Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

NEU: Longlist 2/2024, veröffentlicht am 5. April 2024

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Gustav Mahler: Symphonie Nr. 1 (»Titan«)

Hamburger Fassung von 1893. NDR Sinfonieorchester, Thomas Hengelbrock. Sony 888 430 505 42

Nicht nur die Wahl der vorwärtsstürmenden Hamburger Fassung macht diese Einspielung von Gustav Mahlers erster Symphonie zu einem Erlebnis. Thomas Hengelbrock gelingt es mit beeindruckender Tiefenschärfe, aus der noch mit fünf Sätzen versehenen und als »Titan. Eine Tondichtung in Symphonieform« bezeich­neten Partitur eine tatsächlich ungehörte Welt erstehen zu lassen. Bereits die eröffnen­den Naturlaute erscheinen dem musikalischen Verlauf enthoben, wie ohnehin der gestische, vielfach narrative Charakter der Musik ganz im Vordergrund dieser dramaturgisch bemerkenswert klar strukturierten, vollkommen unprätentiösen Interpretation steht. Und das NDR Sinfonieorchester aus Hamburg läuft unter Hengelbrock zu Höchstform auf. Für die Jury: Michael Kube

Orchestermusik und Konzerte

Franz Xaver Scharwenka: Die Klavierkonzerte

Alexander Markovich, Estonian National Symphony Orchestra, Neeme Järvi. 2 CDs, Chandos CHAN 10814 (Note 1)

Dieses Doppelalbum präsentiert erstmals alle vier Klavierkonzerte des deutsch-polnischen Komponisten, Pianisten und Pädagogen Franz Xaver Scharwenka. Er hat kräftezehrende, massive Soloparts komponiert, die von dem russischen Pianisten Alexander Markovich mit selbstverständlicher Virtuosität und viriler Pranke bewältigt werden. Und auch bei den diffizilsten Oktavgängen, Trillern, Akkordballungen und Läufen leistet er immer noch dynamische Feinarbeit. Altmeister Järvi, ihm zur Seite, ist ein unermüdlicher Repertoire-Erkundler. Er balanciert den spätromantischen Orchesterpart feinfühlig, wo es sein muss, aber auch brausend und klangschwelgerisch mit dem Solopart aus – so viel intensive Sorgfalt ist selten zu erleben bei einem weniger bekannten Programm. Dies adäquat zu Gehör zu bringen, ist auch das Verdienst des Tonmeisters und Produzenten Maido Maadik. Ein starkes Plädoyer für eine kleine Scharwenka-Renaissance. Für die Jury: Lothar Brandt

Kammermusik

Joseph Haydn: Die sieben letzten Worte

unseres Erlösers am Kreuze Hob.XX:02. Cuarteto Casals. harmonia mundi HMC 902162

Rund vierzig verschiedene Aufnahmen dieses Werkes stehen bereits im Katalog. Doch selten ist die Sprachfähigkeit der Musik so überzeugend demonstriert worden wie hier vom Cuarteto Casals. In einem unsentimentalen Trauergestus, ungemein konzentriert und nach innen gerichtet, werden die »Sieben Worte« von den vier Streichern ausformuliert und zu einem Gesamtbild vernetzt, eingerahmt von der klangintensiven Introduzione und dem energiegeladenen Terremoto. Jede einzelne Stimme, in allen Details und in einem der Wirklichkeit fast enthobenen Ton durchartikuliert, ordnet sich ideal dem Gesamtverbund des Streichquartetts unter: eine meisterliche Leistung. Für die Jury: Ingeborg Allihn

Tasteninstrumente

Schubert – The Koroliov Series Vol. XV

Franz Schubert: Klaviersonaten G-Dur D 894 und A-Dur D 959. Evgeni Koroliov. Tacet 979 (Musikvertrieb Johannes Gebhardt)

