Jahrespreise

Einmal jährlich trifft sich der Jahresausschuss des PdSK e.V., um zehn Jahrespreise für die besten Produktionen des zurückliegenden Jahres zu bestimmen. Im Jahresausschuss arbeiten zehn Jurorinnen und Juroren aus verschiedenen Fachjurys zusammen. Die Besetzung des Jahresausschusses rotiert. Die Nominierungen für evtl. Jahrespreise obliegen der Gesamtheit aller Jurorinnen und Juroren. Jahrespreise werden im Rahmen öffentlicher Konzertauftritte oder Literaturlesungen (im Bereich Wortkunst) an die Preisträger verliehen. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jedem Preisträgerjahrgang hinterlegt.

Jahrespreise

Mariss Jansons & Stefan Herheim

Peter Iljitsch Tschaikowsky: Pique Dame. Misha Didyk, Alexey Markov, Vladimir Stoyanov, Andrei Popov, Andrii Goniukov, Mikhail Makarov, Anatoli Sivko, Larissa Diadkova, Svetlana Aksenova, Anna Goryachova, Chorus of the Dutch National Opera, Nieuw Amsterdams Kinderkoor, The Royal Concertgebouw Orchestra, Mariss Jansons, Regie: Stefan Herheim. Blu-ray/2 DVDs, C-Major 744004/743908 (Naxos)

Das alte Guckkasten-Theater mit seinen Hubpodien, Soffitten und Spiegelprospekten ist für Stefan Herheim immer noch gut genug. Er benutzt es wie den Handschuh eines Zauberers: Lässt Figuren verschwinden, Ideen auftauchen, Identitäten wechseln – Gesang wird zu Bildern, Bilder erstarren zu Albträumen. In Herheims epochemachender Inszenierung der »Pique Dame«, 2016 am Amsterdamer Muziektheater produziert, spielt Peter Tschaikowsky persönlich die Hauptrolle. Sein Leidensweg als verfolgter Homosexueller wird in atemraubend suggestive Engführung gebracht mit Puschkins Tragödie vom Außenseiter und Spieler Hermann, der alles verzockt, Liebe und Leben. Eine fast durchweg herausragende Sängerbesetzung wird befeuert und veredelt durch die elegisch-symphonisch aufgefasste Lesart der Partitur durch Mariss Janons: eine Sternstunde! Für den Jahresausschuss: Eleonore Büning

Lucile Richardot & Sébastien Daucé

Perpetual Night. 17th Century Ayres and Songs. Werke von John Banister, John Blow, John Coprario, James Hart, John Hilton, John Jackson, Robert Johnson, Nicholas Lanier, William Lawes, Henry Purcell, Robert Ramsey und William Webb. Lucile Richardot, Ensemble Correspondances, Sébastien Daucé. harmonia mundi HMM 902269

Lucile Richardot besitzt nicht nur eine Ausnahmestimme, auch ihre Karriere ist ungewöhnlich verlaufen. Sie arbeitete als Journalistin, erst mit siebenundzwanzig rückte sie den klassischen Gesang in ihren Lebensmittelpunkt. Ihr Timbre verwirrt und fesselt zugleich: Der Stimmumfang reicht von geschmeidigen Herrenklängen bis in eine gläserne, dunkel getönte Mezzo-Höhe. Akkuratesse vermählt sich mit stupender Sinnlichkeit, was dem Repertoire ihres neuen Albums zugute kommt, einer Auswahl rarer Barockmusik aus dem England des siebzehnten Jahrhunderts. Auf ihrem Parcours zwischen Liedern, Airs und dramatischen Szenen beseelt Richardot veritable Entdeckungen wie William Webbs »Powerful Morpheus« mit schattigem Schönklang, vom Ensemble Correspondances unter Sébastien Daucé betörend feinsinnig begleitet. Für den Jahresausschuss: Christoph Irrgeher

Der Jahrespreis wurde am 24. November 2018 im Rahmen eines Konzerts in der Schlosskirche von Versailles verliehen.

Anita Rachvelishvili

Arien von Dimitri Arakishvili, Georges Bizet, Charles Gounod, Pietro Mascagni, Jules Massenet, Nikolai Rimsky-Korsakov, Camille Saint-Saëns und Giuseppe Verdi. Anita Rachvelishvili, Barbara Massaro, Coro del Teatro Municipale di Piacenza, Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI, Giacomo Sagripanti. Sony 19075808752

Das Plattendebüt der jungen georgischen Mezzosopranistin Anita Rachvelishvili, Jahrgang 1984, ist wahrlich spektakulär. Seit ihrer Carmen an der Mailänder Scala gehört sie zu den »shooting stars« der internationalen Opernwelt, gefeiert in London und New York ebenso wie in Paris, München oder Berlin. Die glühende Intensität ihrer fokussierten Stimme und das sichere Stilempfinden lassen an Teresa Berganza oder Marilyn Horne denken, während das natürlich dunkle Timbre an Olga Borodina erinnert. Rachvelishvili verfügt über alle Schattierungen des Ausdrucks zwischen Verführung (Carmen und Dalila), Zerbrechlichkeit (Charlotte und Santuzza) und Selbstbewusstsein (Eboli und Sapho). Diese Aufnahme ist mehr als ein Versprechen – sie ist eine Bestätigung großer Kunst. Für den Jahresausschuss: Michael Stegemann

Der Jahrespreis wurde am 15. September 2019 im Rahmen einer Opernvorstellung im Het Muziektheater in Amsterdam verliehen.

