Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

NEU: Longlist 2/2024, veröffentlicht am 5. April 2024

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Jean Sibelius: Symphonien 1-7

Berliner Philharmoniker, Simon Rattle. 4 CDs, 1 Blu-ray Audio, 1 Blu-ray Disc, Berliner Philharmoniker Recordings BPHR150071

Der Bannfluch Adornos haftet Jean Sibelius bis heute an. Seine Musik steht eher am Rand des Repertoires – hierzulande wenigstens, wenn auch in durchaus unterschiedlichem Maß. Als Brite teilt Simon Rattle diese kontinentaleuropäischen Berührungsängste allerdings nicht, so legte er zusammen mit den Berliner Philharmonikern zum hundertfünfzigsten Geburtstag des Komponisten Ende 2015 dessen sieben Symphonien im luxuriös ausgestatteten Format der Berliner-Philharmoniker-Edition vor. Nicht minder prachtvoll wird in diesen Konzertmitschnitten musiziert. Hochemotional, spannungsgeladen und klangsatt, zugleich strukturklar geht der Dirigent zu Werke, das Orchester trägt den gestalterischen Impetus seines Chefdirigenten ohne Einschränkung mit. Für die Jury: Peter Hagmann

Orchestermusik und Konzerte

Dutilleux: Tout un monde lointain

Henri Dutilleux: Konzert für Violoncello & Orchester »Tout un monde lointain« & »Trois strophes sur le nom de Sacher« für Violoncello solo; Claude Debussy: Sonate für Violoncello und Klavier d-moll. Emmanuelle Bertrand, Pascal Amoyel, Luzerner Sinfonieorchester, James Gaffigan. harmonia mundi HMC902209

Das Konzert »Tout un monde lointain« von Henri Dutilleux, komponiert zwischen 1967 und 1970, ist längst zu einem Klassiker der Moderne geworden, es liegt schon in mehreren, teils höchst prominent besetzten Aufnahmen vor. Was diese Einspielung mit der Cellistin Emmanuelle Bertrand maßgeblich auszeichnet, ist ihre zutiefst poetische und im schönsten Sinne des Wortes »sprechende« Interpretation. Die Bezüge zu den titelgebenden Versen von Charles Baudelaire sind hier als eine Art »Klangrede« der rote Faden, der ausgelegt wird, wozu das Luzerner Sinfonieorchester unter James Gaffigan alle übrigen Farben beisteuert, die das Werk entfaltet. Dazu stellt die Programmauswahl Dutilleux in den Kontext von Debussy. Dieses Album ist eine wunderbare Hommage zum hundertsten Geburtstag des Komponisten. Für die Jury: Michael Stegemann

Kammermusik

Brahms / Artemis Quartett

Johannes Brahms: Streichquartette c-moll op.51,1 und B-Dur op.67. Artemis Quartett. Erato 08256 46126 637 (Warner)

Dieses Artemis-Album kann als ein Epitaph gehört werden, zugleich aber ist es ein Wegweiser, Dokument des Abschiedes ebenso wie das eines Triumphs. Für Friedemann Weigle, der seit acht Jahren die Viola spielte in dieser international führenden Quartettformation, war die 2014 im Studio entstandene Aufnahme der Quartette op. 51,1 und op. 67 von Johannes Brahms die letzte. Er starb wenige Wochen vor der Veröffentlichung. Weigle hatte das Klangbild des Quartetts seit 2007 maßgeblich von den Mittelstimmen aus geprägt, mit seinem individuell sprechenden, starken Ton, mit Stilsicherheit, mit seinem »Beat«. Ihm widmet das Artemis Quartet diese Aufnahme zum Gedächtnis. Triumphal die selbstbewusst-symbiotische Aura dieser Produktion, wegweisend der transparente, biegsame, leichte Tonfall im Umgang mit Brahms, das klare Ja zu Vibrato, zu Expression, Romantik. Für die Jury: Eleonore Büning