Koroliovs Schubert-Interpretationen in dieser fünfzehnten Folge der ihm gewidmeten Tacet-Serie zwingen geradezu, einen genaueren Blick auf das als »Fantasie-Sonate« publizierte Wunderwerk in G-Dur (D 894) zu werfen. In befriedigender Einsamkeit scheint der Pianist seine Bahn zu ziehen, sobald er zu vertretbaren Resultaten gekommen ist, und gibt sich doch emotional zu erkennen im Einklang mit dem von ihm erarbeiteten Gang der musikalischen Dinge – ohne sich je in den künstlerischen »Wahlkampf« zu begeben, indem er mit diesem und jenem pianistischen Kunststück um Anerkennung bettelt. Koroliovs Wirken sollte nicht nur seinem Stammpublikum von Gewinn sein, sondern all jenen Musikfreunden, die sich intensiver mit den Klavierkompositionen Schuberts beschäftigen und sich im vergleichenden Hören immer wieder bereichert wissen. Für die Jury: Peter Cossé

Tasteninstrumente

Ferdinando Richardson: Sämtliche Werke für Cembalo

Glen Wilson. Naxos 8.572997

Er war »Kammerherr« der Königin. Doch hinter diesem Titel verbarg sich kein einfacher Diener. Vielmehr saß Ferdinando Richardson an einer Schaltstelle des englischen Hofs, ganz nahe bei Elizabeth I. und später James I., der ihm wahrscheinlich die Zusammenstellung des berühmten »Fitzwilliam Virginal Book« anvertraute. Richardson war für diese anspruchsvolle Aufgabe prädestiniert, komponierte er doch selbst Musik auf höchstem Niveau. Nur Weniges davon ist überliefert. Die Pavanen, Galliarden und Variationen, die wir heute von ihm haben, weisen ihn aus als herausragenden Tastenvirtuosen. Wenn Richardsons musikalisches Erbe jetzt in Kombination mit Raritäten seiner Zeitgenossen wiederbelebt wird, ist der Cembalist Glen Wilson der ideale Interpret, um diese Hörreise in die Welt der Virginalisten als farbenreiches Erlebnis zu gestalten. Für die Jury: Sabine Fallenstein

Oper

Georg Friedrich Händel: Orlando

Bejun Mehta, Sophie Karthäuser, Kristina Hammarström u.a. B’Rock Orchestra, René Jacobs. 2 CDs, Archiv Produktion 4792199 (Universal)

Mit Händels »Orlando« ist René Jacobs erneut eine bis ins kleinste Detail ausgefeilte und höchst lebendige Operneinspielung gelungen. Wieder einmal erweist sich der belgische Alte-Musik-Meister als ein Klangmagier, der, diesmal mit dem jungen belgischen B’Rock Orchestra aus Gent, Theater mit rein musikalischen Mitteln spielt. Das ist Kino für die Ohren. Das erstklassige Sängerensemble wird angeführt von dem fantastischen Bejun Mehta in der Titelrolle. Hinzu treten, unter anderen, die zauberische Sophie Karthäuser sowie Sunhae Im, die mittlerweile zur Jacobs-Standardbesetzung gehört – glücklicherweise. Für die Jury: Bjørn Woll

Oper

Richard Strauss: Elektra

Evelyn Herlitzius, Adrianne Pieczonka, Waltraud Meier, Mikhail Petrenko, Orchestre de Paris, Esa-Pekka Salonen, Patrice Chéreau. DVD / Blu-ray, BelAir Classiques BAC 110 / BAC 410 (harmonia mundi)

»Dramatische Fallhöhe scheint für das Gros heutiger Regisseure ein Fremdwort zu sein. Gleichsam als Lebensabschieds-Inszenierung hat Patrice Chéreau in Richard Peduzzis kongenialer Szenerie der „Elektra« hinterlassen, was der Sturz exemplarisch großer Figuren sein kann – als ein musiktheatralisch überwältigendes Gegenbeispiel zu allen postdramatischen »Errungenschaften«. Ein perfekt rollendeckendes Ensemble von Sänger-Darstellern setzt unter Esa-Pekka Salonens Leitung Maßstäbe über das Richard-Strauss-Jubiläumsjahr hinaus. Für die Jury: Wolf-Dieter Peter

Chor und Vokalensemble

America

Chorwerke von Aaron Copland, Steve Reich, John Cage, Morton Feldman, Leonard Bernstein, Samuel Barber. SWR Vokalensemble Stuttgart, Marcus Creed. Hänssler Classic 93.306 (Naxos)

