Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

NEU: Longlist 2/2024, veröffentlicht am 5. April 2024

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Haydn 2032 – Vol. 13: Hornsignal

Joseph Haydn: Symphonien Nr. 31 D-Dur Hob. I:31 »Mit dem Hornsignal«, Nr. 48 C-Dur Hob.I:48 »Maria Theresia«, Nr. 59 A-Dur Hob.I:59 »Feuersinfonie«. Il Giardino Armonico, Giovanni Antonini. Alpha Classics ALPHA 692 (Note 1)

»Haydn 2032« ist zwar noch weit entfernt, doch schreibt die Gesamtaufnahme seiner Symphonien schon heute Geschichte. Sie räumt auf mit dem noch immer präsenten freundlichen »Papa« der Wiener Klassik, rückt die zukunftsweisende Aktualität seines Stils in den Vordergrund, vergleicht und setzt in Beziehung. Das gelingt vorzüglich auch mit drei Symphonien aus der viel zu wenig beachteten mittleren Zeit der 1760er- und 1770er-Jahre. Das Spiel des Ensembles unter Giovanni Antonini gleicht an der forschen Oberfläche einmal mehr einem Funken sprühenden Feuerwerk wie auch einer inneren Kontemplation in die leisen Töne. Für die Jury: Michael Kube

Orchestermusik und Konzerte

Beethoven: Violinkonzert – Veronika Eberle

Ludwig van Beethoven: Violinkonzert D-Dur op. 61, Fragment C-Dur WoO 5. Veronika Eberle, London Symphony Orchestra, Sir Simon Rattle. SACD, LSO LSO5094 (Note 1)

Diese Live-Einspielung von Beethovens Violinkonzert überzeugt durch das souveräne Spiel von Veronika Eberle, die den Solopart mit einer Mischung aus vornehmer Eleganz und nobler Tonschönheit feinsinnig ausgestaltet und unter einen großen Spannungsbogen fasst. Geradezu in eine neue Dimension hinein wächst diese musikalisch tieflotende Interpretation mit den eigens für die Solistin komponierten, geigerisch sehr anspruchsvollen Kadenzen von Jörg Widmann. Das Werk erfährt damit eine kreative und horizonterweiternde Projektion in die Gegenwart. Das wenig beachtete Konzert-Fragment WoO 5 rundet die CD sinnvoll ab. Für die Jury: Norbert Hornig

Kammermusik

Felix Mendelssohn: Sämtliche Streichquartette Vol. 2

Felix Mendelssohn: Streichquartette e-Moll op. 44 Nr. 2, Es-Dur op. 44 Nr. 3 & f-Moll op. 80. Quatuor Van Kuijk. Alpha Classics ALPHA 931 (Note 1)

Das Quatuor Van Kuijk entkräftet alle Klischees, die über Mendelssohn kursieren. In dieser Gesamteinspielung der Streichquartette erscheint er nicht als Klassizist oder gar Salonkomponist. Das Ensemble betont die abgründige Seite seiner Musik: Mit metrischer Unruhe und dynamischen Schwankungen, verschatteten und aufgerauten Klängen stellen die vier jungen Franzosen den Mythos vom ewigen Glückskind Felix infrage. Nicht nur das späte f-Moll-Quartett wirkt da wie ein Aufschrei der Verzweiflung – auch die älteren Werke gewinnen eine neue, radikale Ausdrucksqualität. Für die Jury: Susanne Stähr

Kammermusik

Franz Schubert: Klaviertrios

Franz Schubert: Klaviertrios Nr. 1 D 898 & Nr. 2 D 929, Notturno D 897, Rondo D 895, Arpeggione-Sonate D 821. Christian Tetzlaff, Tanja Tetzlaff, Lars Vogt. 2 CDs, Ondine ODE 1394-2D (Naxos)

Für die Ewigkeit. Tanja und Christian Tetzlaff und Lars Vogt setzen für Schuberts Klaviertrios ihre symbiotische Freundschaft aufs Spiel, so scheint es, um etwas Unerreichbares zu schaffen, das nur gemeinsam gelingen kann. Mit vollstem Risiko und freigelegten Herzen teilen sie Puls, Angst und letzten Atemzug. Keine Phrasierung ist weniger als perfekt gesetzt, aber das Wunder ist dieses Durchflossenwerden, zu dem man sich als Zuhörerin und Zuhörer eingeladen fühlt. An freundlicher Hand, durch das Jetzt und Damals und Nie-wieder, sich gemeinsam vorbereitend auf den endgültigen Abschied. Für die Jury: Julia Kaiser

