Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

NEU: Longlist 2/2024, veröffentlicht am 5. April 2024

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Robert Schumann: Sämtliche symphonischen Werke Vol. 1

Symphonie Nr.1 B-Dur op. 38; Symphonie Nr.2. d-moll op. 120 ; Ouvertüre, Scherzo und Finale E-Dur op. 58. WDR Sinfonieorchester Köln, Heinz Holliger. audite 97.677 (Edel)

Für Heinz Holliger, Komponist und Interpret, ist Robert Schumann kein repräsentativ vereinnahmter Kulturheld, wie es Beethoven für das neunzehnte Jahrhundert war. Er sieht ihn vielmehr im Fokus einer Beschädigtheit oder Nichtvollendung, wie sie zu den entscheidenden Merkmalen der Moderne gehören. So lässt er in seiner Lesart der Schumannschen Orchesterwerke mit dem WDR-Sinfonieorchester die Sprödigkeiten der Musik hervortreten, scheut nicht zurück vor clair obscur, vor Motivgestrüpp. Die Klanglichkeit wirkt unprätentiös, ungeschönt, tendenziell ungelenk. Holliger retuschiert die Instrumentation nicht, er bringt die d-moll-Symphonie in der Urfassung von 1841. Jenseits von Klassizität, jenseits von Romantik auch, ist dies ein neuer, noch näherer, noch fernerer Schumann. Für die Jury: Hans-Klaus Jungheinrich

Orchestermusik und Konzerte

Bruno Maderna: Sämtliche Werke für Orchester Vol. 5

Konzert für Violine und Orchester (1969); Konzert für Klavier und Orchester (1959). Thomas Zehetmair, Markus Bellheim, Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks Frankfurt, Arturo Tamayo. SACD Neos 10937 (harmonia mundi)

Die Musik von Bruno Maderna ist nach seinem allzu frühen Tod ein wenig in Vergessenheit geraten. Umso bedeutender die Edition sämtlicher Orchesterwerke Madernas beim Label Neos, deren fünfte Folge das Klavierkonzert von 1959 sowie das Violinkonzert aus dem Jahr 1969 präsentiert. Der Geiger Thomas Zehetmair und der Pianist Markus Bellheim verleihen den subtil-brillanten Solopartien eine irisierende Schönheit und Tiefe, die Partituren leuchten im Klang-Geflecht mit dem Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks unter Leitung von Arturo Tamayo in zahllosen Farben. Für die Jury: Michael Stegemann

Kammermusik

Armida Quartett – Bartók, Kurtág, Ligeti

Béla Bartók: Streichquartett Nr. 4 Sz 91. György Kurtág: Streichquartett op. 1. György Ligeti: Streichquartett Nr. 1. Armida Quartett. CAvi 8553 298 (harmonia mundi)

Tatsächlich, vom ersten Ton an merkt man den vier jungen Interpreten des Armida Quartetts, die aus der Berliner Schule des Artemis Quartetts hervorgegangen sind, hohe Begeisterung für diese drei so unterschiedlichen Werke an. Alles ist klug und nuanciert durchgestaltet, strukturell transparent, dynamisch fein abgestuft und im Klangbild von einer faszinierenden Klarheit. Dabei hat jede der vier Stimmen ihren ganz eigenen, individuellen Ton und ordnet sich zugleich harmonisch in den Quartettgesamtklang ein. Man darf gespannt sein auf den weiteren Weg dieser neuen Formation. Für die Jury: Ingeborg Allihn

Tasteninstrumente

Ferruccio Busoni: Späte Klaviermusik

Indianisches Tagebuch, Elegien, Klavierübung, Fantasia nach J. S. Bach, Albumblätter u.a. Marc-André Hamelin. 3 CDs Hyperion CDA 67951/3 (Note 1)

