Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

NEU: Longlist 2/2024, veröffentlicht am 5. April 2024

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Felix Mendelssohn Bartholdy: Symphonien Nr. 4 & 5

Felix Mendelssohn Bartholdy: Symphonien Nr. 4 A-Dur op. 90 »Italienische« und Nr. 5 d-moll op. 107 »Reformation«. NDR Radiophilharmonie, Andrew Manze. Pentatone PTC 5186 611 (Naxos)

Felix Mendelssohn Bartholdy: Symphonien Nr. 4 A-Dur op. 90 »Italienische« und Nr. 5 d-moll op. 107 »Reformation«. NDR Radiophilharmonie, Andrew Manze. Pentatone PTC 5186 611 (Naxos)
In jüngerer Zeit kamen einige interessante Einspielungen der Mendelssohnschen Symphonien heraus, etwa mit dem Freiburger Barockorchester oder der Kammerakademie Potsdam. Doch die neue Mendelssohn-Edition der NDR Radiophilharmonie unter Andrew Manze ist etwas ganz Besonderes. Bereits der Start mit den Symphonien Nr.1 und Nr.3, wurde hoch bewertet und 2017 mit einem Jahrespreis ausgezeichnet. Auch in seiner Lesart der Symphonien Nr. 4 und Nr. 5 präsentiert Manze mit dem »kleineren« der NDR-Orchester eine bemerkenswerte Klangkultur, die Kenntnisse der historischen Aufführungspraxis mit den Stärken eines modernen Symphonieorchesters zu verbinden weiß. Trotz schneller Tempi wirkt die »Italienische« nicht übereilt, vielmehr wunderbar ausmusiziert, mit einem runden und transparenten Klangbild. Für die Jury: Peter Stieber

Orchestermusik und Konzerte

Piotr Anderszewski – Mozart

Wolfgang Amadeus Mozart: Klavierkonzerte Nr. 25 C-Dur KV 503 und Nr. 27 B-Dur KV 595. Piotr Anderszewski, Chamber Orchestra of Europe. Warner Classics 019029 572 4221 (Warner)

Bei dieser Neueinspielung von Mozarts Klavierkonzerten Nr. 25 & 27 steht kein Dirigent am Pult. Der polnische Pianist Piotr Anderszewski leitet diesmal das Geschehen vom Klavier aus selbst. Sein Spiel ist souverän, mit weichem Anschlag, hier schmeichelnd, dort mächtig, immer plastisch, immer eloquent. Und nichts klingt im Dialog mit den übrigen Instrumenten nach Routine. Stattdessen: Lauschen, Antworten. Eine Logik der »Klangreden« entfaltet sich, ganz im Sinne Nikolaus Harnoncourts, der dem feinsinnig agierenden Chamber Orchestra of Europe eng verbundenen war. Neue Bedeutung belebt jede Wiederholung, jede Sequenz: Jeder der vertrauten Takte atmet. Für die Jury: Wiebke Roloff

Kammermusik

Mysteries – Simon Höfele

Werke für Trompete solo, mit Klavier oder Perkussion von György Ligeti, André Jolivet, Toshio Hosokawa, Iain Hamilton, Tōru Takemitsu und HK Gruber. Simon Höfele, Eriko Takezawa, Kai Strobel. Genuin GEN 18499 (Note 1)

Die Allianz von Trompete und Schlagzeug ist bewährt seit der Antike. Und sieht man auch im Klavier (der Tonerzeugung nach) das Perkussionsinstrument, dann wurzelt das Lieblings-Kammermusikrepertoire des Trompeters Simon Höfele tief in Geschichte. Aber was für ein Feuerwerk an Unerhörtem! Welche Fülle an Rhythmen, Klangfarben, Stimmen, Gesängen! Höfele, vierundzwanzig, ist mehrfach ausgezeichneter Meisterschüler von Reinhold Friedrich aus Karlsruhe mit einem besonderen Gespür fürs Zeitgenössische. Sein Debütalbum (2017, dtb-Production) glänzte nicht etwa trompeterüblich mit Barock, vielmehr mit Pintscher und Neuwirth. Und auch diese zweite CD hat multiplen Mehrwert: Hochvirtuoses wie Ligetis »Mysterie«-Happening oder Jolivets »Heptade«-Suite von 1971, so gut wie nie live im Konzert zu hören, lernt man kennen und verstehen. Und der Funke springt über, dank Leidenschaft und Perfektion. Für die Jury: Eleonore Büning

