Jahrespreise

Einmal jährlich trifft sich der Jahresausschuss des PdSK e.V., um zehn Jahrespreise für die besten Produktionen des zurückliegenden Jahres zu bestimmen. Im Jahresausschuss arbeiten zehn Jurorinnen und Juroren aus verschiedenen Fachjurys zusammen. Die Besetzung des Jahresausschusses rotiert. Die Nominierungen für evtl. Jahrespreise obliegen der Gesamtheit aller Jurorinnen und Juroren. Jahrespreise werden im Rahmen öffentlicher Konzertauftritte oder Literaturlesungen (im Bereich Wortkunst) an die Preisträger verliehen. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jedem Preisträgerjahrgang hinterlegt.

Jahrespreise

Vojtech Spurný & Ondřej Havelka

Giuseppe Scarlatti: Dove è amore è gelosia. Lenka Máčiková, Aleš Briscein, Kateřina Knĕžikova, Jaroslav Březina; Hoforchester Schwarzenberg, Ltg. Vojtech Spurný, Regie: Ondřej Havelka. DVD, Opus Arte OA 1104 D / Blu-ray BD 7120 D (Naxos)

Mit seinem einzigartigen Fundus von originalen Dekorationen und Kostümen, einer intakten Bühnentechnik und -maschinerie und nicht zuletzt einem umfangreichen Archiv präsentiert sich das frisch renovierte Schlosstheater im böhmischen Český Krumlov als ein Juwel der barocken Theaterbaukunst. Die von Giuseppe Scarlatti komponierte, neapolitanisch inspirierte Buffo-Oper »Dove è amore è gelosia« (»Wo Liebe ist, gibt es auch Eifersucht«) wurde in diesem Theater 1768 aus Anlass einer Fürstenhochzeit uraufgeführt. Diese Aufzeichnung der Produktion am Originalschauplatz zieht lustvoll und sachkundig so viele Register barocken Bühnenzaubers, dass anderthalb Stunden lang nur vergnügt gehört und geschaut wird. Im perfekten Zusammenspiel der Solisten des Prager Nationaltheaters mit dem vom Dirigenten Vojtĕch Spurný angefeuerten Hoforchester Schwarzenberg und der stilsicheren Regie Ondřej Havelkas ist – verbunden mit einem aus dem Dornröschenschlaf geweckten genius loci – ein phänomenales Gesamtkunstwerk entstanden. Für den Jahresausschuss: Ludolf Baucke

Cecilia Bartoli

Vincenzo Bellini: Norma. Cecilia Bartoli, Sumi Jo, John Osborn, Michele Pertusi, Orchestra La Scintilla, Giovanni Antonini. 2 CDs, Decca 478 3517 2 (Universal)

Es gibt die traditionelle Linie der »Norma«-Lesarten, mit Maria Callas, Joan Sutherland oder Edita Gruberova. Und es gibt Cecilia Bartoli. Streitbar für die einen, überraschend für alle. Bartoli hat mit der »Norma« ausgerechnet diese vielleicht berühmteste, berüchtigtste Belkanto-Partie dem ursprünglich gemeinten Fach des Mezzo-Soprans zurückgegeben. Sie tut dies mit der ihr eigenen Kunst des Singens: ein Singen quasi mit geballten Fäustchen, voll knallender Koloraturen, explosionshafter Fiorituren und unter gekonnter Überwindung jener leicht ältlichen Grandezza, wie sie uns, nicht zuletzt wegen der herkömmlichen Orchester, aus vielen Aufnahmen dieses Werkes entgegenweht. Bartoli arbeitet konsequent mit einem italienischen Originalklang-Dirigenten. Es ist dies der gewiss risikoreichste Wurf unter ihren bisherigen Opern-Gesamtaufnahmen: ein Dokument des Singens – und Denkens – in Alternativen. Fast ein Wunder, zumal in den ausgedünnten Zeiten der Opern-CD-Produktion heute. Für den Jahresausschuss: Kai Luehrs-Kaiser

Julia Lezhneva

»Alleluia«. Solo-Motetten von Antonio Vivaldi, Nicola Porpora, Georg Friedrich Händel und Wolfgang Amadeus Mozart. Julia Lezhneva, Il Giardino Armonico, Leitung: Giovanni Antonini. Decca 478 5242 (Universal)