Tasteninstrumente

The Handel Project

Georg Friedrich Händel: Suiten Nr. 2 HWV 427, Nr. 5 HWV 430, Nr. 8 HWV 433, Menuett aus HWV 434, Sarabande aus HWV 440; Brahms: Händel-Variationen op. 24. Seong-Jin Cho. Deutsche Grammophon 486 3018 (Universal)

Es scheint, als würde Seong-Jin Cho ein Zehn-Finger-Orchester dirigieren. Die »Harmonious Blacksmith«-Variationen von Händel klingen farbig, mal wie von einer Flöte gespielt, mal wie von einer Hornstimme. Chos Läufe surren und schnurren, bar jeder Trockenheit. Das klingt, je nach Charakter, versonnen oder tänzerisch, immer sparsam beim Pedalgebrauch. Dann folgen die Händel-Variationen von Johannes Brahms. Wieder dient das Pedal als sublimer Helfer für Klangfarben. Dramaturgisch souverän, klug in der Disposition seiner Tempi findet Cho einen eigenen, nie gewollt wirkenden Zugang. Für die Jury: Christoph Vratz

Tasteninstrumente

The Art of Variation

Jan Pieterszoon Sweelinck: Secular Cycles (Cembalostücke). Fabio Antonio Falcone. Challenge Records CC 72926 (Bertus)

Sweelinck machte Amsterdam zum Zentrum der Tastenmusik, perfektionierte die frühbarocke polyphone Satzweise und faszinierte zeitlebens mit seinen Orgelimprovisationen. Zu seinen wichtigsten Werken zählen Variationszyklen, geistliche wie weltliche. Die Einspielung von Sweelincks Variationen über Volkslieder, Tänze und Vorlagen anderer Komponisten durch Fabio Antonio Falcone zeigt sich ebenso intrikat und vielgestaltig wie das musikalische Material des Komponisten. Falcone changiert elegant und fantasievoll zwischen humoresker Leichtigkeit und kontrapunktischer Strenge auf einem klanglich idealen Cembalo von 1632 – die Kunst der Variation, inspiriert und in Bestform. Für die Jury: Sabine Fallenstein

Oper

Gioachino Rossini: L’Italiana in Algeri

Ricardo Seguel, Lilian Farahani, Esther Kuiper, José Coca Loza, Alasdair Kent, Vasilisa Berzhanskaya, Pablo Ruiz, Orchestra of the Eighteenth Century, La Cetra Vokalensemble Basel, Giancarlo Andretta. 2 CDs, Glossa GCD 921132 (Note 1)

Der Geniestreich des 21-jährigen Rossini trifft in dieser Aufnahme einer konzertanten Aufführung im Amsterdamer Concertgebouw auf ein brillantes junges Ensemble, aus dem die junge Russin Vasilisa Berzhanskaya nochmals herausragt. Jeder Takt versprüht Freude an musikalischer und sprachlicher Komik. Giancarlo Andretta führt mit flexiblen Tempi zu musikdramaturgischen Höhepunkten. Dass das Orchester dank seiner »Originalinstrumente« auch mit instrumentalen Reizen aufwartet, ist angesichts der Musizierfreude nur noch eine Marginalie. Ein zweistündiges musikalisches Feuerwerk! Für die Jury: Martin Elste

Oper

Paul Dessau: Lanzelot

Emily Hindrichs, Máté Sólyom-Nagy, Oleksandr Pushniak, Jury Batukov, Wolfgang Schwaninger, Uwe Stickert, Daniela Gerstenmeyer, Andreas Koch, Opernchor des DNT, Chor des Theaters Erfurt, Kinderchor schola cantorum weimar, Staatskapelle Weimar, Dominik Beykirch. 2 CDs, Audite 23.448 (Note 1)