Tasteninstrumente

Strawinsky: Le Sacre du printemps – Hamelin / Andsnes

Igor Strawinsky: Le Sacre du printemps; Konzert für zwei Klaviere, Madrid, Tango, Circus Polka. Marc-André Hamelin, Leif Ove Andsnes. Hyperion CDA 68189 (Note 1)

Zwei herausragende Pianisten bilden nicht automatisch ein erstklassiges Klavierduo. Marc-André Hamelin und Leif Ove Andsnes sind jedoch schon mehrfach gemeinsam aufgetreten, und ihr CD-Debüt beweist, dass sie jeden Vergleich mit spezialisierten Duopartnerschaften bestehen. Die kühle, glasklar-analytische Virtuosität der beiden passt auch bestens zu Strawinskys. Dessen »Sacre«, immer noch modern mit den komplexen, teils brutalen Rhythmen und ausdrucksvollen musikalischen Bildern wird höchst kontrolliert dargeboten und wirken vielleicht gerade dank dieser ausgestellten Präzision ungeheuer expressiv. Das seltener zu hörende neoklassizistische Konzert für zwei Klaviere spielen die beiden mit derselben beeindruckenden manuellen und gestalterischen Überlegenheit. Drei Zugaben, Bearbeitungen von Soulima Rabin und Victor Rabin, runden das Programm. Ein Muss für jeden Klaviermusik-Fan! Für die Jury: Gregor Willmes

Tasteninstrumente

Charles-Marie Widor: Sämtliche Orgelsymphonien

Winfried Lichtscheidel. Ambiente Audio ACD-2035 (Medienvertrieb Heinzelmann)

Diese Einspielung aller zehn Orgelsymphonien Widors wagt viel. Winfried Lichtscheidel setzt sich damit einer großen Konkurrenz aus, und die meisten seiner Kollegen greifen gleich auf mehrere gut erhaltene, oftmals auch größere Originalinstrumente zurück. Doch hat man beim Hören nicht den Eindruck, als ließe er sich davon beeindrucken. Über die gesamte stilistische Bandbreite der zwischen 1872 und 1899 veröffentlichten Werke hinweg vereint Lichtscheidels Spielweise selbstverständliche Textsicherheit mit einer in sich ruhenden Musikalität, die ihn an der optimal aufgenommenen Woehl-Orgel in Sendenhorst von 1999 immer wieder zu überzeugenden klanglichen Lösungen führt. Das geht weit über bloß gediegenes Spiel hinaus. Gerade die Bündelung dieser Tugenden schafft seinen Interpretationen den Raum für hohe Originalität: eine Gesamteinspielung, die das Zeug zur Referenzaufnahme hat! Für die Jury: Friedrich Sprondel

Oper

Nicola Antonio Porpora: Germanico in Germania

Max Emanuel Cencic, Mary-Ellen Nesi, Dilyara Idrisova, Hasnaa Bennani, Julia Lezhneva, Juan Sancho, Capella Cracoviensis, Jan Tomasz Adamus. Decca 483 1523 (Universal)

Gleich zwei der damals berühmtesten Kastraten sangen in der Uraufführung von Porporas Oper »Germanico in Germania« 1732 in Rom. So ist diese Oper mit ihrer Fülle an vokalem Feuerwerk der ideale Stoff für den Countertenor Max Emanuel Cencic: In der Titelrolle brilliert er einmal mehr als Vokalvirtuose, aber auch als Darsteller. Man mag es deshalb etwas bedauern, dass ihm kein zweiter Countertenor als Gegenspieler Arminio Paroli bietet – allerdings ungerechterweise, denn Mary-Ellen Nesi glänzt in dieser Partie nicht weniger als Cencic. Toll, dass mit dieser Produktion nun zum ersten Mal eine von Porporas Opern vollständig und hochwertig besetzt vorliegt, in jeder Hinsicht, auch instrumental erstklassig. Für die Jury: Roland Wächter

Oper

Jules Massenet: Werther

uan Diego Flórez, Anna Stéphany, Mélissa Petit, Audun Iversen, Cheyne Davidson, Martin Zysset, Kinderchor, SoprAlti der Oper Zürich, Statistenverein am Opernhaus Zürich, Philharmonia Zürich, Cornelius Meister, Tatjana Gürbaca. DVD, accentus music ACC 20427 (Naxos)