Es ist nicht das erste Mal, dass der kanadische Pianist Marc-André Hamelin sich mit Literatur von Ferruccio Busoni zeigt. Diesmal leistet er im besten Sinne Schwerarbeit, die freilich leicht scheint in allen Fragen der Mechanik und stets zutreffend ist in der gedanklichen Ausarbeitung des Repertoires. Man kann nur schwärmen von Hamelins technischer Brillanz, seinem Vermögen, den verschiedensten Aufgaben ihre je eigene intellektuelle, romantische, sportliche oder parodierende Eigenart zu sichern. In Stücken, die solche Parameter verschmelzen oder gegenüberstellen, verblüfft er mit seiner Kunst, die auskomponierte Gescheitheit Busonis mit der Philologie in Schwebe zu halten. Für die Jury: Peter Cossé

Tasteninstrumente

Revived in Tango

Werke von Guy Bovet, Pablo Bruno, Johann Caspar Kerll, Girolamo Frescobaldi, Johann Sebastian Bach, Domenico Scarlatti, Nicolas de Grigny. Ines Maidre. Pro Musica PPC 9066 (Naxos)

Die estnische Organistin Ines Maidre brachte argentinischen Tango mit frühbarocker Musik für Tasteninstrumente aus Italien, Frankreich, Spanien und Deutschland zusammen. Sie schuf damit ein neues Genre, das dem europäischen Orgelerbe die vitale Kraft südamerikanischer Tanzmusik einverleibt. Guy Bovet ließ sich in seinen »Tangos ecclesiasticos« von diesen Kontrasten inspirieren, und Maidre stellt dies auf der historischen Binvignat & Houdtappel-Orgel im belgischen Hasselt dar, neben Werken etwa von Girolamo Frescobaldi oder Domenico Scarlatti. Eine beglückende Dramaturgie, eine faszinierende Interpretation, eine Grenzüberschreitung, die selbst Orgel-Skeptiker jubeln lassen wird! Für die Jury: Sabine Fallenstein

Oper

Jean-Baptiste Lully: Phaéton

Emiliano Gonzalez Toro, Ingrid Perruche, Isabelle Druet, Gaёlle Arquet, Cyril Auvity, Andrew Foster-Williams, Frédéric Caton, Benoît Arnould, Virginie Thomas, Choeur de Chambre de Namur, Les Talens Lyriques, Christophe Rousset. 2 CDs Aparté AP 061 (harmonia mundi)

Bei der Wiederentdeckung der Bühnenwerke von Jean-Baptiste Lully bestechen Christophe Rousset und sein Ensemble Les Talens Lyriques durch ein saftig sprühendes Klangbild und explosive Frische – vor allem aber durch eine durchweg idiomatische Besetzung mit gleich mehreren haute-contres (einer spezifisch französischen Spielart des Tenors). So konnte mit dieser Aufnahme der tragédie en musique »Phaéton« ein Neuaufbruch gelingen im Umgang mit der französischen Barockoper – jenseits der großen Klassiklabels, fern eines auf Stars setzenden Glamourwesens, und mit einem epochemachenden Komponisten, für den sich leider auch in Deutschland kaum ein Opernhaus zu interessieren scheint. Für die Jury: Kai Luehrs-Kaiser

Oper

Richard Wagner: Der fliegende Holländer / Pierre-Louis Dietsch: Le Vaisseau Fantôme

Evgeny Nikitin, Ingela Brimberg, Russell Braun, Sally Matthews, Eric Cutler, Mika Kares, Bernard Richter, Helene Schneiderman, Ugo Rabec, Eesti Filharmoonia Kamerkoor, Les Musiciens du Louvre, Marc Minkowski. 4 CDs Naïve V 5349 (Indigo)

Horizonterweiterung als Nachklang zum Wagnerjahr: Minkowski dirigiert den »Fliegenden Holländer« in der einaktigen Frühfassung von 1841, und er sorgt dazu, gleichermaßen reizvoll, für die erste Hörbegegnung mit dem »Holländer« des französischen Kapellmeisters Dietsch, der den von Wagner an die Pariser Oper verkaufte Textentwurf benutzte. Dessen »Vaisseau Fantôme ou le Maudit des mers« belegt das hohe Niveau der damaligen Opern-Normalkost in Paris, mit Parallelen etwa zu Auber und Halévy: ein melancholischer Titelheld, der seinen Steuermann erschlug und bei dem deshalb im Moment des Ringetausches mit seiner Minna (!) eine Art Amfortas-Wunde aufbricht. Für alle Musiktheaterfreunde ist dieser editorische Doppelschlag ein Muss! Für die Jury: Wolf-Dieter Peter