Christian Tetzlaff

Johann Sebastian Bach: Sonaten und Partiten für Violine solo BWV 1001-1006. Christian Tetzlaff. 2 CDs, Ondine ODE 1299-2D (Naxos)

Diese sechs Bachschen Werke für Solovioline sind die denkbar tiefgründigsten Exempel jedweder Virtuosen-Musik. Christian Tetzlaff hat sie jetzt zum zweiten Mal eingespielt – noch bewusster durchdacht, noch prägnanter formuliert. Der 1966 in Hamburg geborene, in Lübeck und Cincinnati ausgebildete Musiker gehört seit langem zu den intelligentesten und vielseitigsten Klassikkünstlern der Gegenwart. Er ist konzertant international unterwegs mit den großen Orchestern, zugleich leidenschaftlich engagiert in der Kammermusik, hat sich als Streiter für die Musik des zwanzigsten Jahrhunderts hervorgetan, etwa für Arnold Schönbergs Violinkonzert. Bachs legendäre Tanzsätze spielt Tetzlaff mit einer Genauigkeit und Vielfalt »sprechender« Artikulation, die beispielhaft ist sowie mit einer Emphase, die den Hörer mitreisst. Für den Jahresausschuss: Wolfgang Schreiber

Der Jahrespreis wurde am 16. Januar 2019 im Rahmen eines Konzerts im Saal des ehemaligen Landtags in Oldenburg verliehen.

Franui

Ständchen der Dinge. Geht es immer so weiter?
col legno WWE 1CD 20440 (harmonia mundi)

Trauermärsche spielen eine tragende Rolle auf dem Jubiläums-Album der Musikbanda Franui. Vom Friedhof zieht die Dorfkapelle zum Tanzboden, spielend und singend verwischt Franui seit fünfundzwanzig Jahren sämtliche Grenzen auf der Skala der hintergründig-ironischen Mehrdeutigkeit. Weinen und Lachen gehen ineinander über in den Arrangements dieses zehnköpfigen Ensembles aus Ost-Tirol, auch Tradition und Moderne, Volksnähe und Volksferne. Gastweise ist der Schauspieler Peter Simonischek mit dabei in diesem Geburtstagsprogramm aus Novitäten und vergriffenen älteren Stücken, an dem man sich nicht satthören mag. Auch der Pfeifer und Puppenspieler Nikolaus Habjan macht mit, auch Dichter Hans Magnus Enzensberger. Dass das künftig »immer so weiter« geht, ergänzen die Musiker freilich um ein Fragezeichen: Nichts bleibt, wie es war. Für den Jahresausschuss: Heinz Zietsch

Der Jahrespreis wurde am 11. Januar 2019 im Rahmen eines Konzerts im Konzerthaus Wien verliehen.

Shannon Shaw

Shannon In Nashville. Nonesuch/Easy Eye Sound EES-006 (Warner)

Als Shannon & The Clams ist sie ein Kind der Do-It-Yourself-Garagen-Szene in Kalifornien, wo sie mit herzerfülltem Doo Wop Rock’n’Roll die Hütten heizte. Diesem Charme erlag auch Produzent Dan Auerbach (The Black Keys) und lockte das unbeschriebene Blatt in sein Easy Eye Studio, Nashville, wo sie ohne ihre vertraute Band, dafür mit gestandenen Session Playern wie Gene Chrisman (Elvis Presley, Aretha Franklin) und Bobby Wood (Jerry Lee Lewis, Wilson Pickett) einen klassischen Pop-R&B Sound neu auflegte. Ihre Aufregung sei nicht in Worte zu fassen gewesen, sagt sie. Shannon kennt keine Noten, hat diesmal auf ihr Bass-Spiel verzichten müssen, was jedoch kein zu hoher Preis ist für ein so sensationell dichtes Retro-Album. Die Anspielung im Titel auf »Dusty (Springfield) in Memphis« weist den Weg. Für den Jahresausschuss: Christine Heise

Janelle Monáe

Dirty Computer. Atlantic 567348-2 (Warner)