Diese Oper ist ein Schmuckstück des Repertoires: parfümiert, aber doch wahrhaftig, und mit einer Titelpartie, nach der sich lyrische Tenöre die Finger lecken. Tatjana Gürbaca hat den »Werther« klug, neu und intensiv in Zürich inszeniert. Klaus Grünbergs baute eine helle Bühne, fokussiert als enge, sich perspektivisch verkürzende Zimmerschachtel. Der utopische Fiebertraum eines wahnsinnig Liebenden bricht sich apart mit Massenets köstlichem Melodiegeträufel, dem Cornelius Meister die Kalorien entzieht, indem er die Konturen schärft. Juan Diego Flórez gestaltet den Werther gleichzeitig heutig und entrückt, als Prototyp und Individuum. Nie stellt er nur Töne aus: Dieser Sänger, große Klasse, geht vollkommen in seiner Rolle auf. Für die Jury: Manuel Brug

Chor und Vokalensemble

Larmes de Résurrection

Heinrich Schütz: Historia der Auferstehung Jesu Christi SWV 50, Johann Hermann Schein: Israelis Brünnlein. La Tempête, Simon-Pierre Bestion. Alpha 394 (Outhere Music/Note 1)

An sich begeht Bestion mit seinem prächtig virtuosen Ensemble La Tempête gleich mehrere Todsünden: Er kürzt (in Maßen), erweitert die original karge Instrumentation der »Auferstehungshistorie« von Schütz, und besetzt die Evangelistenpartie mit einem Sänger, der weder Deutsch kann noch die klassische abendländische Gesangskunst pflegt. Die Aufnahme aber erbringt den Beweis, dass man auch mit Todsünden in den Himmel kommen kann! Georges Abdallah, libanesischer Sänger der byzantinisch-ostkirchlichen Tradition, bringt mit seiner melismatisch angereicherten Psalmodie eine Aura im Sinne Walter Benjamins in Anklang: »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«. Mit kommoder Weltmusik hat diese Archäologie der gemeinsamen Wurzeln west-östlichen Sakralgesangs so wenig zu tun wie die opulente Instrumentation mit modischem Crossover: Sie bleibt im Rahmen des authentisch Möglichen, aufgeladen mit Glut und Ekstase eines inneren Seelendramas. Für die Jury: Martin Mezger

Klassisches Lied und Vokalrecital

Georg Friedrich Händel: Arien

Franco Fagioli, Il Pomo d’Oro, Zefira Valova. Deutsche Grammophon 479 7541 (Universal)

Dass das »gesamte klassische Fundament des virtuosen Gesangs in der westlichen Musik« auf der musikalischen Tradition der Kastraten und deren Gesangspraktiken beruht, hat Martha Feldman in ihrer Studie »The Castrato« dargelegt. Der argentinische Counter-Tenor Franco Fagioli bringt mit seinem neuen Händel-Album – einer Sammlung von lyrischen und virtuosen Kastraten-Arien – die grundlegenden Elemente dieses von den Kastraten geprägten Belcanto in Erinnerung: Schönheit des Tons (und Schönheit per se) sowie die organische Bindung von Phrasen (Legato) und Abstufungen der Dynamik (messa di voce), aber auch Agilität und eine ebenso stupende wie spontane Verzierungskunst, die es ihm ermöglicht, Ornamente organisch in die Linie einzuwirken. Für die Jury: Jürgen Kesting

Alte Musik

French Sonatas for Harpsichord and Violin

Werke von Jean-Joseph Cassanéa de Mondonville, Louis-Gabriel Guillemain, Claude Balbastre, Jacques Duphly, Michel Corrette, Luc Marchand und Charles-Francois Clément. Johannes Pramsohler, Philippe Grisvard. 2 CDs Audax Records ADX 13710 (harmonia mundi)

Als Jean-Joseph Cassanéa de Mondonville im Jahr 1740 seine Sonaten für Cembalo mit Begleitung einer Violine veröffentlichte, rief er ein Genre ins Leben, dass die französische Kammermusik in den nächsten Jahrzehnten prägen sollte. Philippe Grisvard und Johannes Pramsohler lassen die damalige Begeisterung für diese innovative Besetzung wieder unmittelbar erlebbar werden. Sonore Klangpracht verbinden sie virtuos mit ausgefeilter Artikulation und bieten so mit diesem Album, das auch etliche Werke von Mondonvilles Nachfolgern als Ersteinspielung präsentiert, einen faszinierenden Einblick in die Blütezeit dieses facettenreichen Genres. Für die Jury: Carsten Niemann