Tasteninstrumente

Dinorah Varsi – Legacy

Werke von Robert Schumann, Frédéric Chopin, Henri Vieuxtemps u.a.. Dinorah Varsi. 35 CDs, 5 DVDs, Genuin GEN 15353 (Note 1)

Liebevoll aufbereitet legt das Label Genuin das Vermächtnis einer bedeutenden Pianistin vor: Dinorah Varsi glänzte mit hinreißend ehrlichem Klavierspiel von Rameau bis Rachmaninow. Die 1939 in Uruguay geborene Pianistin machte nach etlichen Preisen bei wichtigen Wettbewerben Ende der sechziger Jahre Karriere, ohne je zu einem »Star« zu werden. Von der ersten Aufnahme der Sechsjährigen im Jahr 1945 bis zum Konzertmitschnitt aus Japan 2004 kann anhand dieser Anthologie nun jeder nachhören, welch fulminante, ebenso virtuos zupackende wie poetisch sensible Pianistin sie gewesen war. Dinorah Varsi hatte durch ihre subtile Anschlagskunst etwas zu sagen. Ihr Klavierspiel zeichnete sich durch Eigenständigkeit wie Klarheit aus. Für die Jury: Gregor Willmes

Tasteninstrumente

Sol de mi fortuna / Diego Ares

Padre Antonio Soler: Cembalosonaten aus der Morgan Library. Diego Ares. harmonia mundi HMC902232

Antonio Soler gilt als einer der ganz großen Tastenmeister des achtzehnten Jahrhunderts. Sein Œuvre hat sich erst 2011 durch einen Manuskriptfund um neunundzwanzig mutmaßlich frühe Sonaten entscheidend erweitert – eine Handschrift, die heute in der New Yorker Morgan Library liegt. Diego Ares spielt eine Auswahl dieser Stücke, mit feinem Gespür für deren Originalität, die sich schillernd zwischen Tänzerischem, Sanglichem und klavieristischer Virtuosität aufspannt. Er benutzt den höchst gelungenen Nachbau eines zeitgenössischen spanischen Cembalos, dessen durchsichtige Brillanz er mit denkbar großer Delikatesse erschließt – rein klanglich ist diese Aufnahme schon ein Genuss. Für die Jury: Friedrich Sprondel

Oper

Jean-Philippe Rameau: Zaïs

Julien Prégardien, Sandrine Piau, Aimery Lefèvre, Benoit Arnould u.a., Chœur de Chambre de Namur, Les Talens Lyriques, Christophe Rousset. 3CDs, Aparté AP 109 (harmonia mundi)

Das Rameau-Gedenkjahr 2014 wirkt nach. Immer noch kommt Bekanntes, aber auch zu Unrecht Unbekanntes aus dem Œuvre dieses Komponisten in teils hervorragenden Einspielungen ans Licht. Die Pastoraloper »Zais« aus dem Jahr 1748 gab es bislang erst in einer einzigen, längst vergriffenen Aufnahme (mit Gustav Leonardt). Jetzt legt Christophe Rousset nach, mit seinen Talens Lyrique und einer ausgezeichneten Sängerbesetzung, in einer Live-Aufnahme aus Versailles. Von der geheimnisvoll stockenden Ouvertüre, die Entstehung der Welt aus dem Chaos beschreibend, bis hin zur beschwingt robusten contredanse en rondeau im heiteren Finale erweist sich die Oper Akt für Akt als ein inspiriertes Meisterwerk und die Interpretation als ebenso sorgfältig wie emotional erfüllt. Für die Jury: Roland Wächter

Oper

Guiseppe Verdi: Aida

Anja Harteros, Jonas Kaufmann, Ekaterina Semenchuk, Erwin Schrott, Ludovic Tézier u.a., Orchestra e Coro dell’Accademia Santa Cecilia, Antonio Pappano. 3 CDs, Warner Classics 7833008