Mit ihrem dritten Album zeigt sich die zweiunddreißigjährige Sängerin und Songschreiberin als selbstbewusste R‘n‘B-Künstlerin, die elegant mit den Stilelementen der Black Music jongliert. Mal huldigt sie mit Falsettstimme ihrem Mentor Prince, mal holt sie sich Pharrell Williams als Verstärkung. Beim Intro bittet sie Brian Wilson für den ätherischen Chorus ans Mikro, mit von O-Tönen von Martin Luther King und Barack Obama unterlegten Songs nimmt sie die Ungleichheiten der US-Gesellschaft aufs Korn. Janelle Monáe schüttelt von Soul, Gospel und R&B über Funk und Pop bis hin zu Elektronik und Rap alle stilistischen Spielkarten lässig aus dem Ärmel. Dabei kommen Humor, feministischer Kampfgeist und politische Statements nicht zu kurz. »Dirty Computer« ist ihr bislang bestes Album, ein Meilenstein, ein Meisterwerk. Für den Jahresausschuss: Manfred Gillig-Degrave

Runrig

Rarities – Limited Collectors Box. Unreleased Live Tracks, Demos, B-Sides, Videos & New 2018 Version of »Somewhere«. 6 CDs & 3 DVDs, RCA 88985 46384 2 (Sony)

Nach fünfundvierzig Jahren ist Schluss! Die schottischen Folkrocker gehen im Vollbesitz ihrer kreativen Kräfte von der Bühne und feiern sich und ihre Fans mit einer Art umfassenden Werkschau: Sechs CDs und drei DVDs in einer Box, alles live und alles bislang unveröffentlicht, wortwörtlich also Raritäten. Diese neun Silberlinge machen noch einmal klar, was Runrig so überzeugend gelungen ist: die Entwicklung eines eigenen Sounds, der jederzeit als schottisch identifiziert werden kann und trotzdem um jegliche volkstümliche Peinlichkeit einen riesigen Bogen macht. Hinzu kamen unzählige selbstgeschriebene gälische Lieder, die der gefährdeten Sprache eine neue Kraft gaben – immer zeitgemäß, vieles sogar hitparadentauglich. Das gelingt nicht vielen Bands. Für den Jahresausschuss: Mike Kamp

Der Jahrespreis wurde am 2. Februar 2019 im Rahmen des „Showcase Scotland“ in Glasgow verliehen.

Saz’iso

At Least Wave Your Handkerchief At Me: The Joys And Sorrows Of Southern Albanian Song. Glitterbeat GBCD 053 (Indigo)

Klarinette und Violine zelebrieren die Melodie, die Laute ist für den bordunartigen Grundklang zuständig, die Handtrommel für den Rhythmus – und dann setzt der Gesang ein, iso-polyphon, mit mindestens zwei Vokalmelodien. Liest sich technisch, klingt herzzerreißend! Klassische traditionelle Musik aus dem Süden Albaniens überträgt Emotionen wie Freude und Trauer auch ohne Sprachverständnis, sie erklingt auf Beerdigungen ebenso wie auf Hochzeiten oder jedweder Feier und wird von dem achtköpfigen Ensemble problemlos auf die Bühne übertragen. Oder ins Studio, wo sich für den erfahrenen Produzent Joe Boyd damit ein Traum erfüllt hat. Fürwahr eine Ode an die kulturelle Vielfalt der Völker! Für den Jahresausschuss: Mike Kamp

Peter Simonischek & Michael König

Thomas Bernhard: Städtebeschimpfungen. Herausgegeben von Raimund Fellinger. Mit Peter Simonischek, Michael König. 3 CDs, der Hörverlag ISBN 978-3-8445-2689-9

»Rouen, der Nachttopf Frankreichs«, sagte Maupassant. Städtebeschimpfung ist ein nicht zu unterschätzendes Subgenre der Literatur, zu dem James Joyce, Thomas Mann und Marieluise Fleißer wichtige Beiträge leisteten. Dennoch überrascht es, dem einsamen Meister dieser Disziplin, Thomas Bernhard, ein so würdiges Denkmal errichtet zu sehen. Von »Altaussee« bis »Wien« reicht sein Schmäh-ABC, gezogen als Quersumme aus dem Gesamtwerk. Ingeniös zeigt Peter Simonischek, wie ein Sprecher überschäumen kann vor Gift, Galle und echter innerer Empörung. Die Amtskorrespondenz, die sich um manche Affäre rankt (»Morgen Augsburg!«), findet in Michael König eine Stimme von lachhafter Belegtheit und Enge. Auf seine lakonische Essenz heruntergekocht, lehrt Bernhard die ultimative Leichtigkeit der Weltverächtung. Köstlich. Für den Jahresausschuss: Kai Luehrs-Kaiser

Der Jahrespreis wurde am 27. Februar 2019 im Rahmen einer Lesung im Literaturhaus München verliehen.

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