Chor und Vokalensemble

Johann Sebastian Bach: Kantaten Vol. 55

Lobe den Herrn, meine Seele BWV 69; Freue dich, erlöste Schar BWV 30; Gloria in excelsis deo BWV 191. Hana Blažiková, Robin Blaze, Gerd Türk, Peter Kooij, Bach Collegium Japan, Masaaki Suzuki. SACD BIS 2031 (Klassik Center)

Vollendet das herrliche Werk! Alle Kirchenkantaten von Johann Sebastian Bach, aufgenommen mit einem Ensemble sowie, auch in dieser letzten Folge, wiederum mit vortrefflichen Solisten, gesungen mit Schwung, musiziert mit Tiefgang, aus einem Guss und wie aus einer Feder, dazu, das versteht sich, auf historischen Instrumenten, aber ohne jede Spur dogmatischer Engstirnigkeit. Der Dirigent Masaaki Suzuki ist spiritus rector dieser Edition, er rechnet längst zu den ganz Großen in der Geschichte der Bachinterpretation. Für die Jury: Wolfram Goertz

Klassisches Lied und Vokalrecital

Giovanni Battista Pergolesi: Stabat Mater

& Laudate Pueri Dominum; Confitebor tibi Domine. Julia Lezhneva, Philippe Jaroussky, Coro della Radiotelevisione Svizzera, I Barocchisti, Diego Fasolis. Erato 5099 9319 14727 (Warner)

Mit Julia Lezhneva und Philippe Jaroussky haben sich zwei großartige junge Sänger zusammen gefunden, um die Schmerzen Marias in Pergolesis vielgeliebtem, vielgespieltem »Stabat Mater« in intimster Vollkommenheit zum Ausdruck zu bringen. Der Coro della Radiotelevisione Svizzera und das Ensemble I Barocchisti unter Leitung von Diego Fasolis setzen sich in den Psalmvertonungen »Laudate Pueri Dominum« und »Confitebor tibi Domine« souverän ein für die expressiv extrovertierte Seite dieser Musik. Musikalische Perfektion und stimmliche Frische garantieren den hohen künstlerischen Rang dieser Produktion, die neue Akzente setzt. Für die Jury: Christian Kröber

Alte Musik

Mille consigli

Italienische Violinsonaten des 17. Jahrhunderts von Antonio Bertali, Dario Castello, Giovanni Battista Fontana, Tarquinio Merulo, Marco Uccellini u. a. Ensemble Aurora. Glossa GCD 921208 (Note 1)

Im siebzehnten Jahrhundert wurde die Geige zu dem, was sie heute ist. Komponisten wie Castello oder Fontana bewiesen, dass sie menschliche Emotionen auch ohne Worte vielfältig und bewegend darstellen kann, andere wie Uccellini oder Bertali stießen rasch in völlig neue Dimensionen der Virtuosität vor. Der Geiger Enrico Gatti vom Ensemble Aurora weckt den Geist dieser Musik zu neuem Leben und verleiht ihm mit subtilen Klangschattierungen eine poetische Dimension, die unmittelbar fasziniert. Ebenso demonstriert der Organist Fabio Ciofini mustergültig, wie ein kräftiges, phantasievolles und doch immer dem Solisten und der Sache dienendes Continuospiel klingen kann. Für die Jury: Matthias Hengelbrock

Zeitgenössische Musik

Angels – Marco Blaauw

Kompositionen für Trompete von Richard Ayres, Marco Blaauw, Georg Friedrich Haas, Liza Lim, Martijn Padding, Jimmy Rowles, Carl Ruggles, Rebecca Saunders, Martin Smolka und Agata Zubel. Mit Marco Blaauw, Michiel Braam, Christine Chapman, Bruce Collings, Ralf-Werner Koop, Nathan Plante, Markus Schwind. Wergo WER 67812 (NAI)