Diese CD überzeugt durch die Auswahl wenig bekannter US-amerikanischer Chorwerke des zwanzigsten Jahrhunderts wie auch durch die hohe Qualität der Darbietung. Das Repertoire reicht von Werken, die sich auf die Vokalpolyphonie des Mittelalters und der Renaissance rückbeziehen, etwa Steve Reichs »Proverb« oder Aaron Coplands »4 Motets«, bis hin zu improvisatorischen Elementen und Zufallsoperationen in John Cages »Five« oder zu schmissigem Musical-Ton, etwa in Leonard Bernsteins »Missa Brevis«. Dazwischen liegt das nachimpressionistisch gehaltene, flächige Schweben von Morton Feldmans »Rothko Chapel«. Unter Creeds Leitung beweist das SWR Vokalensemble auf beeindruckende Weise, welcher Vielfalt von Farben und Stilen es mittlerweile gerecht werden kann. Für die Jury: Susanne Benda

Klassisches Lied und Vokalrecital

Heimliche Aufforderung

Richard Strauss: Lieder. Christiane Karg, Malcolm Martineau, Felix Klieser. Berlin Classics 0300566 BC (Edel)

Durchaus nicht alle Neuheiten, die bislang zur Feier des 150. Geburtstages von Richard Strauss herauskamen, können im Vergleich mit den aus gleichem Anlass recycelten älteren Aufnahmen bestehen. Das steigert noch einmal den Wert dieses bezaubernden Liederalbums der Sopranistin Christiane Karg, die mit ihrer blitzgescheiten Gestaltungskunst den Strauss’schen Miniaturen in jeder Nuance gerecht wird, abgetönt mit lyrischen wie auch dramatischen Farben. Die Auswahl reicht von bekannten Wunschkonzerthits (»Allerseelen«) bis hin zu Raritäten, etwa dem selten gespielten Frühwerk »Alphorn«, wobei der junge Hornist Felix Klieser dem kongenialen Klavierbegleiter Martineau zur Seite steht. Für die Jury: Christian Kröber

Alte Musik

Die Schätze des Claude Le Jeune

Claude Le Jeune. Huelgas Ensemble, Paul van Nevel. Deutsche Harmonia Mundi DHM 88843022442 (Sony)

Paul van Nevel, ebenso umtriebig wie findig als Entdecker vergessener Musik, setzt sich diesmal für einen der meistunterschätzten Komponisten der Renaissance ein. Claude Le Jeune war Hugenotte, er fand im Zeitalter der Religionskriege nicht die Resonanz, die er verdient hätte. Aber die Motetten und Madrigale aus dem 1585 erschienenen »Livre des melanges« zeigen, dass Le Jeune seinem ungleich bekannteren Landsmann Orlando di Lasso an Talent nicht nachstand. Das Huelgas Ensemble beweist unter van Nevels Leitung ein fabelhaftes Gespür für den Abwechslungsreichtum dieser Musik – von den klanglich opulenten Motetten über die erotischen Madrigale mit ihrer lasziven Chromatik bis hin zu den ausgelassen frechen Villanellen. Eine rundum beglückende Aufnahme. Für die Jury: Uwe Schweikert

Zeitgenössische Musik

Liebeslieder – ensemble recherche

Dem ensemble recherche gewidmet u.a. von Hans Abrahamsen, Carola Bauckholt, Chaya Czernowin, Lucia Ronchetti, Johannes Maria Staud, Jörg Widmann. 2 CDs, Wergo WER 6792 2 (New Arts International)

Mit dem Doppelalbum »Liebeslieder« tritt das ensemble recherche, gegründet vor einem Vierteljahrhundert, mit höchstprofessioneller Musikalität den Beweis an, dass es heute auch in der neuen Musik um große Gefühle gehen kann. Fünf Komponistinnen und fünfundzwanzig Komponisten haben dem Ensemble zu seinem Jubiläum neue Liebeslieder komponiert, in denen freilich nicht »gesungen« wird und die in verblüffender Unterschiedlichkeit Zeugnis davon ablegen, dass jeder musikalische Kosmos, und sei er noch so klein, ein sehr eigener ist – wie eben auch jede Liebe anders ist. Für die Jury: Marita Emigholz

