Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Anton Bruckner: Symphonie Nr. 9 d-moll

Lucerne Festival Orchestra, Claudio Abbado. DG 479 3441 (Universal)

Niemand konnte wohl ahnen, dass dieses sein letztes Konzert werden sollte. Und doch erscheint es im Rückblick so, als hätte das Programm nicht abschließender gewählt werden können. Der Dirigent Claudio Abbado verabschiedete sich im August 2013 von dem von ihm so geschätzten Podium in Luzern mit Anton Bruckners seltsam vollendet unvollendeter Neunter. Es war eine Aufführung, die in ihrer fast schon erschreckend abgründigen Intensität bis heute nachklingt: als ein großer Abgesang, von erhabener Spannung und berückenden Schwebezuständen kündend, ohne die quälenden Emotionen einer dunklen Tragik, aber mit weit ausgreifenden, atmenden Bögen und einem in die Ferne gerichteten Blick. Für die Jury: Michael Kube

Orchestermusik und Konzerte

Alisa Weilerstein – Dvořák

Antonín Dvořák: Cellokonzert h-moll op. 104, Lasst mich allein op. 82,1, Rondo op. 94, Songs my mother taught me op. 55,4, Silent Woods op. 68,5, Slawischer Tanz op. 46,8, Goin’ Home. Alisa Weilerstein, Anna Polonsky, Tschechische Philharmonie, Jiri Bélohlávek. Decca 478 5705 (Universal)

Dieses Dvořák-Konzert ist die Ikone unter den Cellokonzerten, jeder Cellist spielt es, die Zahl der Aufnahmen ist unübersehbar groß. Gibt es zu diesem Werk überhaupt noch etwas zu sagen? Eine Frage, die sich erübrigt, wenn man hört, wie beherzt und mit welch mitreißender Frische die junge amerikanische Cellistin Alisa Weilerstein, die hiermit ihr zweites Decca-Album vorlegt, das Repertoirestück angeht. Nicht nur ihre seelenvoll beredte Interpretation, auch ihre überragende technische Souveränität lassen aufhorchen. Kompetentere Partner als die Tschechische Philharmonie und Jirí Bélohlávek kann man sich bei Dvořáks Musik ohnehin kaum wünschen. Sechs Stücke für Violoncello und Klavier, teils Originalkompositionen, teils Arrangements, runden das Album attraktiv und sinnvoll ab. Für die Jury: Norbert Hornig

Kammermusik

Felix Mendelssohn Bartholdy: Sämtliche Werke für Streichquartett

& Ist es wahr op. 9,1. Fanny Mendelssohn: Streichquartett Es-Dur. Artea Quartet, Badke Quartet, Benyounes Quartet, Castalian Quartet, Cavaleri Quartet, Idomeneo Quartet, Navarra Quartet, Piatti Quartet, Sacconi Quartet, Wu Quartet, Sophie Bevan, Julian Milford. 4 CDs, Champs Hill Records 94824 (Note 1)

Nach dieser grandiosen Aufnahme muss man sich um die Zukunft des Streichquartett-Spiels keine Sorgen mehr machen. Was hier von zehn jungen Quartettformationen zu hören ist – sie alle Preisträger international renommierter Streichquartett-Wettbewerbe – begeistert in jeder Hinsicht. »Mit Eifer und Liebe«, wie Felix Mendelssohn sich das gewünscht hatte, wird musiziert, sorgfältig und strukturbewusst ausgestaltet, mit Temperament, intensiver Klangrede, lyrischer Gesanglichkeit und mitunter auch mit draufgängerischer Virtuosität. Und jede dieser zehn Interpretationen der Streichquartettwerke von Felix Mendelssohn und Fanny Hensel zeichnet sich aus durch eine ganz eigene Intensität, die stets auf die Werke bezogen bleibt. Für die Jury: Ingeborg Allihn

Tasteninstrumente

Schubert: Klaviersonaten / Michael Korstick

Franz Schubert: Klaviersonaten A-Dur D 664, A-Dur D 959 und B-Dur D 960, Moments musicaux D 780, Ungarische Melodie D 817. Michael Korstick. 2 CDs, cpo 777 766)