Paul Dessaus »Lanzelot«, 1969 in der Berliner Staatsoper uraufgeführt, war lange vergessen. 2019 erlebte das alle Ressourcen eines Opernhauses mobilisierende Werk seine Wiederaufführung im Deutschen Nationaltheater Weimar. Das musikalische Kaleidoskop dieser zwischen Pop, Zitaten und Zwölfton changierenden Oper ist erstaunlich gut gealtert, das mild systemkritische Märchen über eine Gesellschaft, die gar nicht befreit werden möchte, lässt sich auch auf unsere Gegenwart beziehen (Textbuch: Heiner Müller und Ginka Tscholakowa nach Jewgeni Schwarz). Der Live-Mitschnitt dokumentiert eine höchst beachtliche Ensembleleistung der 200 Mitwirkenden. Für die Jury: Robert Braunmüller

Chor und Vokalensemble

Erkki-Sven Tüür: Canticum Canticorum

... Caritatis, Triglosson Trishagion, Missa brevis, Omnia mutantur, Rändaja õhtulaul. Collegium Musicale Chamber Choir, Endrik Üksvärav. Alpha Classics ALPHA 917 (Note 1)

Die Chortradition Estlands kam zu allen Zeiten aus einem nationalen Herzen. Ein Land, das von Deutschen, Dänen, Schweden und Russen dominiert wurde, singt stets auch für seine Unabhängigkeit. Erkki-Sven Tüür (1959 geboren) ist einer seiner bedeutendsten Komponisten. Seine Chorwerke ziehen die Zeiten und Stile der Musiksprache netzartig zusammen; Cluster und spätromantische Harmonien sind keine Gegensätze. Mit Sprache geht er höchst kreativ um. Dem Collegium Musicale Chamber Choir unter Leitung von Endrik Üksvärav hat er ein neues Werk sogar in die Kehlen komponiert. Man lauscht gebannt. Für die Jury: Wolfram Goertz

Klassisches Lied und Vokalrecital

Walking In The Dark

Werke von Samuel Barber, John Adams, Sandy Denny, Oscar Brown Jr., Connie Converse, Billy Taylor. Julia Bullock, Christian Reif, Philharmonia Orchestra. CD/LP, Nonesuch 075597908176 (Warner)

Eine Stimme wie ein Chamäleon: dunkel und rauchig in »Brown Baby« wie einst die Soul-Queen Nina Simone; dramatisch-furios das politisch appellative »Memorial de Tlatelolco« über das Massaker an Studenten aus John Adams Nativity-Oratorium »El Niño«. Die aus Missouri gebürtige, in München lebende Julia Bullock blickt in dieser fesselnden Anthologie aus weiblicher Perspektive ins Herz der Finsternis: Hass, Einsamkeit, Verzweiflung, Hoffnung. Ein Juwel ist Samuel Barbers kryptisches »Knoxville: Summer of 1915« – die bittersüße Phantasmagorie eines kindlichen Rückblicks in die Zukunft. Für die Jury: Jürgen Kesting

Alte Musik

Leipzig 1723

Johann Sebastian Bach, Georg Philipp Telemann, Christoph Graupner: Bewerbungskantaten für die Stelle des Thomaskantors. Ælbgut, Capella Jenensis. Accentus Music ACC 30598 (Naxos)

Mit diesen fünf Kantaten bewarben sich Telemann, Graupner und Bach 1723 nacheinander auf die Position des Thomaskantors. Bach war bekanntlich nur dritte Wahl. Die Interpretation des vierköpfigen Vokalensembles Ælbgut und der Capella Jenensis ist das Beste, was auf diesem Gebiet seit Langem erschienen ist. Jeder Satz erhält den ihm angemessenen Schwung, die Deklamation ist vorbildlich, alles wird bis ins Detail kundig ausgestaltet, nichts übertrieben. So entsteht ein völlig stimmiges Gesamtbild, das aufnahmetechnisch exzellent präsentiert wird. Für die Jury: Matthias Hengelbrock

Zeitgenössische Musik

Iannis Xenakis: Eonta

... Linaia-Agon, Theraps, Khal Perr, Keren, Mnamas Xapin Witoldowi Lutosławskiemu. Ensemble Schwerpunkt, Lorenzo Soulès, Peter Rundel, Edicson Ruiz, Dirk Rothbrust, Mikael Rudolfsson. bastille musique bm023 (rudi mentaire distribution)