Nicht einfach »noch eine« Aida! Allein die vielen, kaum so gehörten, oft dunkel getönten Nuancen, aber auch die heftig grellen Akzente, die Antonio Pappano mit dem von ihm zu neuem Glanz geführten Orchester der römischen Accademia Santa Cecilia zu setzen weiß, erstaunen und fesseln. Chor und Solisten machen eine bewegende Diskrepanz zwischen menschlichem Elend und staatspolitischem Auftrumpfen hörbar – allen voran Jonas Kaufmann. Wer nach Arturo Toscanini und der Stereo-Aufnahme seiner Wahl an »keine Aida-Neuigkeiten« mehr glaubte, lasse sich überraschen: diese hier ist die Referenz-Aufnahme unseres Jahrzehnts! Für die Jury: Wolf-Dieter Peter

Chor und Vokalensemble

Janáček: Říkadla / Reinbert de Leeuw

Leoš Janáček: Říkadla (Kinderreime), Kačena Divoká (The Wild Duck), Kantor Halfar, Vlčí Stopa (Wolf’s Trail), Elegie na smrt dcery Olgy u.a. Werke. Collegium Vocale Gent, Het Collectief, Reinbert de Leeuw. Alpha 219 (Note 1)

Eine eigentümliche Mixtur aus Sprachnähe, Folklore-Fetzen, Secco-Rhythmik, duftigen und deftigen Farben gibt dem »Rikadla«Zyklus von Leoš Janáček, komponiert nach Kinder und Nonsens-Versen, sein Gepräge. Kraftvoll aufgefächert wird diese anarchisch-absurde Klangwelt vom Collegium Vocale Gent samt dem Instrumental-Collectief unter Reinbert de Leeuws Leitung. Ins andere Extrem zielt die existenzielle Tragik der Elegie, die Janáček auf den Tod seiner Tochter Olga schrieb, in einem vergleichsweise konventionellen, aber ergreifenden Trauer- und Erlösungsidiom. Hier wie in den Chorballaden trifft das Collegium Vocale mit fließend-elastischer Schönheit den bewegenden Ton. Ein Album mit kongenialen Interpretationen, das eine Zeitreise durch die staunenswerte Entwicklung des Komponisten bietet. Für die Jury: Martin Mezger

Klassisches Lied und Vokalrecital

Julia Lezhneva: Händel

Georg Friedrich Händel: Arien aus Opern und Oratorien. Julia Lezhneva, Il Giardino Armonico, Giovanni Antonini. Decca 478 9230 (Universal)

Julia Lezhneva ist eine Ausdrucksextremistin, deren Stimme noch in den rasantesten Koloraturen natürlich klingt. Ihre stupende Gestaltungsfähigkeit beruht auf technischer Präzision, egal, ob Barockmusik oder Rossinibelkanto aus dem Körper strömt – diese perfekte Balance zwischen feinfarbiger Tongebung, instrumentaler Virtuosität und schlichter Innerlichkeit macht Lezhneva derzeit keine nach. Mit diesem Arien-Programm, das dem noch sehr jungen italienreisenden Händel huldigt, hat die gerade erst sechsundzwanzigjährige Sopranistin aus dem Fernen Osten Russlands ihr bisheriges Meisterstück geliefert: eine Preziose von atemraubender Nuancenvielfalt und nachgerade existentieller Dringlichkeit. Giovanni Antonini und Il Giardino Armonico sind die kongenialen Partner. Chapeau! Für die Jury: Albrecht Thiemann

Zeitgenössische Musik

Séverine Ballon: Solitude – Violoncellowerke

Violoncellowerke von Rebecca Saunders, James Dillon, Liza Lim, Mauro Lanza und Thierry Blondeau. Séverine Ballon, Mark Knoop. Aeon AECD1647 (Note 1)