Michael Korstick widmet dieses Doppelalbum seiner »späten Liebe« Schubert. Neben der B-Dur-Sonate D 960, die er schon einmal vor zehn Jahren aufnahm, legen vor allem die beiden aktuellen A-Dur-Sonaten D 664 und D 959 den Fokus auf rigorose Deutlichkeit: In der letzteren, späten Sonate gewinnt Korsticks bereits bei Beethoven bewährte radikale Textgenauigkeit eine fast wissenschaftliche Qualität, aber sie bleibt auch der objektive Schlüssel, der die tiefe Sinnhaftigkeit dieser Musik und insbesondere Schuberts ungebrochene Experimentierlust neu aufschließt – in artikulatorischer Dichte und dynamischer Bandbreite. Korsticks Schubert hat Rückgrat, er tritt entschieden aus dem Schatten Beethovens. Im f-moll-Andantino enthüllt der Pianist Schuberts Seelenlage, indem er die wunderbare Melodie auf ihre nackte Wahrheit reduziert: erschütternd und tröstlich zugleich. Für die Jury: Attila Csampai

Tasteninstrumente

Adriana Hölszky: Wie ein gläsernes Meer, mit Feuer gemischt ...

Adriana Hölszky: »… und ich sah wie ein gläsernes Meer, mit Feuer gemischt …«, »Efeu und Lichtfeld«, »… und wieder Dunkel I«. Dominik Susteck, Sabine Akiko Ahrendt, Jens Brülls. Wergo WER 67892 (NAI)

Dominik Susteck an der »Orgel für Neue Musik« in der Kunst-Station Sankt Peter in Köln: Diese Verbindung ist ein Glücksfall, wie sich diesmal wieder, bei seinem neuen Album mit Kompositionen von Adriana Hölszky, erweist. Susteck erschließt ein Reich grenzenloser Möglichkeiten in Klang und Ausdruck für die Musik und das Instrument im Orgelsolo-Stück »… und ich sah wie ein gläsernes Meer, mit Feuer gemischt …«. Im Zusammenspiel mit der Geigerin Sabine Akiko Ahrendt (»Efeu«) und dem Schlagzeuger Jens Brülls (»Dunkel«) kommt in weiteren Werken die Dimension des Dialogs hinzu. Kontrast oder Übergang, drängende Deklamation oder Verweigerung: Hölszkys Stücke geraten den drei Künstlern zu spannungsgeladenen Klangdramen. Für die Jury: Friedrich Sprondel

Oper

Jean-Philippe Rameau: Hippolyte et Aricie

Sarah Connolly, Christiane Karg, Stéphane Degout, Ed Lyon u.a., Orchestra of the Age of Enlightenment, William Christie, Jonathan Kent. 1 Blu-ray / 2 DVDs, OpusArte OABD7150D / OA1143D (Naxos)

Es dauert eine Weile, bis man mit der Inszenierung von Jonathan Kent warm wird: Sie beginnt im Kühlschrank, wo die Sänger zwischen Würstchen, Entenragout und Orangensaft auftreten – was ja im Hinblick auf die keusche Wald- und Mondgöttin Diana nicht ganz ohne Logik ist. Doch ist dieser britisch-humoreske Prolog vorbei, lassen die musikalischen und szenischen Reize der opulenten Produktion die Temperatur spürbar ansteigen. William Christie, vertraut mit Rameaus Musik wie kein Zweiter, sorgt für einzigartig geschmeidigen, von den Bläsern weich modellierten Orchesterklang und setzt starke dramatische Impulse. Im Zusammenwirken mit der vorzüglichen Sängerschar und den raumgreifenden Ballett-Einlagen wird so der Kern von Rameaus ‚tragédie lyrique’ freigelegt: großes Musiktheater mit Hang zum Gesamtkunstwerk. Für die Jury: Max Nyffeler

Oper

Arnold Schönberg: Moses und Aron

Franz Grundheber, Andreas Conrad, SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Sylvain Cambreling. 2 SACDs, Hänssler 93.314 (Naxos)

Arnold Schönbergs so schweres wie lohnendes Opern-Oratorium »Moses und Aron« ist immer auch ein Bekenntniswerk für die Interpreten. Mit dem welterfahrenen Franz Grundheber als rhythmischem Sprecher Moses, dem prägnanten Tenor Andreas Conrad als Aron, dem sinnlich-vibrierenden, zugleich präzisen Sylvain Cambreling am Pult und der EuropaChorAkademie sind hier allererste Könner versammelt. Aber nicht zuletzt durch die Mitwirkung des großartigen SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg wird hier die nonchalante Klangkompetenz in komplexer Musik der Moderne erhellend hörbar, die, ab 2016, durch die mutwillige und unsinnige Fusionsentscheidung einiger Rundfunk-Funktionäre verloren gehen soll. Für die Jury: Manuel Brug