Der Trompeter Marco Blaauw erkundet das Klangspektrum seines Instrumentes umfassend, gleichermaßen artistisch-virtuos wie auch empfindsam-ausdrucksstark. Auch die allernächsten Trompetenverwandten werden so erforscht: das Kornett, das Flügelhorn oder die von Blaauw erfundene Doppeltrichtertrompete, mit zwei Schalltrichtern und diversen Ventilen, die es möglich macht, auch Vierteltöne präzise zu spielen. Das von den zehn Komponisten eigens für Blaauw und seine sechs trompetenden, posaunenden und klavierspielenden Mitstreiter entworfene Panorama ist höchst vielseitig: die faszinierende zeitgenössische Vision eines Trompetenengels. Für die Jury: Ludolf Baucke

Historische Aufnahmen

Fritz Reiner & the Chicago Symphony Orchestra

Complete Recordings on RCA. 63 CDs RCA 8888 3701 982 (Sony)

Er gehört zu den herausragenden Dirigenten in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts: Fritz Reiner, ein Schüler Béla Bartóks, wanderte 1922 nach Amerika aus, wo er unter anderem von 1953 bis 1962 mit höchster musikalischer Kompetenz das Chicago Symphony Orchestra zu einem der damals brillantesten Orchester der Welt formte. Die RCA-Edition dokumentiert das Erbe dieser seiner letzten neun Jahre. Bis heute fasziniert die Weite von Reiners musikalischem Horizont, der von der Wiener Klassik über Wagner und Strauss bis zu Bartók reicht. Ebenso beeindruckend Kraft und Intensität der Reinerschen Interpretationen, die Homogenität des Klangbildes, die Raffinesse der Klangabstufungen, die Transparenz. Für die Jury: Wolfgang Schreiber

Grenzgänge

Hans Hassler: Hassler

Mit Gebhard Ullmann, Jürgen Kupke, Beat Föllmi. Intakt Records CD 212 (harmonia mundi)

Alle vier Musiker machen sich auf zum Ländler. Vor allem der Protagonist Hans Hassler, der sachte anklopft, bis ihm aufgetan wird. Dann schlägt er eigene Schneisen durch die traditionellen Pisten, wagt Ausfälle mit seinen phantasievollen bis skurrilen Einfällen, an denen sich die Klarinettisten zu verschlucken scheinen. Und immer wieder ein Herantasten an den alpinen Schweizer Ländler, kauzig, humorvoll, ironisch versponnen, angesiedelt zwischen Jazz, Folk, Welt- und neuer Musik: Grüezi mitenand! Für die Jury: Heinz Zietsch

Musikfilm

Gozaran – Time Passing

Eine Dokumentation von Frank Scheffer. Mit Nader Mashayekhi und dem Teheran Symphony Orchestra. DVD/Blu-ray EuroArts 205 8768 (Naxos)

»Gozaran« ist ein suggestiver Film über die Hoffnung, die nie stirbt. Der iranische Komponist und Dirigent Nader Mashayekhi, der seit 1979 im Exil in Wien lebt, übernahm 2005 die Leitung des Teheran Symphony Orchestra. Frank Scheffer begleitete ihn dabei mit der Kamera. Sein Film zeigt, mit welchem Ernst, welcher Begeisterung die Musiker diese Herausforderung annahmen und auch, unter welch schwierigen Bedingungen sie probten. Trotz künstlerischer Erfolge wurde das Experiment, im Iran ein Symphonieorchester neu zu formieren und, beispielsweise, die Musik Gustav Mahlers nach Teheran zu bringen, nach zwei Jahren wieder beendet. Das Projekt ist zwar Vergangenheit, könnte aber aufgrund der aktuellen Entwicklung im Iran wieder eine Zukunft haben. Für die Jury: Helge Grünewald

Musikfilm

Marc Sinan: Hasretim – Journey to Anatolia

Mit Marc Sinan, Markus Rindt, Andrea Molino, den Dresdner Sinfonikern und Musikern aus der Türkei und aus Armenien mit traditionellen Instrumenten. CD/DVD ECM 2330/31 (Universal)