Aus Blitzen besteht diese Musik, organisiert nach Wahrscheinlichkeitsberechnungen, naturwissenschaftlichen Modellen und der Idee hoffnungsfroher Schönheit. Das Klavier (Lorenzo Soulès) ackert wie in einem Steinbruch, die Bläser (Ensemble Schwerpunkt) knallen vor Energie, unbeeindruckt von den irren Anforderungen. Und singen, flüstern, quasseln miteinander, geben Rätsel auf. »Eonta« ist wie immer beim Label bastille musique makellos und liebevoll produziert, die Zusammenstellung der sechs Werke (Dirigent beim Titelstück: Peter Rundel) ähnelt einer Klangausstellung, kuratiert mit überlegenem Witz und gnadenlosem Esprit. Für die Jury: Egbert Tholl

Historische Aufnahmen

Otto Klemperer conducts the Wiener Symphoniker

The VOX Recordings and Live Performances 1951-1963. Wiener Symphoniker, Otto Klemperer. 16 SACDs, archiphon 699030 (Zweitausendeins)

Ist mit dem EMI-Œuvre nicht schon alles zum Thema Klemperer gesagt? Durchaus nicht. Ohne die früheren Studio-Produktionen von VOX und die Live-Aufnahmen des ORF wäre das Bild dieses großen Musikers unvollständig; frühere und spätere Versionen, Studio- und Live-Varianten erhellen einander, signifikant zu hören im Fall »Missa solemnis«: Schon das Wiederhören mit der expressiven VOX-Aufnahme ist ein starker Anreiz, sich erneut mit dem Schaffen Klemperers zu befassen. Zudem ist diese klanglich äußerst sorgfältig restaurierte und großzügig ausgestattete Kollektion ein bedeutendes Dokument für den Sonderrang der Wiener Symphoniker. Für die Jury: Thomas Voigt

Grenzgänge

Dhafer Youssef: Street of Minarets

CD/2 LPs, Back Beat BBECD1 (Bertus)

Dhafer Youssefs Album grenzt in mehrfacher Hinsicht an ein Wunder. Einerseits gelingt es dem Musiker mit der rauchigen, melismatischen Gesangsstimme und dem virtuosen Oud-Spiel, mehrere Stile stimmig zu verbinden – nämlich kontemplative orientalische Klangsprache, Elemente des modernen Jazz und Funk mit starker 1970er-Jahre-Orientierung. Andererseits ist »Street Of Minarets« ein All-Star-Album, das Klaviergott Herbie Hancock, die Bassgrößen Dave Holland und Marcus Miller, Trompeten-Ass Ambrose Akinmusire und Schlagzeug-Star Vinnie Colaiuta vereint und trotz dieses Glamours verblüffend entspannt und organisch tönt. Für die Jury: Christoph Irrgeher

Filmmusik

Alexandre Desplat: Guillermo del Toro’s Pinocchio

(Soundtrack from the Netflix Film). Columbia Records 19658781352 (Sony)

Der hölzerne Racker mit der langen Nase, wie niedlich?! Von wegen. Guillermo del Toros »Pinocchio«-Version, die er für Netflix in Stop-Motion-Technik zum Leben erweckte, ist kindlich und poetisch, deswegen aber nicht naiv oder harmlos. Die Musik und die Songs von Alexandre Desplat verleihen dieser Geschichte anmutig klassisches Musical-Aroma. Sie ist charmant und hat Herzenswärme, ist verspielt und im eindeutigsten Sinne des Wortes: gefühlvoll. Und weil der Hauptdarsteller bekanntlich nicht aus Fleisch und Blut ist, hat Desplat seinen Score ausschließlich für Instrumente aus Holz komponiert. Für die Jury: Joachim Mischke

Musikfilm

»Cicero« – Zwei Leben, eine Bühne

Dokumentation von Kai Wessel, Katharina Rinderle & Tina Freitag. Eugen und Roger Cicero u.a.. DVD, Weltkino 895840 / 895841 (Zweitausendeins)

Sie waren Giganten des Jazz und des Swing: der Klaviervirtuose Eugen Cicero und sein Sohn Roger, ein Stimmwunder im Bigband-Sound. Katharina Rinderle und Kai Wessel erzählen nicht nur deren musikalisch eng verwobene und tragische Familiengeschichte. Mit einer Vielzahl von Wegbegleitern und faszinierendem Archivmaterial (besonders in den Extras!) tauchen sie in eine noch unbeleuchtete Epoche deutschen Musiklebens ein: verjazzte Klassik, die Popularisierung des Swing im Nachkriegsdeutschland, der anspruchsvolle Kompromiss zwischen Jazz und Kommerzialisierung. Ein hochemotionales und informatives Doppel-Porträt zweier Einzigartiger und Musiker, brillant erzählt und montiert. Für die Jury: Thorsten Lorenz