Zeitgenössische Musik

Xiaoyong Chen: Imaginative Reflections

Ensemble Les Amis Shanghai. Col legno WWE 1CD 20438 (harmonia mundi)

In erster Linie geht es in Xiaoyong Chens Musik um das Verklingen des Tons, um das Vergehen oder vielmehr das Verdunsten von realen wie auch künstlichen Klangwelten. Dabei klingen europäische Instrumente asiatisch, und es werden asiatische Instrumente in die europäische Kunstmusik integriert. Chen ist Ligeti-Schüler, er kam 1985 mit dreißig Jahren aus China nach Deutschland, heute lebt er als Kompositionsprofessor in Hamburg. Er sei – so beschreibt er sich selbst – ein »leidenschaftlicher Hörer«, und genau das ist seiner Musik anzumerken. Überwiegend langsam und leise, erfordert sie höchste Aufmerksamkeit und Konzentration. Das chinesische Ensemble Les Amis Shanghai zeigt sich als kongenialer Anwalt dieser feinstens nuancierten Kompositionen. Für die Jury: Marita Emigholz

Historische Aufnahmen

Richter In The 1940s

The Earliest Live Performances of Svjatoslav Richter. Werke von Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven, Robert Schumann, Fritz Kreisler, Sergej Rachmaninov und Franz Liszt. 2 CDs, Parnassus PACD 96059/60 (Note 1)

Sein Lehrer Heinrich Neuhaus hat ihn einmal beschrieben, wie folgt (in der Übersetzung von Olga Shartse): »Seine einzigartige Fähigkeit, das Ganze zu erfassen und gleichzeitig keine der kleinsten Details einer Komposition zu übersehen, lässt auf einen Vergleich mit einem Adler schließen, der von seiner großen Höhe bis zum Horizont sehen kann und dennoch das kleinste Detail der Landschaft herausfiltert … Ich werde weiterhin von Svjatoslav Richter lernen und ihn bis zu meinem Todestag bewundern!« Dem ist nichts hinzu zu fügen. Auf diesem Album kann man ihn als jungen Pianisten und seine unglaubliche Balance von Bauch, Kopf und Händen als Grenzsituation erleben kann. Für die Jury: Wolfgang Wendel

Grenzgänge

Laurie Anderson & Kronos Quartet: Landfall

Nonesuch 7559-79338-9 (Warner)

Es gibt ein großes Leitmotiv in Laurie Andersons spätem Œuvre: den Verlust. Wie trauert man richtig um verlorene Männer, Bücher, Hunde? Typisch indes für Andersons scharfen Witz, dass sie diesem neuen Weltabschiedswerk ein geradezu optimistisches Leitmotiv mit auf den Weg gibt, das gleich anfangs fröhlich eine Oktave hinaufspringt. »Landfall« ist eine Art Funkoper in dreißig kurzen Szenen, die davon berichten, wie Hurrican »Sandy« im Oktober 2012 Andersons Haus in Manhattan flutete. Das gemeinsam mit dem Kronos-Quartet produzierte Studiumalbum sprengt alle Genre-Grenzen: Mal sortieren die Streicher ihre klassischen Erinnerungen an mittleren Beethoven, immergrünen Glass; mal spielen die Elemente mit Wind, Wetter und Nachrichtenschnee; mal, meisterhaft lakonisch und spooky, die Elektronik. Und Andersons Schamanenstimme raunt, vom Glück des Gelebthabens. Für die Jury: Eleonore Büning

Filmmusik

Alexandre Desplat: The Shape of Water

Original Motion Picture Soundtrack. Renée Fleming, Madeleine Peyroux, Carmen Miranda, Caterina Valente, Silvio Francesco, Andy Williams, Glenn Miller & His Orchestra, London Symphony Orchestra, Alexandre Desplat. Decca 6712461 (Universal)

Eine Harfe, zwölf (!) Flöten, dazu menschliches Pfeifen und ein Akkordeon: Um den beiden stummen Hauptfiguren in Guillermo del Toros Film »Shape of Water – Das Flüstern des Wassers« eine eigene »Stimme« zu geben, verwendet Alexandre Desplat unorthodoxe Orchestrierungen. Auch das Milieu, in dem die Handlung spielt, erhält so sein akustisches Pendant, was die Wirkung der Bilder verstärkt. Der beschwingte Dreiertakt des musikalischen Hauptthemas mag Desplats frankophiler Herkunft geschuldet sein: Im filmischen Gesamtresultat bildet seine Musik bewusst den humanen Gegenpol zum kalten Spionagedrama. Großes (Hör-)Kino! Für die Jury: Matthias Keller

