmond (Sebastian Deufel, Christian Flohr, Lorenz Hargassner, Johann Weiß) minor music MM 801141 (In-Akustik)
Dieses bescheiden, fast unscheinbar daherkommende Album ist der Tonsprache und dem Geist von Paul Desmond gewidmet. Desmond, man weiß das, war der Saxofonist des Dave Brubeck-Quartetts, der die Welt mit seinem lyrischen, zerbrechlichen Spiel ein Stückchen lebenswerter gemacht hat. Der österreichische Altsaxofonist Lorenz Hargassner greift dies auf, er orientiert sich dabei an dem Paul Desmond-Quartett mit Jim Hall, und kommt so zu einer edlen, kammermusikalischen Ästhetik: durchsichtig, überschaubar, linear, kontrolliert emotional und zurückgelehnt bis zur totalen Entspannung, in vier Eigenkompositionen der Band sowie fünf Standards nebst Jazzklassikern. Für die Jury: Herbert Lindenberger
Jazz
Lifeline. Rolf & Joachim Kühn Quartet
Mit Brian Blade, John Patitucci. Impulse 06025 2786480 (Universal)
Sie waren die einzigen deutschen Jazzmusiker, die mit »Impressions Of New York« 1967 eine Platte auf dem legendären amerikanischen Label »Impulse!« herausbrachten. Gut 45 Jahre später beleben der Klarinettist Rolf und der Pianist Joachim Kühn den Geist jener Zeit neu und knüpfen, gemeinsam mit Bassist John Patitucci und Drummer Brian Blade, dort an, wo ihr USA-Abenteuer damals endete. Zwei eng verwobene Lebenslinien, die repräsentativ für die Entwicklung des Jazz von der klassischen Quartett-Besetzung über den Free Jazz, vom psychedelischen Art-Rock bis hin zu komplexen Kompositionslinien und Improvisationsstrukturen stehen. Für die Jury: Reinhard Köchl
Weltmusik
Bonga: Hora Kota
Lusafrica 562752 (Sony)
Ein reifes Spätwerk des 69-jährigen, über Angola hinaus populären Sängers und Komponisten, der schon unter der portugiesischen Diktatur ins Exil musste. »Hora Kota«, die »Stunde der Weisen«, ist der sozialen Gerechtigkeit und dem Wiederaufbau seiner Heimat nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg gewidmet. Angolanische Rhythmen verschmelzen mit portugiesischer und kapverdischer Balladen-Tradition. Für die Jury: Johann Kneihs
Folk und Singer/Songwriter
The Other Europeans: Splendor
2 CDs Kikiyon MDR Kiki CD 001-2 (Eigenverlag)
Bessarabien, heute Moldawien, war einst als Pufferzone zwischen den Großmächten in Südosteuropa auch ein phantastischer kultureller Schmelztiegel. 14 Musiker aus Amerika und Europa spüren in diesem Projekt den Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschieden von jüdischer Musik und der Musik der Roma in dieser Region nach, und mischen sie mit Stilelementen weiterer Genres, dass es eine Lust, Pracht und Herrlichkeit ist: europäische Musik, wunderbar anders. Für die Jury: Jo Meyer
Pop
Lambchop: Mr. M.