Eigens für die Violoncellistin Séverine Ballon entstanden Werke wie »Solitude« (2013) von Rebecca Saunders und »Invisibility« (2009) von Liza Lim sowie »Le Bataille de Caresme et de Charnage« (2012) von Mauro Lanza, »Parjanya-Vata« (1981) von James Dillon und »Blackbird« (2013) von Thierry Blondeau. Die Interpretin, unter anderem noch vom Altmeister Siegfried Palm geschult, schlägt mit diesen sehr unterschiedlichen Kompositionen ein neues Kapitel der Moderne auf, das vielfach von den Nuancen herabgestimmter Saiten zehrt. Zwischen grummelnden und wispernden Klängen formt Ballon hintergründige Monologe, deren Klarheit nachdenklich macht und fasziniert. Für die Jury: Ludolf Baucke

Historische Aufnahmen

Carl Nielsen on Record. Vintage & other historical recordings

Mit diversen Orchestern, Solisten und Chören sowie u.a. Yehudi Menhuin, Emil Telmanyi, Herman David Koppel, Fritz Busch, Thomas Jensen. 30 CDs, Danacord DACOCD801-830 (Klassik Center)

Zum hundertfünfzigsten Todesjahr von Carl Nielsen hat das Label Danacord viele historische Aufnahmen wieder in den Blick gerückt. Mit dieser Kollektion von Wiederveröffentlichungen ist zugleich aber auch ein Kompendium der dänischen Musik- und Radiogeschichte entstanden, dokumentiert seit etwa den dreißiger Jahren. Zwar lässt die Vielzahl und Verschiedenheit der hier vertretenen Künstler gerechterweise qualitative Einzelwertungen nicht zu. Aber man kann sich regelrecht verlieren in dieser spektakulären Sammlung, mit ihren teils seit Jahrzehnten nicht mehr greifbaren Aufnahmen: Eine editorische Großtat.

Grenzgänge

Geoff Berner: We are Going to Bremen To Be Musicians

Mit Wayne Adams, Brigitte Dajczer, Diona Davies, Josh Dolgin, Keith Rose, Michael Winograd, Joe Keithley Oriente Musik, RienCD89 (Fenn)

Wer bei Klezmer-Musik die Nase rümpft, weil das meiste ähnlich erscheint, der wird von Geoff Berner, einem kanadischen Musiker mit ostjüdischen Wurzeln, eines Besseren belehrt. Der Sänger, Liedermacher und Akkordeonist setzt auf unbändige Kreativität, mischt Klezmer auf mit Punk, Pop, Folk, Balkanklängen, jiddischem Liedgut und Geigenfideln und erfindet dabei das musikalische jüdische Erbe neu. Scheinbar chaotisch, doch zielgenau wird hier wütend drauflos musiziert. Rotzig schreit er seine Wut über den Zustand der Welt hinaus, um am Ende der CD versöhnlich trotzend die Gläser klirrend anzustoßen: der Whiskey-Rabbi lässt grüßen. Eine Musik am Abgrund, verbunden mit Hoffnung – trotz alledem; davon singen und spielen die Musiker um Berner. Für die Jury: Heinz Zietsch

Musikfilm

Amy – the girl behind the name

Dokumentation von Asif Kapadia. DVD Eurokino 217663 (EuroVideo Medien GmbH)

Dieser Film ist mit Lob überschüttet worden, zu Recht. Er braucht etwas Anlauf, um seinen Sog zu entfalten, doch dann wird man unweigerlich in Bann geschlagen. Was vor allem das Verdienst von Regisseur Asif Kapadia ist, der nicht nur Menschen aus dem näheren Umfeld von Amy Winehouse befragte, sondern auch bisher unveröffentlichtes Material zeigt, darunter private Mitschnitte. Verwackelt, grobkörnig, vermitteln diese ungeschönten, teils heftigen Bilder ein Höchstmaß an Authentizität. Die Widersprüche einer tragischen Persönlichkeit werden offenbart. Wir erleben aber auch die Songschreiberin und Sängerin Amy Winehouse, wie sie Soul- und Jazzsongs mit großer, gestalterischer Souveränität vorträgt; nicht nur in dieser Hinsicht ist sie ihrem Vorbild Billie Holiday nahe. Für die Jury: Andreas Kunz