Historische Aufnahmen

The Griller Quartet play Haydn

Joseph Haydn: Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze Hob.XX:02. Griller Quartet. Dutton CDBP 9739 (harmonia mundi)

Bei der Uraufführung dieser Haydn’schen Passionsmusik in der Cadiz-Kathedrale im Jahr 1785 wurden die sieben Sätze als Intermezzi eingefügt in die Rede des Bischofs. Obwohl das Werk also ursprünglich nur eine dienende Funktion hatte, war es sofort erfolgreich und wurde so populär, dass der Komponist, zur weiteren Verbreitung, diverse Bearbeitungen anfertigte, unter anderem eine für Streichquartett, die heute zum vielgespielten Kernrepertoire gehört. Das britische Griller Quartet mit Primarius Sidney Griller hat 1946 eine besonders stringente, leicht aufgeraute Interpretation vorgelegt, die den dramatisch drängenden Impetus der Musik sinnfällig und plastisch zur Geltung kommen lässt. Für die Jury: Christoph Zimmermann

Grenzgänge

Paul Brody’s Sadawi: Hinter allen Worten

Enja yellowbird yeb 7737 (Soulfood)

Dem Trompeter, Bandleader und Komponisten Paul Brody ist mit diesem Album ein großer Wurf gelungen. »Hinter allen Worten« bezieht sich auf Gedichte von Rose Ausländer, darin Flucht, Vertreibung und Heimatlosigkeit thematisiert wird, hier vorgetragen von Stimmen unterschiedlicher und starker Charakteristik, von Clueso, Jelena Kuljic und Meret Becker. Die Rezitationen werden von Brody in musikalisch vielschichtige Klangbilder integriert, die er mit seiner Band Sadawi entwirft. So finden Sprache und Musik zueinander und weisen zugleich über sich hinaus – in Trauer, Melancholie und einer dem Leben zugewandten Heiterkeit. Für die Jury: Bert Noglik

Musikfilm

Paths Through The Labyrinth

Der Komponist Krzysztof Penderecki. Ein Film von Anna Schmidt. DVD / Blu-ray, C Major 715408 / 715504 (Naxos)

Krzysztof Penderecki strahlt auch mit achtzig Jahren große Vitalität und Unternehmungs­lust aus. Anna Schmidts subtiles Porträt gibt Einblick in seine Arbeitsweise und sein Denken, zeigt biographische Sprünge, Brüche und Widersprüche auf, erzählt von seiner Neigung zur Einsamkeit, von seiner Naturverbundenheit. Das Labyrinth im großen botanischen Garten, den Penderecki rund um sein Landhaus angelegt hat, kann als Symbol für den ungewöhnlichen künstlerischen Weg dieses Komponisten aufgefasst werden: vom radikalen Neutöner, der im Protest gegen das herrschende System seine eigene Avantgarde war, zu einem Tonsetzer, der sich wieder zur Melodie bekennt und längst ein Klassiker der Moderne geworden ist. Für die Jury: Helge Grünewald

Jazz

Sonny Rollins: Road Shows Vol. 3

Okeh 888 430 499 82 (Sony)

Robust und energiegeladen wie in seinen besten Jahren spielt Sonny Rollins, zum Zeitpunkt dieser Aufnahmen zwischen 71 und 81 Jahre alt, mit kernigem Ton weit ausholende Improvisationsbögen. Keine Angst hat er vor den teils banalen Stücken, auch keine Angst, mit den Erwartungen seiner begeisterten Zuhörer Katz und Maus zu spielen. Der Senior des Tenorsaxophons hat für sein drittes Album dieser Serie sechs Mitschnitte aus Japan, Frankreich und den USA vom letzten Jahrzehnt ausgewählt, und seine bekannt hohe Selbstkritik hat natürlich verhindert, dass Zweitklassiges verwertet wurde. Für die Jury: Herbert Lindenberger

Jazz

Ingrid Laubrock Octet: Zürich Concert

SWR New Jazz Meeting. Intakt 221-2014 (harmonia mundi)