Musikfilm

In Rehearsal

Werke von Johann Sebastian Bach, Béla Bartók, Claude Debussy, Joseph Haydn, Sergej Prokofief und Richard Strauss. John Eliot Gardiner, Valéry Gergiev, Mariss Jansons, Zubin Mehta, Esa-Pekka Salonen, Christoph von Dohnányi. Blu-ray, EuroArts 2082334 (Warner)

Dieses eindrucksvolle Kompendium zeigt unterschiedliche Persönlichkeiten und Arten, mitzuteilen, was musikalisch wie realisiert werden soll. Gardiner arbeitet an Bach mit Gelehrtheit, Präzision und Begeisterung. Mehta gibt sehr detaillierte Erläuterungen, wie »Till Eulenspiegel« von Strauss komponiert ist. Wenn Dohnányi mit seinem Orchester an Haydns Symphonie Nr. 88 feilt, vermittelt er deren Geist und Gestus samt Überraschungsmomenten. Mariss Jansons probt Bartóks »Wunderbaren Mandarin« sachlich, Valery Gergiev Prokofjefs »Skythische Suite« ebenso, beide geben jeweils Hinweise über die Hintergründe der Werke. Esa-Pekka Salonen lässt Debussys »La Mer« weitgehend durchspielen, er korrigiert wenig. Eine Probe – das lehren diese Dokumentationen – verlangt handfeste, technisch-musikalische und intellektuelle Arbeit, und Dirigieren ist kein Mysterium, sondern im besten Fall Inspiration. Für die Jury: Helge Grünewald

Musikfilm

Chasing Trane

The John Coltrane Documentary. Regie: John Scheinfeld. DVD & Blu-ray, UMG 06025 5798683 (Universal)

Zu John Coltranes fünfzigstem Todesjahr holt Regisseur John Scheinfeld dessen einstige Weggefährten und heutige Jünger vor die Kamera, um der Persönlichkeit dieses großen Erneuerers nachzuspüren – darunter Jimmy Heath, Benny Golson, Sonny Rollins, McCoy Tyner, Carlos Santana, Ravi Coltrane, Wynton Marsalis, aber auch Angehörige sowie einen Ex-Präsidenten (Bill Clinton). Da von »Trane« keine O-Töne existieren, leiht Denzel Washington ihm seine Stimme. Unterlegt mit Musik aus allen Phasen von Coltranes Karriere bietet der Film eine Fülle von bislang kaum bekanntem Material – mehr über den Menschen als über den Musiker. »Tranes« Charisma kommt eindrucksvoll rüber, der Bonusteil grenzt zuweilen schon an Heiligenverehrung. Für die Jury: Berthold Klostermann

Jazz

Ron Halldorson: Happy Talk

Ron Halldorson RHHT2017 (Eigenvertrieb)

Für gewöhnlich sind Debütanten um die zwanzig. Ron Halldorson legt jetzt mit fünfundsiebzig das erste Album unter eigenem Namen vor, und man fragt sich, wie so ein Riesentalent so lange verborgen bleiben konnte. Ein Jahrzehnt lang hatte er mit dem Insider-Kult-Gitarristen Lennie Breau musiziert, der ihn überredete, auf Bass umzusteigen. Für »Happy Talk« suchte sich Halldorson nun selbst einen feinen Bassisten, Julian Bradford, aus. Und er zeigt, was für ein Weltklasse-Gitarrist in ihm steckt: ein Poet der Gitarre, der seine Meisterschaft auf eine sympathisch unprätentiöse Weise vorführt, ausgerechnet an Allerwelts-Standards, die er ganz ohne Effekthascherei mit überlegener Ruhe zum Swingen bringt. Jede Nuance wird ausgekostet, bei höchster Ökomomie der gestalterischen Mittel: ein differenzierter Anschlag, vollkommenes Timing, logischer Ideenfluss und ein sanft herausschwingenden Ton, bei dem einem warm um das Herz wird. Mit Shakespeare zu sprechen: Reife ist alles. Für die Jury: Marcus A. Woelfle

Jazz

David Murray feat. Saul Williams: blues for memo

Motéma MTM 256 (Rough Trade)