City Slang 50013 (Universal)
Bittersüße Trauerarbeit: Kurt Wagner hat einen akustischen Nachruf auf seinen alten Weggefährten Vic Chesnutt formuliert und dabei Musik geschaffen, deren Melancholie auf wundersame Weise zu Herzen geht, ohne sentimental zu werden. Der Komponist und Intellektuelle des modernen Nashville arrangiert Streicher zu Folk-Klängen und schafft in ihrer pathetischen Kraft perfekt balancierte Lieder, deren unaufdringliche ästhetische Vielfalt weit über das Normalmaß der Popmusik hinausreicht. Für die Jury: Ralf Dombrowski
Nu & Extreme (bis 2014)
Gang Colours: The Keychain Collection
Brownswood BWOOD074LP (Rough Trade)
Herrliches Schneewetteralbum (das aber garantiert auch bei jedem anderen Wetter glänzend funktioniert) eines jungen Produzenten aus Southampton – ein großartiger, introspektiver Begleiter für jede Lebenslage. Prägnant die Rhodes- und Pianochords, -lines und -klänge, untermalt von schlurfenden, angedubbten Beats, eigenartigen Field-Recording-Sounds und Cut-Up-House-Fragmenten. Und ab und an branden sanfte R&B-Vocals aus dem Hintergrund nach vorne in der entschleunigten elektronischen Welt des Will Ozanne. Für die Jury: Götz Adler
Blues
Timo Gross: Fallen from Grace
PepperCake PEC 2073-2 (ZYX Music)
Seine Tochter heißt Emma, seine Freundin heißt Sandra – aber seine Muse heißt Constancia: Beharrlichkeit. Mit ihrer Hilfe hat es Timo Gross, der 47-jährige südpfälzische Sänger, Gitarrist, Produzent und Dozent, auf inzwischen acht Blues-Alben gebracht, bei rund 340 Arbeitstagen und 80 Konzerten im Jahr. Auch für die jüngste CD gilt, was der Mainzer Musikwissenschaftler und Radioredakteur Christian Pfarr nach seinem Auftritt von Timo Gross beim Lahnsteiner Bluesfestival 2011 so genau auf den Punkt brachte: »Timo Gross ist ein guter Sänger, ein großartiger Gitarrist, ein äußerst kompetenter Blueser und ein – vielleicht auch von sich selbst unterschätzter – Country- und Americana-Musiker.« Für die Jury: Tom Schroeder
R&B, Soul und Hip-Hop
Union: Analogtronics
Vinyl-LP mit Download-Code/CD. Fat Beats EAN 6 591235144 15/22
Hip Hop wird, wie derzeit eigentlich fast jedes Pop-Genre, von Retro-Klängen bestimmt. Immer mehr junge Produzenten beschwören auf ihren Platten den Geist des »Goldenen Zeitalters« von1988 bis 1991. Da wirkt das Album Analogtronics geradezu wie ein perfektes Gegengift: Union (also das Pariser Produzentenduo OJ und Gold), kennen die Geschichte, blicken aber in die Zukunft. Ihre entspannten Beats bieten Gastrappern wie MF Doom oder Talib Kweli eine Bühne, die diese Veteranen so gut klingen lassen wie schon lange nicht mehr. Dass es Union gelingt, die Spannung über die gesamte Albumlänge zu halten, macht dieses durch und durch neu und erfrischend wirkende Werk ganz einfach zu etwas Besonderem. Für die Jury: Andreas Müller
Wortkunst
Max Frisch: Montauk
Mit Monica Gillette, Ueli Jäggi, Thomas Sarbacher. Susanne-Marie Wrage. Regie: Leonhard Koppelmann. 2 CDs Osterwold-Audio / HörbucHHamburg ISBN 978-3 -86952-118-3
Max Frischs Erzählung »Montauk« aus dem Jahr 1975 ist eine autobiographische Fiktion. Das letzte Aufbäumen des Erotomanen, der die eigene Vergänglichkeit an seiner Beziehung zu einer jungen Amerikanerin spiegelt, ist zugleich auch eine melancholische Betrachtung über Frischs Grundthema: die Erfindung der eigenen Biographie. In der Hörspiel-Produktion des SWR werden (scheinbar) autobiographische Aktion und innere Reflexion raffiniert verblendet durch die sprachlichen »Masken« von Ueli Jaeggi, der zum Teil bestürzend echt den Tonfall Frischs nachahmt. Eine weitere Brechung schafft der einmontierte Briefwechsel zwischen Uwe Johnson und Frischs Gattin Marianne. Für die Jury: Michael Struck-Schloen
Kinder- und Jugendaufnahmen
Hartmut El Kurdi: Wat soll dat denn?!
Fritz Eckenga, Hartmut El Kurdi, Bianka Lammert, Jochen Malmsheimer. Verlag Sauerländer ISBN 978-3-411-81003-1
Man muss nicht aus dem Ruhrgebiet kommen, und man muss auch kein Kind sein, um einen Riesenspaß an »Wat soll dat denn? – Schräge Sagen aus dem Ruhrgebiet« zu haben. Amüsant, frisch und zeitgemäß erzählt Hartmut al Kurdi alte Legenden neu. Sprecher wie die großartigen Kabarettisten Fritz Eckenga und Jochen Malmsheimer, beide im »Pott« zu Hause, machen diese CD zu einem Hörvergnügen für große und kleine Zuhörer. Wer immer schon mal wissen wollte, wie Gott und Teufel klingen, wenn Eckenga und Malmsheimer ihnen eine Stimme verleihen, darf diese Produktion auf keinen Fall verpassen. Für die Jury: Margit Hähner