Chor und Vokalensemble

Louis Spohr: Die letzten Dinge

Johanna Winkel, Sophie Harmsen, Andreas Weller, Konstantin Wolff, Kammerchor Stuttgart, Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, Frieder Bernius. Carus 83.294/00 (Note 1)

Nicht die Inszenierung apokalyptischen Furors, vielmehr kontemplative Innerlichkeit prägt das Oratorium »Die letzten Dinge« von Louis Spohr. Das Werk steht damit in der Ahnenreihe des Deutschen Requiems von Johannes Brahms oder auch des Requiems von Gabriel Fauré. Frieder Bernius und sein exzellenter Kammerchor Stuttgart folgen mit schlackenloser Klarheit den vorgezeichneten Klangwegen ins milde Licht der Ewigkeit: ohne nazarenerhafte Süße, aber mit souverän disponiertem dramaturgischem Bogen, vom Spirituell-Verhaltenen bis hin zu den Momenten gesteigerter Intensität, denen auch die Deutsche Kammerphilharmonie Kraft und Kontur verleiht. Für die Jury: Martin Mezger

Klassisches Lied und Vokalrecital

Nachtviolen

Franz Schubert: 24 Lieder. Christian Gerhaher, Gerold Huber. RCA 888837121729 (Sony)

Franz Schubert ist für Interpreten wie Publikum der schwierigste aller Liedkomponisten, vielleicht, weil seine Musik so einfach wirkt, und weil diese Einfachheit nur durch größte Kunst erreicht werden kann. Wie herausragend sie die beherrschen, haben der Bariton Christian Gerhaher und sein Pianistenfreund Gerold Huber schon mehrfach gezeigt. Auf ihrem neuen Album aber übertreffen sie sich selbst. Gerhaher ist so tief eingestiegen in Musik, Texte und Kontexte, dass es oft so klingt, als singe er wie nebenbei oder nur für sich. Nichts wird hier ausgedeutet oder mit Rhetorik aufgeladen. Die Musik scheint aus sich selbst zu sprechen. Sie ist nah wie selten. Für die Jury: Stephan Mösch

Alte Musik

»Amorosi pensieri«. Lieder für den Habsburger Hof

Werke von Philippe de Monte, Jean Guyot, Jacobus Vaet und Jacob Regnart. Cinquecento. Hyperion CDA 68053 (Note 1)

Bei seiner Erkundung von kaum bekannter, zum Teil gar noch nie eingespielter Renaissancemusik aus dem Umkreis des Wiener Kaiserhofs ist das exzellente, ausschließlich mit Männerstimmen besetzte Vokalensemble Cinquecento wieder einmal fündig geworden – diesmal mit einem bunten Strauß abwechslungsreicher, teils schwermütiger, teils leichtgeschürzter Madrigale, die allesamt der Liebe huldigen: italienischen Canzonen und Villanellen, französischen Chansons und deutschen Liedern, von Philippe de Monte, Jean Guyot, Jacobus Vaet und Jacob Regnart. Diese multinationale Entdeckungsreise gewährt großen Hörgenuss, zumal wenn die Stücke so überzeugend, perfekt und stilvoll vorgetragen werden wie hier. Für die Jury: Uwe Schweikert

Zeitgenössische Musik

Toshio Hosokawa: Quintets & Solos

Mayumi Miyata, Naoko Yoshino, Tosiya Suzuki, Arditti Quartet. Wergo WER 6769 2 (NAI)

Die Kammermusik von Toshio Hosokawa entfaltet sich dem konzentrierten Lauschen als eine Kalligrafie der Stille. Für dieses Album wurden je drei Quintette und Solokompositionen Hosokawas vom Arditti Quartet gemeinsam mit drei japanischen Musikerinnen mustergültig interpretiert. Die Werke vereinen Elemente der japanisch-koreanischen Hofmusik mit Klangvorstellungen der westlichen Avantgarde und beziehen als drittes Gestaltungselement Naturlaute mit ein. Basierend auf vielfältigen Techniken der Zentraltonumspielung formt Hosokawa eine nachhaltig bewegende Ausdrucksmusik. Für die Jury: Ludolf Baucke