Jazz

Kenny Barron: The Source

Artwork Records ARTR 2202CD (harmonia mundi/Bertus)

Ein feines Jugendstiltheater in Paris, handverlesenes Publikum, dazu ein Konzertflügel, von dem der Künstler sich geradezu »unterstützt« fühlt – für Kenny Barrons erstes Soloalbum seit gut 30 Jahren bietet sein Producer ein geradezu beneidenswertes Live-Ambiente auf. Was den Protagonisten wiederum merklich inspiriert. Er spielt durchweg Stücke (von Monk, Strayhorn/Ellington, Barron), die er im Comboformat schon früher aufnahm und jetzt auf ihren musikalischen Kern zuspitzt. Von Stride- und Latin-Anklängen bis zu harmonisch reichem Modern Jazz entfaltet sich ein facettenreiches Selbstporträt des großen Pianisten. Für die Jury: Berthold Klostermann

Jazz

Burkard Kunkel & Bob Degen: Two Geese By The River

Triangolo (Galileo)

Wer Bob Degen am Klavier hört, fragt sich zuweilen, warum er nicht jemand wie Keith Jarrett geworden ist. Diese schwelgerische, oft pointillistisch reduzierte Lyrik hätte mehr verdient. Wie auch Burkard Kunkels nuancen- und detailfreudiges Spiel auf Bassklarinette und Bassetthorn. Beide Musiker haben miteinander ein wunderbar ausgereiftes Duo-Album produziert, dessen sparsame Melodieseligkeit betörend und dessen präzise Intimität beispielhaft ist. »Two Geese by the River« beschreibt einen langen gemeinsamen Weg, den beide in differenzierten Tempi und mit feinsinnig abgestimmten Schritten und Flügelschlägen zurücklegen. Für die Jury: Hans-Jürgen Linke

Weltmusik

Lucas Santtana: O Paraíso

CD/LP, No Format NOF.#56 (Indigo)

Weil die Welt immer lauter wird, wird Lucas Santtana immer leiser. Leiser meint dabei nicht stiller, denn in seinen Liedern singt der Songwriter aus Salvador Klartext. Er hinterfragt das Streben nach größer, schneller, reicher, indem er dessen Kehrseite beleuchtet: die Zerstörung unseres Planeten, der ja ein Paradies sein könnte. Musikalisch tut er dies mit Folktronica-verzierten Bossa Nova Melodien und schmunzelnden Assoziationen. Trotz der melancholischen Grundstimmung blitzt immer wieder die Hoffnung auf, dass wir gemeinsam vielleicht doch noch die Wende zum Besseren schaffen. Für die Jury: Jodok W. Kobelt

Traditionelle Ethnische Musik

Petros Klampanis: Tora Collective

CD/LP, Enja & Yellowbird Records enja 9822 2 (Edel)

Der aus Athen stammende Bassist Petros Klampanis versammelt Klänge von Mazedonien über die Ägäis bis Konstantinopel und Smyrna und formt aus diesen Traditionen eine lebendige Jazzsprache voller lokal geprägter Färbungen. Dass das gelingt, liegt auch an einer großartigen Band, in der die waidwunde Stimme der Sängerin Areti Ketime, Thomas Konstantinou an der Oud und Giorgos Kotsinis’ schmerzlich vibrierende Klarinette herausragen. Dabei kann es sehr melancholisch werden, aber auch tänzerisch, hin und wieder tritt die Freiheit des Jazz ganz in den Vordergrund. Ein Album von großartig atmender Dynamik und leuchtender Transparenz. Für die Jury: Stefan Franzen