Nur wenige Sänger wissen schon so früh über sich selbst so genau Bescheid wie Julia Lezhneva. Die russische Sopranistin, 23, fühlt sich noch mit einem Bein in der Ausbildung und lässt sich nur auf Repertoire ein, welches »gut« ist für ihre quecksilberhelle, koloraturbewegliche Stimme. Als sie nach ihrem ersten Soloalbum mit Rossini-Arien (verlegt von naive) vom Majorlabel Decca unter Vertrag genommen wurde, setzte sie hartnäckig ihre Bedingungen durch. Der Erfolg gibt ihr Recht: Staunenswert perfekt, zugleich überraschend gewagt wirkt dies Konzeptalbum mit virtuosen Solo- Motetten aus dem späten 17. und frühen 18. Jahrhundert, akkompagniert von einem Spitzenorchester der historischen Aufführungspraxis. Die Auswahl der Werke, teils für Kastraten komponiert, stellt Bekanntes neben Unbekanntes, Brillantes neben Empfindsames. Und Lezhneva imponiert mit intensivem Espressivo, makelloser Technik, blendenden Attacken, fließender Leichtigkeit in den Verzierungen und einer silberhellen Tessitura, die auch im tieferen Register ihren festen Kern nicht verliert. Seit dem Debüt von Cecilia Bartoli mit »Antiche arie« hat die Plattengeschichte so ein Wunder nicht mehr erlebt. Für den Jahresausschuss: Eleonore Büning

Alfred Cortot

Anniversary Edition. 40 CDs, EMI 704907 2 5

Alfred Cortot gilt als meistbewunderter Altmeister der Klavier-Zunft und als Inkarnation der französischen Klavierschule schlechthin. Verwunderlich ist dies, wenn man bedenkt, dass man sich erstmals jetzt, dank dieser Jubiläumsedition, ein umfassendes und genaueres Bild dieses Pianisten machen kann. Das Ergebnis ist frappierend. Cortot war nicht nur ein eleganter Individualist, der es sich leisten konnte, Persönlichkeit über Fehlerfreiheit zu stellen. Seine Rubati sind von größerer Freiheit und Radikalität, als sie heute je ein Pianist wagen würde. Die salonhafte Feinheit, fast möchte man sagen: die »Dekadenz« seiner Schumann- und Chopin-Deutungen überwältigen gerade deshalb, weil sich Cortot seinem Hörer in nichts anbequemt. Auch die bislang unterdrückten, späten Beethoven-Aufnahmen sind in der Box enthalten. Sie ist das Vermächtnis einer Zeit, die man umso mehr anstaunt, je weniger die jungen Pianisten daraus zu lernen scheinen. Hinreißend. Für den Jahresausschuss: Kai Luehrs-Kaiser

Frank Peter Zimmermann

Paul Hindemith: Violinkonzert (1939), Sonate für Violine Solo op. 31,2, Sonate für Violine und Klavier op. 11,1, Sonate in E, Sonate in C. Frank Peter Zimmermann, Enrico Pace, RSO Frankfurt, Paavo Järvi. BIS-Records SACD-2024 (Klassik Center)

Das Violinkonzert von Paul Hindemith konnte sich bislang noch keinen festen Platz im Repertoire der Geiger erobern. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass Frank-Peter Zimmermann das Werk seit Jahren immer wieder aufführt. Jetzt hat er es mit dem Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks unter Leitung von Paavo Järvi sehr tonschön, tiefblickend und geigerisch höchst souverän eingespielt. Auch die Kopplung mit ausgewählten Werken aus dem Fundus der Kammermusik ist eine echte Horizonterweiterung und ein überzeugendes Plädoyer für Hindemith. So werden noch bestehende Vorurteile gegenüber seiner Musik geistreich und subtil widerlegt. Für den Jahresausschuss: Norbert Hornig

Der Jahrespreis an den Geiger Frank-Peter Zimmermann wurde am 20. Dezember 2013 im Rahmen eines Konzertes im Leipziger Gewandhaus überreicht.