Jazz

Fay Claassen, Trio Peter Beets

Live At The Amsterdam Concertgebouw. Challenge Records CR 73411 (New Arts International)

Die holländische Sängerin Fay Claassen kann sich mit diesem Programm, das sie im Untertitel »A Glorious Tribute To Rita Reys« nennt, locker gegen die kaum noch überschaubare Menge ihrer Konkurrentinnen behaupten. Sie singt zwölf Songs, überwiegend bewährte Standards, mit voller, runder Stimme, stabiler Intonation und spritziger Eleganz. Zwei Scat-Einladungen erweisen sich als wahrlich meisterhaft. Eine Entdeckung ist auch ihr Begleiter am Klavier, Peter Beets, der so ansteckend swingt, dass man die Füße kaum still halten kann. Insgesamt ist dies hochwertige Unterhaltung, und Claassen wirkt wie eine Art europäisches Gegenstück zu Dianne Reeves. Für die Jury: Herbert Lindenberger

Jazz

Daniel Erdmann: Ten Songs About Real Utopia

Daniel Erdmann, Samuel Rohrer, Vincent Courtois, Frank Möbus: Ten Songs About Real Utopia. arjunamusic AMAC-CD 707 (Kompakt)

Sie weben gemeinsam ein dichtes Netz aus schwebenden Sounds, durchzogen von starken melodischen Statements: der Saxophonist Daniel Erdmann und der Schlagzeuger Samuel Rohrer im Quartett mit dem Cellisten Vincent Courtois und dem Gitarristen Frank Möbus. Inspirationen aus Jazz, Rock, Ambient oder auch Klassik fließen zusammen und lassen sich nicht mehr in ihre Bestandteile zerlegen. Die Musik kreist um dringende gesellschaftliche Fragestellungen, was sich nicht nur in den Titeln der Stücke ausdrückt, sondern auch als atmosphärische Qualität in der Musik widerspiegelt. Der kollektive Ansatz der Band teilt sich überzeugend in komplexen Interaktionen mit, die einen faszinierend eigenen Gruppenklang entstehen lassen. Für die Jury: Bert Noglik

Weltmusik

Rivière Noire

CPL Music CPL008 (Broken Silence)

Aus Elementen verschiedener Musikkulturen etwas Neues und Ungewöhnliches zu erschaffen, ist eine besondere Kunst. Orlando Morais aus Brasilien, Jean Lamoot aus Frankreich und Pascal Danaé aus dem französisch-karibischen Département Guadeloupe beherrschen sie. Das Debutalbum dieses Trios ist ein facettenreiches Werk, darin sich Spuren von Rockmusik finden, auch afrikanische Melodieführungen, französisches Chanson oder afro-brasilianische Perkussion, neben klassischem Songwriting und dem kapverdischen Lied. Akzente durch regionaltypische Instrumente bei modernen, filigranen Arrangements, die Einbeziehung von special guests aus verschiedenen Ländern sowie die Verwendung von französischen, portugiesischen und in Dialekten Malis verfassten Texten sorgen dafür, dass Rivière Noire unterschiedliche populäre Ausdrucksformen zu einem einheitlichen Ganzen auf wunderbar hohem Niveau verschmelzen kann, in durchweg entspannter Atmosphäre. Für die Jury: Rainer Skibb