Historische Aufnahmen

Ferenc Fricsay. Complete Recordings on Deutsche Grammophon Vol. 1

Orchestral Works. Diverse Solisten, Berliner Philharmoniker, RSO Berlin. 45 CDs, DG 792 6917 (Universal)

Von den drei Schaffens-Säulen des mit mährischen Wurzeln in Ungarn geborenen Dirigenten Ferenc Fricsay – Oper, Symphonie und Instrumentalkonzerte – sind hier zunächst die Symphonien und Konzerte versammelt. Die bis 1963 andauernde Zusammenarbeit Fricsays mit der Deutschen Grammophon begann im Berlin der Nachkriegsjahre in einer Zeit, in der Musiker noch mit Kartoffeln bezahlt wurden. Die Pionierarbeit ist mit Händen zu greifen: Damals wurde der Katalog der Deutschen Grammophon aufgebaut von einem internationalen Dirigenten und, den technischen Entwicklungen folgend – deswegen teils doppelt –, mit Repertoire-Klassikern, slawischer Musik und Moderne, wie dem Ungarn Béla Bartók. Die musikalischen Überzeugungen Fricsays sind in Bezug auf Brillanz, Geradlinigkeit und Schlankheit ihrer Zeit weit voraus, bereits erkennbar in der ersten Aufnahme mit Peter Tschaikowskys fünfter Symphonie.

Grenzgänge

Andreas Schaerer & Lucas Niggli: Arcanum

Intakt Records 232/2014 (harmonia mundi)

Die beiden Schweizer Musiker Andreas Schaerer und Lucas Niggli tasten sich vor in die archaischen Urgründe der Menschheit: mit Stimme und Trommeln als den beiden ältesten Mitteln menschlicher Kommunikation. Dank ihrer Intuition, Fantasie und elektronischen Experimentierfreude transportieren die Künstler in acht Eigenkompositionen mit Leichtigkeit die Vergangenheit in die Gegenwart und darüber hinaus ins Geheimnisvolle. Zum Raum wird hier die Zeit! Wer sich auf diese Abenteuerreise einlässt, eine Art Odyssee der Töne, der wird mit veritablen Klangsensationen belohnt. Für die Jury: Heinz Zietsch

Musikfilm

Touching the Sound

The Improbable Journey of Nobuyuki Tsujii. Ein Film von Peter Rosen. EuroArts BD 2059834 (Naxos)

Peter Rosen erzählt die Biographie des japanischen Pianisten Nobuyuki Tsujii als »unwahrscheinliche Reise«: Tsujii, blind geboren, ist eine musikalische Hochbegabung. Er spielt früh Melodien auf dem Kinderklavier nach und lernt Musik hauptsächlich durchs Hören. Mit Energie und Enthusiasmus macht er seinen Weg bis zum Konzertpianisten, gewinnt 2009 sogar den renommierten Van-Cliburn-Klavierwettbewerb. Über all dem hat sich der heute Siebenundzwanzigjährige seinen Optimismus, dazu Offenheit und eine unmittelbare Freude am Musizieren bewahrt. Der Film ist informativ und anschaulich, dank vieler Videoaufnahmen aus Kindheit und Jugend Tsujiis, und er ist anrührend, jedoch frei von Sentimentalität. Laut Auskunft des Labels wird voraussichtlich im Februar eine Neuauflage der DVD mit erweiterten Filmtexten erscheinen. Für die Jury: Helge Grünewald

Musikfilm

Charles Lloyd: Arrows Into Infinity

Ein Film von Dorothy Darr und Jeffery Morse. Mit Charles Lloyd, Keith Jarrett, Herbie Hancock u.a. DVD/BD ECM 378 0649 (Universal)

Der Bassist Reuben Rogers ist einer von vielen Musikern, Produzenten, Kritikern und Zeitzeugen, deren Aussagen dieses Filmporträt des Saxophonisten Charles Lloyd so lebendig machen. Mit ihm zu spielen, sagt Rogers, das sei »nicht bloß ein Gig, das ist eine spirituelle Erfahrung.« Dorothy Darr, die Ehefrau Lloyds, hat außer seinen Wegbegleitern auch ihn selbst vor die Kamera gebeten und jede Menge Archivmaterial zusammengetragen, um seine zweimalige Weltkarriere ins Bild zu setzen. Der Titel der Dokumentation verdankt sich einer fernöstlichen Weisheit, die Lloyd zitiert: »Man schießt keinen Pfeil ins Unendliche, wenn man ständig nach vorn eilt. Spann den Bogen nach hinten, dann fliegt der Pfeil!« Für die Jury: Berthold Klostermann