June Tabor, Iain Ballamy, Huw Warren

Quercus. ECM 2276/3724555 (Universal)

Die große Muse des englischen Folk-Revivals, June Tabor, umgibt sich hier mit zwei unüberschaubar vielseitigen Zentralgestalten der britischen Jazzszene: dem Saxophonisten Iain Ballamy und dem Pianisten Huw Warren. Aus Mitschnitten verschiedener Konzerte ist, in feiner ECM-typischer Aufnahmetechnik, eine Produktion höchster Originalität und ästhetischer Vielfalt entstanden. Mit Tenor- und Sopransaxophon reflektiert Ballamy in kleinen improvisierten Zwischenspielen die melodischen Substanzen der Traditionals, oder er spielt zarte Kontrapunkte zu Tabors Gesang. Das Programm spiegelt Tabors und Warrens Intellektualität und Unternehmungslust auf faszinierendste Weise. Es reicht von anonymen Shakespeare- Vertonungen der Vergangenheit bis zu neuen Kompositionen über Texten noch lebender Poeten, von Liebesliedern der anspruchsvolleren Sorte bis zu Auseinandersetzungen mit der politischen Gegenwart. June Tabors Stimme mit ihrer aristokratischen Wärme wurde noch nie so sorgsam in Szene gesetzt. Für den Jahresausschuss: Ulrich Olshausen

Peter Brötzmann

Long Story Short. 5 CDs, Trost Records 112 (office@trost.at)

Diese fünf CDs umfassende Kassette präsentiert den Mitschnitt eines fünftägigen Festivals im österreichischen Wels im Jahr 2011. Peter Brötzmann, der große, explosive Energiespieler des Free Jazz, weltweit anerkannt als originär deutscher Beitrag zur Suche nach neuen Freiheiten, Sounds und Kommune-Gefühlen, konnte hier schalten und walten, was die Einladungen und Kombinationen betraf. Mit Musikern aus USA, Afrika, Holland, den skandinavischen und anderen Ländern ist hier ein Schallplattenwerk großer Informationsfülle entstanden. Neben dem Brötzmannschen Power Play der Überblasstürme gibt es auch Intimeres, sensible Klang- und Melodie-Expositionen und die berühmten, halb im Unterbewusstsein liegenden motivischen und atmosphärischen Reaktionen zwischen den Spielern. Brötzmann spielt übrigens nicht überall mit. Seine Rolle als »Kurator« des Festivals indes nimmt er ernst. Er ist der Mittelpunkt dieser Produktion – aber kein Egomane. Für den Jahresausschuss: Ulrich Olshausen

Rokia Traoré

Beautiful Africa. Out Here 977722 (Indigo)

Dieses fünfte Album der Musikerin aus Mali hätte auch den Titel »Beautiful World« tragen können, spiegelt es doch ihre Vorliebe für europäischen Rock wider, die bereits auf dem Vorgänger »Tchamantché« durchschimmerte. Rokia Traoré führt zusammen, was vielleicht zunächst nicht zusammengehört, aber erstaunlich gut zusammenklingt: zeitgenössische Popmusik aus Mali, mit Texten in der westafrikanischen Sprache Bambara, und britischen Indie-Rock, der an PJ Harvey erinnert. Und wie jene ist auch Traoré zugleich Gitarristin und Sängerin. Nichts drängt in den Vordergrund, alles steht gleichberechtigt im Aufgebot dieser neun Lieder. In »Kouma« darf die Gitarre kurz ansägen, dafür wirkt »Sarama« fast schon besänftigend melancholisch, stark und zerbrechlich zugleich. Puristen fordert Rokia Traoré mit diesem Album voll widersprüchlicher Schönheit geradezu heraus, vermeintliche Mauern zwischen den Genres und tatsächliche kontinentale Schranken reißt sie mit eindringlichem Charme mühelos nieder. Für den Jahresausschuss: Torsten Fuchs

Der Jahrespreis wurde am 29. September 2013 im Rahmen des Düsseldorf Festivals verliehen.

Julia Holter

Loud City Song. Domino WIGCD306 (GoodToGo)

Mit leisem Gesang beginnt »Loud City Song«. Selbst wenn es um das Laute geht, die alles übertönende Geräuschkulisse von Los Angeles, bleibt die Grundstimmung ruhig. Der Lärm von medialer Beschallung, Werbegeschrei, Promi-News und so fort, der typische Sound- und Lifestyle- Albtraum der Großstadt im 21. Jahrhundert also, bestimmt jedoch trotz seiner Abwesenheit den Klang dieser Suite aus Avantgarde-Popstücken. Was verspielt, verträumt wirkt, ist ein genau durchdachtes Konzeptalbum. Das auf einem Colette-Roman basierende Filmmusical »Gigi« dient als lockere Vorlage, liefert Szenen, welche die studierte Komponistin Julia Holter in eine eigene Geschichte einbindet. Ihr gelingt eine hypnotisierende Mischung aus subtiler Poesie, Momenten unheimlicher Heimeligkeit, bedrängenden Episoden und elegischen Balladen im Ambient-Modus, ausgestaltet mit Posaune, Perkussion, Kontrabass, Saxophon, Geige, Cello, Synthesizern, Field Recordings und Stimme. Verweise auf Laurie Anderson, Joni Mitchell, Robert Wyatt, Joanna Newsom und Kate Bush sind erlaubt. Bei aller Tiefe sind die neun Titel dieses Werks erstaunlich zugänglich und leicht, manchmal sogar humorvoll. Für den Jahresausschuss: Christian Tjaben