Liedermacher

Danny Dziuk: Unterm Radar

Buschfunk 05002

Ziemlich »Unterm Radar« bringt Danny Dziuk seit Jahrzehnten seine Tonträger heraus. Seine Zusammenarbeit mit Stoppok oder Annett Louisan machte ihn zu einem der anerkanntesten Songwriter. Singt er seine Lieder selbst, gewinnen sie in ihrer lakonischen und dann wieder engagierten Art eine einzigartige Kraft. Musikalisch abwechslungsreich, von der Klavierballade bis zum Popsong, singt er von unsäglichen Trollen im Internet, echter Freundschaft, Identitären und anderen Quertreibern. »Unterm Radar ist eigentlich alles gut, solang eina liebt, was er tut.« Für die Jury: Hans Reul

Folk und Singer/Songwriter

The Jeremiahs: Misery Hill and other Stories

Digital, Eigenproduktion CD003 (Direktvertrieb)

The Jeremiahs spielen hier zu 90 Prozent eigenes Material. Trotzdem knüpft ihr drittes Album mit seiner Aufrichtigkeit und Emotionalität eng an die irische Tradition an. Angelpunkt von »Misery Hill« ist das Erzählen von Geschichten, wobei die Songs Ereignisse der Vergangenheit ebenso wie persönliche Erlebnisse aufgreifen. Sowohl gesanglich als auch instrumental ist das auf akustischen Instrumenten spielende Quartett sehr stark besetzt und überzeugt auch mit den Arrangements, die Einflüsse aus Jazz und Klassik aufnehmen. Für die Jury: Almut Kückelhaus

Rock

Margo Price: Strays

CD/LP, Concord Records 7247503 (Universal)

Als Margo Price 2016 ihr Debüt »Midwest Farmer’s Daughter« veröffentlichte, entsprach sie ganz dem Wesenskern des Countryfolk: drei Akkorde und die Wahrheit. Seitdem hat sie sich von der Roots-bewussten Songwriterin zur schillernden Vorreiterin der Erneuerung entwickelt, und dieses Album unterstreicht ihre Ambition eindrucksvoll. Produziert von Laurel Canyon Soundvisionär Jonathan Wilson ist »Strays« ein rockpsychedelisches Unternehmen zwischen Neofolk und Classic Rock, erzählt Geschichten von Höhen und Tiefen, von Drogenerfahrung und Perspektivwechsel – persönlich, aber auch stellvertretend für eine neue, freiere Generation. Für die Jury: Christine Heise

Hard und Heavy

Enslaved: Heimdal

CD/2 LPs/DL, Nuclear Blast Records NB6618-2 (Rough Trade)

1991 als Black Metal-Band gegründet, bewegen sich Enslaved seit Jahrzehnten in ihrem eigenen Klangkosmos zwischen Viking und Progressive Metal – immer in Bewegung, immer auf der Suche nach einem weiteren Dreh. Auf »Heimdal« tauchen die Norweger einerseits noch tiefer in Prog-Sphären ab (»Forest Dweller«), graben aber auch rasend nach ihren schwarzmetallischen Wurzeln (»Congelia«) und umschmeicheln mit Melodien wie in ihren frühen 2010ern (’Kingdom’). Am schönsten kulminiert all das in »The Eternal Sea«. Ein Album, das herausfordert, viel zu entdecken bietet und dadurch lange spannend bleibt. Für die Jury: Sebastian Kessler

Club und Dance

Kelela: Raven

CD/2 LPs, Warp WARPCD320 (Rough Trade)

»Raven« soll die Vielfalt von Dance Music zeigen, so Kelela bei ihrem Berlin-Konzert (wo das Album entstanden ist). Genre-technisch und emotional deckt die US-Amerikanerin auf ihrem zweiten Album viele Pole der Clubmusik ab: Breakbeat, Euphorie, wogende Dancehall, Schwere, Bass, außerweltliches Ambiente. Dennoch steht Kelelas Stimme weiterhin im Zentrum. Sie verleiht der Musik die Intimität, die sonst bei Zweisamkeit oder kollektivem Feierrausch entstehen kann. Ein Album, das verstehen lässt, worum es im Club geht. Für die Jury: Cristina Plett

Electronic und Experimental

Ryūichi Sakamoto: 12

Milan Records 19658789822 (Sony)