Jazz

Anna Lauvergnac: Coming Back Home

Alessa Records ALR 1032

Die aus Triest stammende Anna Lauvergnac, langjährige Vokalistin des Vienna Art Orchestra, war bislang eher ein Geheimtipp. Es gibt zwar viele Sängerinnen mit einer schönen Stimme, die sich von swingenden Gefährten begleiten lassen. Doch nur wenige besitzen wie sie die Fähigkeit, durch Aufrichtigkeit und eine beglückende Kommunikation mit exzellenten Könnern (Claus Raible, Piano, Giorgos Antoniou, Bass, und Steve Brown, Drums) direkt das Herz des Hörers zu berühren. Zu vier gelungenen Originals gesellen sich sieben eher selten gesungene Standards in Interpretationen, die Gänsehaut verursachen und, Schnörkellosigkeit, Sensibilität und Swing vereinend, geradezu als Quintessenz der jeweiligen Songs erscheinen. Für die Jury: Marcus A. Woelfle

Jazz

Louis Sclavis Quartet: Silk And Salt Melodies

ECM 2402 3786537 (Universal)

Louis Sclavis ist mit einem Projekt befasst, das viele Musiker in mehreren Nationen neben- und miteinander verfolgen: der Entwicklung eines mediterranen Jazz. Es ist dies kein rein europäischer Jazz, seine Wurzeln sind außer in Frankreich, Italien und Spanien auch in Nordafrika sowie im nahen und mittleren Osten zu finden. Das neue Album »Silk And Salt Melodies«, aufgenommen von einem ungemein klangbewussten, sorgfältigen und virtuos groovenden Quartett, erzählt eine musikalische Migrationsgeschichte, die vielen die Chance bietet, sich darin zu Hause zu fühlen. Für die Jury: Hans-Jürgen Linke

Weltmusik

Redi Hasa & Maria Mazzotta: URA

Finisterre FT 62

Der Balkan-Boom ist vorbei – es lebe die Musik aus Südosteuropa! Und die aus Süditalien! Mitreißend gefühlvoll und stellenweise witzig präsentieren der albanische Cellist Redi Hasa und die italienische Sängerin Maria Mazzotta eigene und traditionelle Lieder von beiden Seiten der Adria. Mazzotta, bekannt geworden als Stimme des apulischen Pizzica-Ensembles Canzoniere Grecanico Salentino, besticht durch Beweglichkeit und Vielseitigkeit. Im unkonventionell besetzten Duo gewinnen die Sängerin und der Cellist auch dem oft interpretierten Roma-Lied »Ederlezi« frische Intensität und neue Facetten ab. Für die Jury: Johann Kneihs

Traditionelle Ethnische Musik

Magic Kamancheh

Die Streichlauten 1: Asien. Diverse. 4 CDs & DVD, NoEthno GMV037 (Galileo)

Hinter dem Titel »Magic Kamancheh« verbirgt sich eine veritable Enzyklopädie der Streichlauten, also all dessen, was der Volksmund hierzulande »Geige« oder »Fiedel« nennt, und zwar in einer überwältigenden Vielfalt der Darbietung: in Konzertmitschnitten und Studioproduktionen, auf vier Compactdiscs plus DVD. In dem fast 100-seitigen Büchlein öffnet sich ein Reichtum an Bildern und Informationen. Das Wort »magisch« ist dabei nicht zu hoch gegriffen – ein Zauberland der Weltmusik erschließt sich hier, das reicht von Asien über die Türkei mit Kurzausflügen nach Europa (abgesehen von Rudolstadt auch nach Finnland, Bulgarien, Irland). Ein unentbehrliches Kompendium, das die Vorgängeralben (Magic Banjo, Clarinet, Flute, Harp) noch einmal übertrifft. Für die Jury: Jan Reichow

Liedermacher

Die Grenzgänger: Maikäfer flieg!