Die deutsche Saxophonistin und Komponistin Ingrid Laubrock zog nach dem Abitur 1989 nach London und 2008 nach York. So genoss sie eine kosmopolitische Schulung besonderer Art – ihre Musik ist eine sensible, bruchlose Vereinigung von komponierten und improvisierten Passagen. Hier hört man den Mitschnitt eines Konzerts in Zürich: Das Oktet mit Musikern aus London und New York – darunter die Gitarristin Mary Halvorson, die für die New Yorker Downtown-Szene steht – entfaltet höchste technische Könnerschaft und paart unberechenbare Phantasien mit feinen Stimmungen zwischen poetischer Ruhe und Bewegungslust. Das Klangspektrum mit Trompete, Cello, Akkordeon, Xylophon, Bass, Schlagzeug, Elektronik und Laubrocks Saxophonen schwebt zwischen Traum und Erinnerung. Für die Jury: Ulrich Olshausen

Weltmusik

Susheela Raman: Queen Between

World Village WVF 479093 (harmonia mundi)

Allein ihre Stimme – reich, reif, enorm elastisch, stets präzise und phänomenal sinnlich – hätte Susheela Raman zu einem Weltmusikstar machen können. Dass die Frau bildschön ist, hätte der Sache keinen Abbruch getan. Aber die Australo-Britin mit südindischem Hintergrund ist zu sperrig für ein Starleben. Seit Beginn ihrer Karriere 1997 steht jedes ihrer bislang sechs Alben für neue Wege. Mit ihrem Gitarristen, Produzenten und Lebenspartner Sam Mills spielte sie zum Beispiel in Island ein Album mit Rockklassikern auf ihre Art ein (»33 1/3«). Seit 2005 erforscht sie die indische Musik. »Queen Between« zeigt Susheela Raman mit nordindischen und pakistanischen Qawwali-Musikern, die hier ausgiebig zu hören sind. Die Dramatik der Sufi-Mystiker dreht die Musik immer wieder ins Psychedelische, Ramans Stimme nimmt auch diese Hürde spielend – und setzt mit englischsprachigen Texten einen spannenden Kontrapunkt. Für die Jury: Marianne Berna

Traditionelle Ethnische Musik

Mohammad Motamedi: Klassischer persischer Gesang

Ocora Radio France OCR 560257 (harmonia mundi)

Wohl niemand hätte nach der Islamischen Revolution 1979 auf eine große Zukunft der traditionellen Musik des Iran gesetzt. Doch weit gefehlt. Die fünf Musiker dieser in Teheran aufgezeichneten Einspielung um den Sänger Mohammad Motamedi sind Ende der siebziger Jahre geboren und repräsentieren heute den glänzenden Stand dieser einzigartigen Kunst, die im Westen seit je ein erstaunliches Echo fand. Ein Welterbe des gesungenen Wortes und rein melodischer Improvisation wird hier bewahrt – Dokument der weitsichtigen Arbeit von Radio France. Für die Jury: Jan Reichow

Liedermacher

Kalüün: Spöören

Eigenverlag (www.kaluun.de)

Die Folkgruppe Kalüün stammt von der Nordseeinsel Föhr und dem nordfriesischen Festland. Mit Gastmusikern begibt sich das junge Trio auf die Suche nach musikalischen Spuren (Spöören) längst vergangener Zeiten – nach alten, fast vergessenen Liedern, Tanzstücken und Balladen, die Aufschluss über das Denken, Handeln und Fühlen früherer Generationen auf der Insel Föhr geben können. In friesischer Sprache, instrumentiert mit Gitarre, Violine, Mandoline, Cello oder Bouzouki, präsentieren die Musiker ihre Funde voller Energie, unverbrauchter Frische und offensichtlicher Freude am eigenen Tun. Für die Jury: Kai Engelke

Folk und Singer/Songwriter

Looking Into You

Diverse – A Tribute To Jackson Browne. Music Road Records MRR CD 018 (Rough Trade)