Liedermacher

Jörg KO Kokott: Solo live

Jörg KO Kokott: Solo live

Eigenverlag www.ko-art.de

Ein »klassischer« Liedermacher und seine exzellent gespielten Gitarren, dazu ab und an das Akkordeon des Kollegen Frank Oberhof: Von der ersten bis zur letzten Sekunde ist dieses Geburtstagskonzert zum Sechzigsten, mitgeschnitten im Juni 2015 in der Dreikönigskirche zu Dresden, absolut überzeugend. Man ist mittendrin, auch wenn man nicht live dabei war. Bis auf eines hat KO alle Stücke komponiert. Sieben der achtzehn Texte stammen, neben drei eigenen, von Gerd Püschel, einem Verlagsmann, mit dem KO seit vielen Jahren eine enge Freundschaft verbindet. Heinrich Heine, Eva Strittmatter, Wenzel, Dietmar Halbhuber und Kerstin Becker sind die übrigen Text-Autoren. Eine wunderbare Mischung von Handschriften, in denen die Vorlieben des Interpreten bestens dokumentiert sind. Ein Meisterwerk! Für die Jury: Petra Schwarz

Folk und Singer/Songwriter

Broom Bezzums: No Smaller Than The World

Steeplejack Music SJCD017 (in-akustik)

Bei den Ginsterbesen alias Broom Bezzums stimmt einfach alles: Mark Bloomer und Andrew Cadie bieten frischen, zeitgenössischen Folk und überzeugen dabei sowohl als Multi-Instrumentalisten wie auch stimmlich, was in diesem Genre nicht immer selbstverständlich ist. Auch abwechslungsreich ist dieses Album: ob Gospel, keltische Tanzmusik, Rock oder melancholischer Dudelsacksound, die Broom Bezzums haben für jeden etwas im Gepäck. Gegründet hat sich das Duo übrigens in einer Schnapsbrennerei an der Mosel, denn die beiden ehemaligen Straßenmusiker aus Britannien sind in Deutschland hängengeblieben. Heute haben sie auf beiden Seiten des Ärmelkanals zahlreiche Fans. Steve Knightley, der Sänger einer der beliebtesten Folkbands Großbritannien, nannte sie einmal »das beste junge Duo, das zur Zeit unterwegs ist«. Recht hat er. Für die Jury: Suzanne Cords

Pop

Joanna Newsom: Divers

Drag City (Rough Trade)

Joanna Newsom ist eine einzigartige Künstlerin, weil sie Musik macht, die einzigartig ist. Sie hat die Harfe im Pop etabliert, und sie erweitert in ihrer Art, Songs zu schreiben und zu diesem Instrument zu singen, die Grenzen von Folk und Pop. Fünf Jahre hat sie an »Divers« gearbeitet. Es ist ein pompöses Werk geworden, dessen Kompositionen indes stets einen Grund haben und einen Rahmen. Perfektionismus ist hier logisch, weil Konzept. »Divers« ist eine kaum zu ergründende, eine schöne Platte, in die man tief eintauchen kann. Für die Jury: Philipp Holstein

Rock

The Libertines: Anthems For Doomed Youth

Virgin/EMI 474 6277 (Universal)

Die erst dritte Platte der Libertines ist, nach elf Jahren mit allerlei Abstürzen und Ablenkung, zum Teil aber auch musikalisch sinnvoll verbrachter Pause, keines dieser handelsüblichen Comebacks. Hier meldet sich ein Quartett zurück, das im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts die Rolle »Hoffnungsträger und/oder Zukunft des Rock’n’Roll« wie selbstverständlich annahm, sie aber nicht durchhielt. »Anthems For A Doomed Youth« bietet auf verblüffende Art und Weise die Essenz vertrauter Stärken: stürmische Direktheit und Weltschmerz, ausgedrückt in windschiefen Rhythmen und bisweilen zwingenden Melodien. Nur klingt das jetzt alles abgeklärter, der Blick zurück auf eine vielleicht trübe, aber wohl jedenfalls intensive Jugend steht ihnen. Die alten Streithähne Pete Doherty und Carl Barât könnten doch noch die Glimmer Twins der Gegenwart und der Zukunft werden. Für die Jury: Edo Reents

Hard und Heavy

Avatarium: The Girl With The Raven Mask

Nuclear Blast NB 3551-2 (Warner)