Nicht jede Reise zu den Wurzeln ist so ergiebig wie diese. Um Feldforschungsaufnahmen herum, die er im Nordosten Anatoliens und an der Grenze zu Armenien sammelte, erfand der Gitarrist Marc Sinan, Sohn einer türkisch-armenischen Mutter und eines deutschen Vaters, seine eigene Partitur. Bild und Ton, Aufzeichnung und Bühnenpräsenz, überlieferte und zeitgenössische Musik gehen eine organische Liaison ein in dieser musikalischen Installation. »Hasretim« bedeutet: »meine Sehnsucht«. Auf beeindruckende Weise schlägt das Projekt eine Brücke zwischen östlicher und westlicher Kultur. Für die Jury: Berthold Klostermann

Jazz

Early Chet

Chet Baker in Germany 1955-1959. LP Jazzhaus 101740 (Arthaus Musik)

Als Trompeter war er der große Stoiker, äußerlich fast unberührt erfand er die schönsten Melodielinien auf seinem Instrument. Seine kühle, leicht nasale Stimme ging den Zuhörern unmittelbar unter die Haut. Von seiner ersten Europatournee 1955 bis zu jenem Jahr, in dem seine Drogensucht ihm Auftritte in den USA und damit die Lebensgrundlage entzog, reichen die Aufnahmen der Edition »Early Chet«. Mit der SWF Big Band unter Kurt Edelhagen und dem Orchester Rolf Hans Müller plus Streichern spielte der junge Chet Baker Stücke, die ihn sein Leben lang begleiten sollten, hier mit frischen, damals neuen Wendungen. Raffinesse und Einfachheit bestimmen die persönlichen Statements dieses Musikers, wie diese eindrucksvollen Dokumente aus dem SWF-Archiv zeigen. Für die Jury: Lothar Jänichen

Jazz

Irène Schweizer & Pierre Favre: Live in Zürich

Intakt CD 228 (harmonia mundi)

Lebenslange Vertrautheit dieser beiden Schweizer Charakterköpfe und weltweite Erfahrungen in einem halben Jahrhundert rasanter Entwicklungen und Brüche – das kommt auf diesem Album in den freien Improvisationen der Pianistin Irène Schweizer und des Schlagzeugers Pierre Favre zusammen. Die Perlen aus drei Konzerten in der Roten Fabrik in Zürich werden hier dargeboten. Einfach herzerwärmend, wie die unterbewusst gesteuerten Ideenflüsse aus Partnerschaft und Eigensinn sich zusammenwinden und trennen. Irène Schweizers Formenvorrat ist enorm, er reicht von Erinnerungen des Stride-Stils der zwanziger Jahre, von Blues und Swing bis zu den Clusterstürmen der Neuen Musik. Für die Jury: Ulrich Olshausen

Weltmusik

Jun Miyake: Lost Memory Theatre

act-1. Yellowbird yeb-7736-2 (Soulfood)

Das »Theater der verschütteten Erinnerungen« führt in phantastische Welten zwischen Traum und Wachen. Eine raffinierte Instrumentierung und die Stimmen wie auch Texte von David Byrne, Nina Hagen, Mechthild Großmann, Arto Lindsay, Lisa Papineau und anderen verleihen jedem der sechzehn Songs eine eigene Aura. Wieder verschmilzt der Trompeter und Komponist unterschiedlichste Stil- und Klangelemente zu einer Atmosphäre der Unwirklichkeit, wie schon bei dem fulminanten Vorgängeralbum und Bestenlistentitel »Stolen From Strangers«, wenn auch mit nachdenklichem Grundton. »Lost Memory Theater – act-1« ist unter anderem durch die Ereignisse in Fukushima und den Tod der Choreographin Pina Bausch inspiriert. Für die Jury: Johann Kneihs

Traditionelle Ethnische Musik

Deeyah presents Iranian Woman

Fuuse Mousiqi/Heilo HCD 7269 (Galileo)