»Tribute«-CDs sind eine zwiespältige Angelegenheit. Bei solchen Projekten werden populäre Songs ebensolcher Künstler von Kollegen neu interpretiert, und so etwas fällt im Vergleich zum Original meist nicht so recht auf, sondern eher ab. Es gibt jedoch Ausnahmen, und dieses Doppel-Album ist eine. Der US-Singer/Songwriter Jackson Browne wird hier von erfahrenen und versierten Interpreten wie dem »Boss« Bruce Springsteen (mit Gattin Patti Scialfa), Don Henley, Lucinda Williams, den Indigo Girls oder Lyle Lovett kongenial gefeiert. Die Lieder gewinnen einen ganz eigenen interpretatorischen Charme, ja, eigenes Leben. Mission geglückt. Für die Jury: Mike Kamp

Pop

The Black Keys: Turn Blue

Nonesuch 7559795554 (Warner)

Seit Jahren liefern Dan Auerbach und Patrick Carney als The Black Keys heftigen, eindringlichen und erfolgreichen Garagen-Bluesrock ab. Auf dem achten Studioalbum »Turn Blue« erweitern sie mit Hilfe ihres Produzenten Danger Mouse das Soundspektrum, es geht nun melancholischer und psychedelischer zu. Dabei erweisen sich die beiden als Meister der Kombination: Großartige Bassläufe treffen auf knackige Gitarrenriffs, Melodielinien und Refrains greifen mühelos und fesselnd ineinander. Man kann darüber streiten, ob »Turn Blue« das bisher beste Album der Black Keys ist. Ihr vielschichtigstes und ambitioniertestes ist es auf jeden Fall. Für die Jury: Martin Böttcher

Independent (bis 2014)

Eno & Hyde: Someday World

Warp WARP CD249X (Rough Trade)

Für ihre erste gemeinsame Produktion haben Karl Hyde (Elektronik-Ikone der neunziger und nuller Jahre) sowie Brian Eno (Elektronik-Ikone für die Ewigkeit) eine Klangsprache entworfen, die den Background der beiden als Wegbereiter von Ambient, Techno und Synthie Music mit lupenreinem Gegenwartspop verknüpft. Zugleich erweisen Eno & Hyde in mal geometrisch präzisen, mal quirlig temperamentvollen Tracks solchen Brüdern im Geiste wie Can oder Talking Heads Reverenz. Ein elegant formuliertes Statement zweier digitaler Pop-Avantgardisten, für die Anspruch und Gefälligkeit keine Gegensätze sind. Für die Jury: Christof Hammer

Nu & Extreme (bis 2014)

Fatima Al Qadiri: Asiatisch

Hyperdub 00070290 (Cargo)

Die globalisierte Linguistin Fatima Al Qadiri aus Kuwait jongliert auf diesem Album mit Hörsignalen, von denen nicht recht klar ist, ob sie einen Ursprung im realen Asien haben oder ob es sich um kulturindustrielle Projektionen handelt – aus Hollywood, Silicon Valley, Washington. Wo Martin Denny und andere Exotica-Künstler in den fünfziger und sechziger Jahren das mit dem Wohlstand gewachsene und als Ferienreise einlösbare Fernweh vieler Amerikaner mit Pastiches entlegener Musikkulturen orchestrierten, kommt Al Qadiris Asiatica-Soundmüll, den sie mutmaßlich aus Second-Hand-Quellen wie Shooter-Games oder alten Horrorfilmen gewinnt, als Alarmsignal der gelben Gefahr daher, die im Inneren wie im Äußeren droht: aufsteigende Weltmacht China und Invasion der aufstiegswilligen Asian Americans. Asiatisches geistert durch diese Tracks, als Spuk, als Heimsuchung. Ein faszinierendes Sound-Puzzle. Für die Jury: Klaus Walter

Blues

Thorbjørn Risager & The Black Tornado: Too Many Roads

Ruf Records Ruf 1200 (in-akustik)