Die Zusammenarbeit des Saxophonisten David Murray mit dem Poeten und Rapper Saul Williams aktualisiert den streitbaren Geist eines Amiri Baraka, beschwört die afroamerikanische Tradition und schlägt einen Bogen vom Blues zu unmittelbarem, zeitgenössischem Ausdruck. Die Dramaturgie des Albums verknüpft eine Widmung an den türkischen Jazzpromoter Mehmet »Memo« Uluğ mit einer Hommage an den verstorbenen Jazzinnovator Butch Morris und dringlichen Themen wie Emanzipation, Wirtschaft und Rassendiskriminierung. Dabei wird das »Infinity Quartet« Murrays durch Gäste erweitert: den Posaunisten Craig Harris, den Pianisten Jason Moran und den Vokalisten Pervis Evans. Fern von platter Programmmusik entfalten die improvisierenden Musiker ein vieldimensionales Stimmengeflecht, in das Saul Williams seine Spoken Poetry fließend einzufügen weiß. Für die Jury: Bert Noglik

Dieser Titel gewann sowohl in der Jury Jazz II als auch in der Jury R&B, Soul, HipHop.

Weltmusik

Monsieur Doumani: Angathin

Monsieur Doumani MD0003 (Eigenverlag)

ngathin heisst übersetzt »Dorn«. Denn das Trio Monsieur Domani aus Nikosia versteht sich als ein musikalischer Dorn im politischen Alltag Zyperns. Die Texte von Antonis Antoniou werden in Poesie und Witz eingewickelt, verlieren aber nie ihre Agitationskraft. Die Lieblingsthemen der Songs – der populistische Nationalismus, die politisch getrennte Heimatinsel oder die Umweltzerstörung – werden vorgetragen mit der Energie einer Rockband, obwohl das Instrumentarium mit Tsoura (eine Art Bouzouki, gespielt von Antoniou), Gitarre (Angelos Ionas) und Posaune bzw. Flöte (Demetris Yiasenidas) so gar nicht dem Rock-Klischee entspricht. Ist auch in diesem Bereich alles eine Frage der Haltung. Für die Jury: Jodok W. Kobelt

Traditionelle Ethnische Musik

Efrén López, Stelios Petrakis, Bijan Chemirani: Taos

Buda Musique 860300 (Membran)

Auf »Taos« weben drei akustische Könner ein imaginäres Klangreich von der spanischen Costa de Azahar über Griechenland bis nach Persien: Multiinstrumentalist Efrén López aus Valencia, der kretische Streichlauten-Virtuose Stelios Petrakis und Irans Meisterperkussionist Bijan Chemirani bündeln Inspirationen aus dem gesamten Mittelmeerraum und Nahen Osten zu einer ebenso feurigen wie fragilen Tonsprache. Höfisch schreitende Eleganz und der Rausch des Veitstanzes, die packenden Rhythmen der persischen Trommeln und die Feingliedrigkeit von Ney-Flöte, Drehleier, Lauten und Lyra verbinden sich zu einer Dramaturgie, die im Verweis auf die Mythen von Argus und Odysseus gipfelt. Zeitlose Kunst, die dennoch aus der Tiefe der Zeit schöpft. Für die Jury: Stefan Franzen

Liedermacher

Bastian Bandt: Alle Monde

Raumer Records RR 20717 (Peter Talmann Musikverlag)

Es gehört Selbstbewusstsein dazu, wenn Bastian Bandt sagt: »Ich mache die Lieder, die ich selber hören will und die mir fehlen.« Der ostdeutsche Liedermacher, inzwischen vierzig, lebt in der Uckermark im Nordosten Brandenburgs und unter anderem darüber singt er auch. Es gibt regelrechte Ohrwürmer auf seiner fünften CD, etwa »Und der Himmel«, in teils wunderbarem Berliner Dialekt, aber auch sehr poetische Songs. Dass Bandt musikalisch geprägt wurde von Gerhard »Gundi« Gundermann, hört man, wenn er mit reizvoller Stimme seine Lieder interpretiert – und das ist auch gut so. Neben seinen Songs schreibt er Theatermusiken für Häuser wie das Deutsche Theater in (Ost-) Berlin oder das Theater Trier. Für die Jury: Petra Schwarz