Sakamoto komponierte »12« zu einer Zeit, in der er aufgrund seiner Krebserkrankung über sein Leben nachdachte. Es ist der Soundtrack eines Mannes, der sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinandersetzt – herzzerreißend, aber auch lebensbejahend. Statt sein Leben mit erzählerischem Songwriting oder theatralischen Instrumentalfeuerwerken zu mythologisieren, entschied sich Sakamoto für eine stille, subtile und zurückhaltende Anmut. Mit jedem Hören lernt man etwas darüber, was es braucht, um die Dinge nicht zu ernst zu nehmen, denn eines Tages wird alles vorbei sein. Ryūichi Sakamoto starb am 28. März 2023. Für die Jury: Olaf Maikopf

Blues

Richard Bargel: Dead Slow Stampede

CD/LP, Clementine Music CM-No.001 (Timezone)

Wenn jemand wie der Kölner Musiker Richard Bargel 50 Jahre Bühnenerfahrung auf dem Buckel hat, weiß man genau, wo man steht. Dennoch ist es gerade die Verbindung aus – Verzeihung! – älterem Künstler und jungem Produzenten und Multiinstrumentalisten Fabio Nettekoven und dessen Label Clementine Music, die dieses Album zu etwas Besonderem macht: Gut produzierte, frische Musikalität, deren entspannt groovende Song-Texturen mit u.a. Pedal Steel Guitar, Mellotron oder Wurlitzer E-Piano die Songs und Sounds neu und nachhaltig tief im Americana-Blues-Kosmos verankern. Für die Jury: Tim Schauen

R&B, Soul und Hip-Hop

Little Simz: No Thank You

Digital, Forever Living Originals FLOCD16 (Membran)

»Simbi«, 1994 in Islington geboren, bekannter unter ihrem Bühnennamen Little Simz, gibt mit »No Thank You« ein Statement zu den Wirren und allzu sehr business-geprägten Machenschaften der Musikindustrie ab. Und gewährt zugleich Einblick in ihr Privatleben, das darunter litt. Nicht nur deshalb wurde dieses Album ohne Vorankündigung veröffentlicht. Musikalisch exzellent von Produzent Inflo begleitet, suchen die brillanten Texte, Rap-Style und Flow gegenwärtig ihresgleichen. Selten gelingt es Künstlern, ein so zeitgemäßes wie zeitloses Werk zu erschaffen. »Ich dachte mir, das ist der Moment. Ich muss jetzt sprechen«, so Simz mit eigenen Worten. Genau dafür wurden Rap und Hip-Hop vor 50 Jahren erfunden. Für die Jury: Michael Rütten

Wortkunst

Teurer Wohnen (Vol. 1-7)

Verschiedene Akteure mit einem Score von Volker Bertelmann alias Hauschka. Podcast, Detektor.fm & Radio eins (ARD Audiothek)

Der Titel dieses Podcasts ist wörtlich zu verstehen. Anhand eines skandalösen Berliner Falls – ein Haus mit günstigen Wohnungen wird abgerissen zugunsten eines Neubaus mit luxuriösen Eigentumswohnungen – wird genau recherchiert, wie und warum es dazu kommen konnte. Es geht um Spekulantentum, politische Hilflosigkeit und reiche Leute, für die 25.000 Euro pro Quadratmeter kein Grund zur Aufregung sind. Beim Hören begreift man Strukturen, versteht verschleierte Finanztransaktionen und wünscht sich, das Ulmer Modell würde bundesweit angewandt werden. Eine Stadt kann auch ohne Bodenspekulanten existieren. Für die Jury: Manuela Reichart

Kinder- und Jugendaufnahmen

Kirsten Boie: Der Hoffnungsvogel

Jona Mues. mp3-CD, Oetinger Audio ISBN 978-3-8373-9382-8

Dieses Hörbuch ist Empowerment pur! Mit ihrer neuen Parabel gelingt es Kirsten Boie beim Rezipienten ein warmes und ermutigendes Gefühl zu erzeugen. Im »Hoffnungsvogel« steckt so viel Lebensweisheit, und es tut gut der Geschichte zu lauschen und sich von ihr berühren zu lassen. Jona Mues versteht es, diesen wunderbaren Text auf eine Art zu lesen, die witzig ist, leicht und abwechslungsreich. Und so ist man ganz mit dabei, im »Glücklichen Land«, das nicht mehr glücklich ist, und auf der abenteuerlichen Reise mit dem freundlichen Prinzen und der Tochter der Leuchtturmwärterin. Ich wünschte, unsere Welt hätte auch einen Hoffnungsvogel. Für die Jury: Helen Seyd

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