Mit »The Black Tornado«, seiner mit Bläsern gespickten Band im Rücken, und mit einem Dutzend bemerkenswerter Songs im Gepäck nimmt sich Thorbjørn Risager der Aufgabe an, bodenständigen Rhythm’n’Blues, Roots-Blues und emotionsgetränkten Soul im Angedenken an die Altvorderen zu spielen und trotzdem topmodern zu klingen. Das versuchen viele, aber nur ganz wenigen gelingt es auf so souveräne Weise wie dem Mann aus Kopenhagen mit »Too Many Roads«. Seine ausdrucksstarke, mächtige Röhre ist auch hier wieder das Sahnehäubchen auf dem Blueskuchen. Risager hat schon einige gute CDs veröffentlicht, diese ist sein Meisterstück. Für die Jury: Karl Leitner

R&B, Soul und Hip-Hop

Fatima: Yellow Memories

Eglo EGLO36CD (Groove Attack)

Eine Schwedin mit Wohnsitz Großbritannien – kann die mehr als Außenseiter-Chancen haben bei Musik in afro-amerikanischer Tradition? Nun, 2014 haben sich nicht nur die Biografien der Musiker von alten Herkunfts-Klischees gelöst, auch die Genres besitzen inzwischen einen Migrations-Hintergrund. »Yellow Memories« von Fatima ist bester Beweis: Produziert zu gleichen Teilen in Los Angeles und London, wird hier ein Neo-Soul in allen Spielarten dargeboten, der seine Wurzeln ebenso im musikalischen US-Mutterland hat wie in den globalisierten Hipster-Metropolen jenseits der USA. In einem Sound zwischen Bedroom Beats und sechzehnköpfigem Orchester sind es Stimme und Aura von Fatima, die aufhorchen lassen, futuristisch, wo andere retro sind, geschichtsbewusst, wo andere nur »neu« klingen. Soul aus der Diaspora, mit einem emotionalen Spektrum, das seinesgleichen sucht. Für die Jury: Christian Tjaben

Wortkunst

Qualitätskontrolle

... oder Warum ich die Räuspertaste nicht drücken werde! Hörspiel von Helgard Haug und Daniel Wetzel (Rimini Protokoll). Maria-Cristina Hallwachs, Admir Dzinic, Detlef Glätze u.a. Hörspielpark (WDR) ISBN 978-3-941998-64-3

Helgard Haug und Daniel Wetzel verwandelten 2014 in ihrem Projekt »Experten des Alltags« ein Theaterstück in ein Hörspiel, das sie beim WDR auch selbst inszenierten. Maria-Cristina Hallwachs erzählt dem Hörer von ihrem Leben im Rollstuhl, kinnabwärts taub und unterhalb des Kopfes vollständig gelähmt, nach einem Genickbruch als Zwanzigjährige rund um die Uhr abhängig von Menschen und Technik. Mittlerweile ist sie 39, ein lebensbejahender »Kopfmensch«. Sie stellt sich den Fragen nach Glück und Lebensqualität in der Behinderung und hält dem Hörer damit den Spiegel vor. Ein fulminanter Monolog, der auch Stimmen der Eltern und Betreuer evoziert sowie Umfrage- und Gesprächsmaterial der Autoren verarbeitet. Ein Hörspiel, das unter die Haut geht, zum Weinen wie zum Lachen. Für die Jury: Wend Kässens

Kinder- und Jugendaufnahmen

David Almond: Der Junge, der mit den Piranhas schwamm

Jörg Pohl. 3 CDs, Hörcompany ISBN 978-3-942587-72-3

Eine traurig-schöne, immer wieder auch komische Geschichte über einen Jungen, der trotz früh erfahrenen Kummers seine Herzensklugheit nicht verliert. Der sich aus Verzweiflung auf den Weg macht, Neues findet, Herausforderungen annimmt – und daran wächst. Eine wunderbare Parabel über Angst und Mut, Verantwortung und Eigensinn – und was daraus werden kann. Jörg Pohl führt uns mit seiner warmen, immer auch rauen Stimme über den Jahrmarkt des Lebens, auf dem es für einen kleinen mutigen Jungen möglich ist, mit menschenfressenden Piranhas zu schwimmen, ohne dass ihm etwas passiert, weil seine (und unsere) Phantasie das so will. Ja, alles ist möglich, sagt der lebenskluge Autor David Almond. Nach dieser Lesung glaubt man ihm das sofort. Für die Jury: Carola Benninghoven

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