Folk und Singer/Songwriter

The Fugitives: The Promise Of Strangers

Westpark Music WP 87366

Eines ist sie ganz sicher nicht, die Musik der kanadischen Band The Fugitives: flüchtig. Sie wirkt, im Gegenteil, handfest, effektvoll, und manche der elf Songs könnten sicher ein ganzes Stadion zum Mitsingen bringen. Eingängige Melodien und kleinteilige Wiederholungen schaffen ein Gefühl der Vertrautheit, feine Arrangements mit sparsam verwendeten Instrumenten über dem von Gitarre und Piano gewobenem Fundament sorgen für vielgestaltige Abwechslung. Der Kern der Fugitives aus Vancouver besteht aus den beiden Songschreibern Adrian Glynn und Brendan McLeod. Auf Tourneen gehören in jedem Fall Violine und Banjo zum line-up, zur Produktion des fünften Albums kam ein gutes Dutzend Musiker ins Studio – plus einem kompletten Gospelchor, für den ersten Song. Für die Jury: Imke Turner

Pop

Tocotronic: Die Unendlichkeit

Vertigo/Capitol 0602567131113 (Universal)

Bei diesem Album von Tocotronic handelt es sich um einen zum Klingen gebrachten Band mit Kurzgeschichten. Jeder der sechzehn Songs kann verstanden werden als ein Kapitel in der Lebenserzählung eines Mittvierzigers. Das beginnt mit dem Ausbruch aus der Schwarzwaldhölle und erstreckt sich über die Ankunft in der großen Stadt bis hinein in die Gegenwart, wenn der Sprecher über das Gewesene und das Kommende nachdenkt. »Die Unendlichkeit« ist aber auch Gitarrenpop zwischen Feedback und Feinsinn, eine lyrische, unsentimentale Teenage Symphony, die berührt und sich stark abhebt vom deutschen Pop-Mainstream. Für die Jury: Philipp Holstein

Rock

Brandi Carlile: By The Way, I Forgive You

Elektra Records 7567-86591-8 (Warner)

Sie bewegt sich zwischen Songwriterkultur und Arenenrock, zwischen von Anliegen getriebenen Songs und der Identität als Bandleaderin – und alles zusammen ergibt die zurzeit stärkste Musik in der Tradition von Alanis Morissette, Lucinda Williams oder KT Tunstall. Die umfangreiche, oft mit leisem Vibrato versehene Stimme von Brandi Carlile steht im Mittelpunkt auch auf ihrem sechsten Album, das, höchst emotional, ihrer noch frischen Mutterschaft gewidmet ist. Der akustische Song »The Mother« widmet diesem Umstand die Reflektion einer erwachsenen, selbstbestimmten Frau, deren Ego sich gleichwohl unbeschadet der Fürsorge hingibt. »Hold Out Your Hand« steht für den hymnisch folkrockigen Aspekt ihrer Musik, während »Sugartooth« eine berührende Parteinahme für alle Ausgestoßenen ist, die ihrem Kummer mit zu viel Zucker begegnen. Produziert u.a. von David Cobb, ist Brandi Carlile mit »By The Way, I Forgive You« ein Album gelungen, das Maßstäbe setzt. Für die Jury: Christine Heise

Club und Dance

Hieroglyphic Being: The Red Notes

Soul Jazz Records SJRCD394 (Indigo)

Vor dem Hintergrund der Clubmusik-Geschichte Chicagos hat Jamal Moss alias Hieroglyphic Being mit »The Red Notes« ein Album aufgenommen, das einen weiten Bogen spannt. Er reicht von der Suche nach einer spirituellen Mitte in Zeiten des politischen Umbruchs, wie sie den Jazz etwa John Coltranes in den Sechzigern geprägt hatte bis zu den Welten des Afrofuturismus, die seit den Neunzigern ästhetische Modelle nicht zuletzt für die Musik des schwarzen Amerika liefern. Moss hat das Album im Alleingang produziert. Dennoch wähnt man sich in einer Jam-Session, bei der Drumcomputer, Synthesizer und herkömmliche Keyboards improvisatorisch verdichtet Kompositionen zum Leben erwecken, die den Geist kosmischer Jazz-Ausflüge eingeatmet haben. »The Red Notes« zeigt, wie evolutionsfähig Acid, House und Techno sein können, vorausgesetzt, jemand hat, wie Moss, das künstlerische Potential dazu. Für die Jury: Christian Tjaben