Ein Cover wie ein Notruf! Aber die politische Aussage dieses Albums ergibt sich erst auf den zweiten Blick: Iranische Frauen, die sich in der breiten Öffentlichkeit singend präsentieren, gibt es wohl vor allem im Exil. Diese Musik ist von unerhörter Intensität, Zärtlichkeit und Kraft, sie ist weltoffen und zugleich nahe an der Tradition. Dabei steht der Name Deeyah, ebenso wie Freemuse, für die Frauenrechte in der Kunst. Für die Jury: Jan Reichow

Liedermacher

Strom & Wasser feat. The Refugees

Freiheit ist ein Paradies. Traumton 982612 (Indigo)

Seit vielen Jahren beweist die Band »Strom & Wasser«, dass Musik politisch sein kann. Nach Konzerten und Aktionen gegen Faschismus und für die Belange von Obdachlosen setzten sich Heinz Ratz und seine Mitmusiker gemeinsam mit den Refugees – Musikern aus Afghanistan, der Elfenbeinküste, Gambia und anderen Ländern – mit »Freiheit ist ein Paradies« für eine gerechte Flüchtlingspolitik ein. Dieses Album ist ein Statement für Menschlichkeit, es ist zugleich allerfeinste Weltmusik. Vielsprachig und tanzbar, zum Nachdenken und zum Handeln anregend! Für die Jury: Hans Reul

Folk und Singer/Songwriter

Ciğdem Aslan: Mortissa

Asphalt Tango Records CD-ATR 4313

Grenzen, welche Grenzen? Eine junge Kurdin aus London interpretiert mit einer kleinen und einfühlsamen Band griechisch-türkisch-sefardische Lieder. Die Musik dieses Albums vermittelt die ansteckende Schwermut des Rembetiko, und in Aslans Stimme liegen deutlich hörbar Verzweiflung und Selbstbewusstsein zu gleichen Teilen. Ein ungemein überzeugendes Debut! Für die Jury: Mike Kamp

Pop

Janelle Monáe: The Electric Lady

Suite IV and V. CD/LP Bad Boy Entertainment 7567-86840-5 (Atlantic/Warner)

Das, was wir der Einfachheit halber schwarze Musik nennen, erlebte in den letzten zwei, drei Jahren einen radikalen Umbruch. Eine junge Generation enorm begabter Musikerinnen und Musiker stellte die Verhältnisse auf den Kopf. Mitten drin: Janelle Monáe, die mit ihren dystopischen, afro-futuristischen Science-Fiction-Entwürfen von der multiplen Entfremdung einer schwarzen lesbischen Frau berichtet. Virtuos setzt sie ihre Mittel ein, überwältigend ist ihre Performance. Wieder hat sie ihre Lieder in Suiten angelegt, die zum kompletten Durchhören des Albums zwingen. Zudem ist Janelle Monáes Revolution tanzbar. Auch sind diese Frau und ihre Botschaft offenbar so wichtig, dass Superstar Prince bei einem Song gastiert. Für die Jury: Andreas Müller

Rock

Lorde: Pure Heroine

Universal 0602537518982

Lorde kommt aus Neuseeland, ist siebzehn, was beweist, dass Weisheit keine Frage des Alters sein muss, jedenfalls nicht in der Popmusik. Ihr Debütalbum »Pure Heroine«˛ erzählt von ausgeträumten Träumen und den großen Lieben der Vorstadt. Die Melodien sind leise, der Bass ist laut, oft klingt das dann, als würde Joni Mitchell Songs von Rihanna nachsingen oder umgekehrt, und dass das so wunderbar aufgeht (und Lorde damit auch noch sehr erfolgreich wurde), beweist wiederum, dass kleine Wunder in der Musik zur Tagesordnung gehören. Für die Jury: Tobias Rüther

Independent (bis 2014)

Bill Callahan: Dream River

CD/LP Drag City DC553CD (Rough Trade)

Mit seinem vierten Ausnahmealbum in Folge avanciert dieser in »low-fi«-Gefilden gestartete Musiker aus Maryland endgültig zu den ganz großen Persönlichkeiten im Genre des alternativen Singer-Songwritertums. Sanft mäandern Callahans mal bewegend-zärtliche, mal lakonisch-schwarzhumorige Lieder durch Folk, Blues und Soul. Auf diese Weise wird »Dream River« zu einem doppelbödig-vielschichtigen Monument von existentialistischer Tiefe: So textet, spricht, singt der Townes Van Zandt der @-Generation. Für die Jury: Christof Hammer