Die Schweden haben hier eine ganz eigene musikalische Mischung angerührt: Auf ein doomiges Grundgerüst (da kann Candlemass-Kopf Leif Edling nicht aus seiner Haut) stapeln Gitarrist und Co-Songwriter Marcus Jidell sowie Keyboarder Carl Westholm (der nahezu ausschließlich warme, geschmackvolle Uriah-Heep- und Deep-Purple-Orgel-Teppiche auslegt), Classic-Rock/Metal sowie das Beste, das Progrock und Psychedelic hervorgebracht haben. Und lassen sich dann das in den einzelnen Songs sehr variable, aufwändig arrangierte Ergebnis von der neuen Grande Dame des Metal-Gesangs, Jennie-Ann Smith, endgültig vergolden. Die ruhigen Stellen muten nie balladesk oder gar kitschig-kommerziell an, sie sind vielmehr ein logischer Teil des Ganzen: mal die Ruhe vor dem Sturm, mal die danach. In diesem Genre wird man momentan nichts Besseres finden. Für die Jury: Boris Kaiser

Alternative

Julia Holter: Have You In My Wilderness

Domino Recording WIGCD341 (Good To Go)

Mit ihrem vierten Album »Have you in my Wilderness« präsentiert sich die Songwriterin Julia Holter auf dem Zenit ihres Könnens. Trotz seiner Zugänglichkeit bewahrt sich dieser verrätselte Kunstpop noch immer den Mut zum Experiment und zum ungewohnten neuen Weg. Hervorragend instrumentiert und arrangiert sowie blendend gesungen – ist dies ein herausragender, künstlerischer Wurf. Für die Jury: Jan Ulrich Welke

Electronic und Experimental

Darkstar: Foam Island

Warp B012D68YYC (Rough Trade)

Darkstar kommen aus West Yorkshire, einer verregneten Ecke im englischen Norden. Die Musik des Duos klingt entsprechend melancholisch, auf einem dunklen Humus blühen zerbrechliche Beats und impressionistische Klangsplitter. Immer wieder mischen Darkstar auch Kommentare junger Menschen aus der Gegend in ihre Musik, Berichte aus dem eher tristen Leben. Der eigentliche Gesang klingt auf sympathische Weise schüchtern. Dennoch erheben sich regelmäßig exotisch schillernde Elektro-Popsongs aus der neorealistischen Ambient-Kulisse. Hymnen wie »Days Burn Blue« oder »Stoke The Fire« wirken wie Visionen eines besseren, oder zumindest schöneren Lebens. Das Paradies liegt hinter dem grauen Gewerbegebiet, man muss nur die Hand ausstrecken und zugreifen. Für die Jury: Jürgen Ziemer

Blues

Hazmat Modine: Extra-Deluxe-Supreme

Jaro 4326-2

Ein Bluesalbum, auf dem ein tuwinisches Kehlkopfgesangsensemble zum Einsatz kommt, geht das? Ja! Denn die vielköpfige New Yorker Formation Hazmat Modine kennt kein musikalisches Schubladendenken. Der Blues ist nicht nur im Harpspiel von Bandgründer und Mastermind Wade Schuman präsent, er zieht sich wie ein roter (oder vielmehr blauer) Faden durch die sämtlich aus eigener Feder stammenden Songs dieses Albums. Vor allem Bluesfans, die nicht auf ein allzu enges Genrekorsett fixiert sind und Freude an einem ebenso kreativen wie virtuosen Umgang mit diversen stilistischen Einflüssen haben, dürften Gefallen an dieser Produktion finden. Allen anderen sei empfohlen, einfach mal mit offenen Ohren reinzuhören. Für die Jury: Michael Seiz

R&B, Soul und Hip-Hop

Erykah Badu: But You Caint Use My Phone

Motown 254 7719713 (Universal)