Der Jahrespreis an Julia Holter wurde am 11. Juli 2014 im Heidelberger Kulturhaus Karlstorbahnhof verliehen.

Bob Dylan

Another Self Portrait. The Bootleg Series Vol. 10. 2 CDs, Columbia 88883734872 bzw. 4 CDs, 88883734882 (Sony)

Wer ist Bob Dylan – und wenn ja, wie viele? Immer wieder zeichnet die »Bootleg Series« das Bild dieses notorisch wandlungsfreudigen Künstlers neu. Nummer zehn wirft überraschend Licht in eine Zeit der persönlichen und künstlerischen Krise. Dylans Doppel-LP »Self Portrait« wurde 1970 von der Kritik als kitschig-überproduziert und beliebig zusammengestellt verrissen, er selbst hat das Album später als Witz bezeichnet. Dagegen zeigen ihn die 35 hier erstmalig publizierten Aufnahmen aus jenen Jahren auf der Höhe seiner Kunst, sowohl bei schlichteren, ursprünglichen Versionen von damals veröffentlichten Songs wie auch bei bisher gänzlich unveröffentlichten Titeln. Nicht zuletzt unterstreicht das »andere Selbstporträt« die Bedeutung von Dylans Auseinandersetzung mit der Folk-Tradition und von Coverversionen für sein Schaffen. Für den Jahresausschuss: Johann Kneihs

James Joyce: Ulysses

Vollständige Lesung. Mit u.a. Burghart Klaußner, Axel Milberg, Corinna Kirchhoff, Hanns Zischler, Peter Matic, Frank Arnold, Anna Thalbach, Ulrich Noethen, Gerd Wameling, Edith Clever, Ulrich Matthes, Matthias Brandt, Wolfram Koch, Heiko Deutschmann, Regie: Ralph Schäfer. 31 CDs, Der Hörverlag ISBN 978-3867178-754

Bücher haben ihre Schicksale, gelesen oder ungelesen. Außer einigen Experten haben es in der Regel gewiss nur wenige Leser vermocht, über ein paar Seiten des »Ulysses« von James Joyce hinaus zu dringen, ungeachtet der, wie der Autor einräumte, »spaßhaft-geschwätzigen, allumfassenden Chronik mit vielfältigstem Material«. Vielleicht fühlen sie sich zu sehr eingeschüchtert von der allzu großen Gelehrtheit, der tollen Sprach- und Gedankenakrobatik, der Differenziertheit der Erzähltechniken und der inhaltlich kaum nachvollziehbaren Motiv- und Symbolfülle, womit Joyce den hundsgewöhnlichen Alltag der Dubliner Kleinbürger reflektiert, ihre Handlungen und Begegnungen und Gedanken am 16. Juni 1904 von acht Uhr früh bis zum nächsten Morgen um etwa drei Uhr. Bloomsday – man feiert ihn heute noch. Um der Rezeption des Werkes nun endlich den Weg frei zu machen, wurde es unmittelbar nach Aufhebung der Sperrfrist 2012 von einigen Rundfunkanstalten in Kooperation mit dem Münchener Hörverlag in gleich zwei mustergültigen Produktionen herausgebracht: erst als Hörspiel in kürzerer Fassung (23 CDs), danach in voller Länge als Lesefassung (31 CDs). Letztere Version wird von exzellenten Schauspielern ohne jedes akustische Beiwerk interpretiert. Diese Produktion bietet ein Hörvolumen von knapp vierzigstündiger Dauer und wird als zeitloses Dokument höchsten Grades in die Geschichte der Tonaufzeichnung eingehen. Für den Jahresausschuss: Peter Fuhrmann

Der Jahrespreis wurde im Rahmen der Leipziger Buchmesse am 13. März 2014 an den Münchner Hörverlag verliehen.

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