Nu & Extreme (bis 2014)

Son Lux: Lanterns

CD/LP Joyful Noise JNR126 (Cargo Records)

Das dritte Album des Komponisten und Pianisten Ryan Lott entwirft eine raffiniert konstruierte Welt voller Phantasie, zwischen melancholischem, zugleich triumphierend-jubilierendem Orchesterpop und Electronic. Das Songwriting bewegt sich zwischen Opulenz und Minimalismus, Nachdenklichkeit und überbordender Energie, Ideenreichtum und Emotionalität. Wie Son Lux zusammen mit diversen Instrumentalisten und Sängern auf dies ohnehin beeindruckende Konglomerat verschiedene Spuren und Schichten von Gesang aufsetzt, wie er damit eine in die Tiefe gehende, dynamische Musik zwischen Neoklassik und Experimentalpop jenseits bekannter Genres für die Ewigkeit erzeugt, das beweist außerordentliches Talent. Für die Jury: Götz Adler

Blues

Blues Company: X-Ray-Blues

CD/LP Inakustik INAK 9124

Neulich an der Schweizer Grenze, der Zöllner zur Band: »Irgendwelche Drogen?« – »Warum nicht…«, so der Bandleader zum Zöllner, »was sollen sie denn kosten?«. Klar, die anschließende Kontrolle dauert etwas länger, gefunden werden: Juwelen. Das jüngste Album des Osnabrücker Ausnahmegitarristen Toscho Todorovic und seiner Blues Company enthält dreizehn Edelsteine des zeitgenössischen europäischen Blues: rockig, soulig, swingend (mit Grüßen ans Cajun-Land Louisiana), mal akustisch behutsam, meist elektrisch gepowert, bläsersatt und lebenshungrig. Für die Jury: Tom Schroeder

Wortkunst

Elias Canetti: Die Blendung

Bearbeitung, Regie und Musik: Klaus Buhlert. Mit Birgit Minichmayr, Samuel Finzi, Manfred Zapatka u.a. 12 CDs Der Hörverlag 2013, ISBN 978-3-86717-893-8 (Edel)

Im Gegensatz zu Musils »Mann ohne Eigenschaften« oder Kafkas Romanen ist »Die Blendung« von Elias Canetti, erschienen 1935, erst spät als ein Hauptwerk der Gesellschaftspanoramen vor dem Zweiten Weltkrieg erkannt worden. Umso verdienstvoller, dass Klaus Buhlert den Roman jetzt mit einem prachtvoll im Wiener Idiom schlawinernden Sprecherensemble produziert hat. Die verschiedenen Sprach- und Erzählschichten der surreal durchdrehenden Geschichte vom realitätsfernen Büchernarren werden, auch mit musikalischem Kitt, zu einer skurrilen, aber auch bedrohlichen Collage übereinander geschoben. Für die Jury: Michael Struck-Schloen

Kinder- und Jugendaufnahmen

Tomi Ungerer, Dave Horler: Tremolo

Ein Hörstück mit Musik. Jochen Malmsheimer, WDR Big Band Köln. CMO Hörbuch/WDR. ISBN 978-3-939129-59-2 (Alive)

Man kann vieles sammeln – Herr Tremolo sammelt Instrumente. Aber schon Wilhelm Busch stellte fest: »Musik wird oft nicht schön gefunden, weil sie stets mit Geräusch verbunden.« Wie aus einem akustischen Ärgernis ein schmackhafter Genuss wird, das erzählt Tomi Ungerer im seinem Bilderbuch »Tremolo« höchst vergnüglich. Komplettiert wird die von Jochen Malmsheimer pointenreich vorgetragene Geschichte durch passende Musik von Dave Horler, er schrieb der WDR Big Band Köln eine witzig-geistvolle Komposition auf den Klangkörper. Für die Jury: Regina Himmelbauer

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