Offiziell ist dies nur ein Mixtape, doch die texanische Neo-Soul-Pionierin zeigt sich hier in souveräner Konzeptform. Ihre ersten eigenen Songs seit 2010 sammeln gleichsam Fragmente einer Sprache der (Tele-)Kommunikation im Soul, mit amüsiertem Hintersinn, mit musikalischer Umsicht. Im Zentrum steht ihr lächelnd feminisierter Remix von Drakes jungslarmoyantem Sommerhit »Hotline Bling«. Dessen Timmy-Thomas-Sample aus den Siebzigerjahren gibt dem Album einen musikalischen Faden. Badu und Produzent Zach Witness arbeiten Telefon-Klassiker des R&B bis zu Badus »Tyrone« als modischen »Trap & B« (Badu) auf. Schließlich trifft sich in »Hello« Badus schmeichelnd jazzige Phrasierung mit dem flinken Rap ihres Ex-Partners André Benjamin, gemeinsam erörtern sie das Thema Smartphone, Verführung und Vertrauen. Für die Jury: Markus Schneider

Wortkunst

Laurence Sterne: Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman

Hörspielbearbeitung und Regie: Karl Bruckmaier. Mit Stefan Merki, Peter Fricke, Hans Kremer, Anna Drexler u.a. 9 CDs. Der Hörverlag / BR ISBN 978-3-8445-1943-3

Sternes »Tristram Shandy«, ein Buch aus dem achtzehnten Jahrhundert, nimmt in seiner alle bis dahin gültigen Erzählnormen sprengenden Vielschichtigkeit und literarischen Wucht den modernen, experimentellen Roman vorweg. Dieses Meisterwerk in einer szenisch-akustischen Fassung hören zu können, haben sich viele seiner Bewunderer immer schon gewünscht. Karl Bruckmaier erfüllt den Wunsch mit seinem ursprünglich für den Bayerischen Rundfunk realisierten Hörspiel auf kongeniale Weise. Für alles Spielerische des Textes, ja selbst für Sternes geschwärzte Kapitel findet er ein hörbares Pendant. Unterstützt wird er von Musikern wie Robert Cayne mit eigens komponierten Liedern sowie von einem hochkarätigen Sprecherensemble, dem das Vergnügen am literarischen Atem des Romans, an seinen unzähligen Abschweifungen und skurrilen Charakteren anzuhören ist. Ein Erfolgsroman der Vergangenheit, übrigens zeitgleich zum Hörbuch in der großartigen Übersetzung von Michael Walter als Buch neu aufgelegt, wird so zum Hörgenuss von heute. Für die Jury: Wolfgang Schiffer

Kinder- und Jugendaufnahmen

Ulrich Hub: Ein Känguru wie du

Mirco Kreibich, Christopher Heisler, Irm Hermann u.a. Silberfisch ISBN 978-3-86742-559-9

Pascha und Lucky sollen sich mit ihrem Trainer auf einen großen Zirkuswettbewerb vorbereiten, doch die beiden reißen lieber aus. Auf ihrer Flucht lernen sie den hinreißenden Boxer Django kennen, mit dem sie einen gemeinsamen Auftritt planen. So linear diese Grundgeschichte erscheint – hinter der Oberfläche läuft einiges anders, als gedacht: Pascha und Lucky sind Raubkatzen, die eigentlich Angst vor Wasser haben sollten, aber deren größter Wunsch ein Bad im Meer ist. Ihr unter Auftrittsangst leidender Dompteur ist trotz seines schrillen Kostüms nicht schwul, dagegen das Känguru Django, ein cooler Kerl, sehr wohl. Und auch die Prinzessin ist nicht das junge hübsche Mädchen, das geheiratet werden will, sondern ein älteres »Frauchen« im Blümchenkleid, das es liebt, Motorrad zu fahren. Ulrich Hub ist ein wunderbares Hörspiel über Selbstbeschränkung und Vorurteile, Selbstvertrauen und Offenheit, Freundschaft und Familie gelungen, vielstimmig und vergnüglich. Für die Jury: Regina Himmelbauer

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