Electronic und Experimental

1954: A Part Of Me

LP, Project Mooncircle PMC 165

Schleppende, kunstvoll konstruierte Beats, dröhnende Basslinien, dazu gepitchte und zerhackte Vocal-Snippets: Beim ersten Hören würde man in 1954 einen Protagonisten der UK-Dubstep-Szene vermuten, der irgendwo in einem unwirtlichen Suburb seine Tracks zusammenschraubt. Doch melancholisch anmutende Harmonien und gekonnt eingestreute akustische Instrumente bringen warme Emotionalität in die Musik. Der junge Produzent Ivan Arlaud stammt aus Lyon. Mit »A Part Of Me«ist ihm ein in sich stimmiges Debüt gelungen, das mit einigen Überraschungen aufwartet. Der einzige Track mit eher herkömmlichen Vocals, »Blue Boy« (feat. Loup Na) zeigt fast Pop-Appeal, und mit »We Used To Smoke« (feat. Mt) wird 1954 beinahe housig – aber mit ganz eigener Note. Für die Jury: Guido Halfmann

Blues

Beth Hart & Joe Bonamassa: Black Coffee

Mascot PRD 75442 (Rough Trade)

Dass Joe Bonamassa für Bluesrock aller denkbaren Härtegrade steht, ist bekannt. Dieses Album macht da auch keine Ausnahme. Allerdings teilt sich die wie immer virtuos gespielte Gitarre diesmal die Bühne mit Beth Hart, deren Stimme praktisch alles in Blues transformieren kann – sei es Soul/Funk, kerniger Rock, »authentischer« Blues oder ein Jazz-Standard. Das Repertoire der zehn Songs setzt ausschließlich auf Coverversionen mehr oder weniger bekannter Vorlagen aus diesen Genres und verdichtet es mit expressivem Gesang, abwechslungsreicher Gitarrenarbeit und nicht zuletzt hervorragendem Bläsersatz zu einem intensiven Hörerlebnis. Für die Jury: Christian Pfarr

Wortkunst

Conrad Ferdinand Meyer: Die Gedichte

Frank Arnold, Christian Brückner, Martina Gedeck, Ulrike Hübschmann, Stefan Kaminski, Burghart Klaußner, Dörte Lyssewski, Dagmar Manzel, Paul Matić, Peter Matić, Ulrich Matthes, Birgit Minichmayr, Thomas Sarbacher, Viola Sauer, Joachim Schönfeld, Schulz-Berlinghoff, Martin Seifert, Gerd Wameling. Sinus Sin1025 ISBN 978-3-9057-2175-1 (Sinus Verlag)

In diesem Hörbuch – letzte Lieferung einer zwölfteiligen Edition des Gesamtwerks des großen Schweizer Autors Conrad Ferdinand Meyer – verbinden sich Akustisches und Literarisches auf überzeugende Weise. Interpretiert von vielen großen Stimmen der Sprechkunst in teils dialogischer Rollenverteilung begegnet der Hörer dem Reichtum eines lyrischen Œuvres, das, von wenigen Ausnahmen abgesehen (wie der Ballade »Die Füße im Feuer«, aufgenommen in den »Kanon« des Kritikers Marcel Reich-Ranicki) heute weithin unbekannt ist. In zwei zusammen annähernd 600 Seiten umfassenden Booklets mag er die Struktur der Gedichte ergründen, sie selber lesen und seine eigene Interpretation finden. Kommentare von Albert Bollinger und ein Essay von Robert Nef ergänzen die Ausgabe. Kurzum: ein Hör- und Leseerlebnis zugleich, ediert par excellence. Für die Jury: Wolfgang Schiffer

Kinder- und Jugendaufnahmen

Judith Burger: Gertrude grenzenlos

Natalia Belitski. Sauerländer Audio ISBN 978-3-8398-4911-8 (Argon Verlag)

Wer, bitteschön, heißt denn schon Gertrude? So einiges ist anders an dieser neuen Mitschülerin, nicht nur ihr Name: Sie trägt Westklamotten, geht nicht zu den Pionieren, dafür in die Kirche, ihr Vater gilt als staatsfeindlicher Dichter und obendrein hat ihre Familie einen Ausreiseantrag gestellt. Mit so einer gibt man sich besser nicht ab! Und doch Ina ist fasziniert von Gertrude, sie setzt sich beherzt und über alle Grenzen hinweg für ihre Freundin ein. Eindrucksvoll erzählt Judith Burger aus dem Alltag eines Landes, in dem Überwachung und Denunziation das Leben auch der Kinder beeinflussten. Natalia Belitski liest diese bewegende Geschichte über Zivilcourage, die auch viele aktuelle Bezüge zulässt, mit wunderbar ruhiger, sehr junger Stimme, voller Empathie. Mit ausführlichem Glossar im Booklet. Für die Jury: Juliane Spatz

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