Müller-Lüdenscheidt-Verlag (www.musikvonwelt.de)

Mit »Maikäfer flieg!« liefern die Grenzgänger um Michael Zachcial einen geschichtlich wie musikalisch wichtigen und obendrein künstlerisch wertvollen Beitrag zur Erinnerung an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren. Über 3000 Fundstücke aus dem Freiburger Volksliedarchiv haben sie mit Helfern gesichtet und daraus ein engagiertes Programm zusammengestellt. Die teils neuen Arrangements oder gar Kompositionen verleihen den Liedern und Texten, in denen sich die Lebenswirklichkeit der damaligen Menschen spiegelt, zeitlose Aktualität. Diese sechzehn Songs bewegen, sie dienen der Nachwelt als Mahnung. Für die Jury: Hans Reul

Folk und Singer/Songwriter

Ganes: Caprize

Blanko Musik 5731384 (Sony)

Sie kommen aus Südtirol und singen mit glockenklaren Stimmen selbstbewusst auf Ladinisch, der romanischen Sprache ihrer Heimat. Aber ihre Songs sind alles andere als folkloristischer Kitsch, denn Ganes mischen Jazz, Pop und Chansons mit eigenwilligem Chorgesang und raffinierten Melodien. »Caprize« ist das vierte und ganz im Sinne des Albumtitels vielleicht auch kapriziöseste Album des Damen-Trios. Phantasievoll, schrullig und voller Überraschungen erzählen Ganes ihre aus dem Leben gegriffenen Geschichten. Dabei beweisen die Schwestern Marlene und Elisabeth Schuen sowie ihre Cousine Maria Moling wieder einmal, welch exzellente Musikerinnen sie sind. Ihnen zuzuhören, bereitet ungetrübten Hörspaß. Für die Jury: Suzanne Cords

Pop

Spoon: They Want My Soul

Anti 7377-2 (Indigo)

Es ist keine Revolution, aber das konsequent: Seit zwei Jahrzehnten schon arbeiten Spoon an ihrer Version von Popmusik. Das klingt verschmitzt spröde, wie reduziert auf das Wesentliche, und »independent« im Sinne einer Unabhängigkeit von Gefälligkeitszwängen. Dafür muss das Quintett aus Austin, Texas, nicht auf Eingängiges verzichten. Aber es trägt diese Schlichtheit nicht als Banner vor sich her, sondern spielt mit den gestalterischen Möglichkeiten von Pathos und Verzicht, Lässigkeit und Lakonik. Für das achte Album »They Want My Soul« schufen Sänger Britt Daniel und sein Team einen Mikrokosmos aus rauem Pop und pfiffigem Songwriting, der auf Album-Länge dem Ideal der Unmittelbarkeit huldigt: kontrastreich arrangiert, trocken gemixt und nur stellenweise von irrlichternden Soundakzenten durchzogen. Für die Jury: Ralf Dombrowski

Independent (bis 2014)

FKA Twigs: LP1

Young Turks Recordings YT118 (Indigo)

Schillernder persönlicher Hintergrund, schillernde Musik: Die Britin Tahliah Barnett alias FKA Twigs, Tochter eines Jamaikaners und einer Mutter mit spanischen Wurzeln, überrascht mit zerbrechlichem R&B und aufgelösten Songstrukturen. Aber warum sollte R&B auch immer nach Vintage-Verstärkern oder nach Labels wie Motown, Stax oder Chess Records klingen? Die Stimme von FKA Twigs erinnert ein wenig an die der Ikone Kate Bush, aber sie kommt ohne deren gern gewählte orchestrierte Begleitung aus. »LP1« ist ein wunderbares Alternativprogramm zum aktuellen Pop-Einerlei, von dem anspruchsvolle Ohren malträtiert werden. Also, alles richtig gemacht, Miss Barnett. Auf Weiteres darf man sehr gespannt sein. Für die Jury: Michael Fliegl

Nu & Extreme (bis 2014)

Shabazz Palaces: Lese Majesty

Sub Pop SP1044 (Cargo)

Wie der Jazz, so hat sich auch der HipHop inzwischen in so viele Subgenres ausdifferenziert, dass kaum noch zu sagen ist, worin nun eigentlich das Gemeinsame liegt. Und dann gibt es noch Künstler, die eh ihre ganz eigene Welt erschaffen – wie Shabazz Palaces. Ihre düster-hypnotischen Klangschöpfungen, über denen eher Spoken Words als Raps liegen, erinnern mehr an die frühen Suicide oder den psychedelisierten Sly Stone als an den Bling-Bling-HipHop aus den aktuellen Charts. Manchmal blitzen aber auch Anklänge an den jazzangehauchten »Alternative HipHop« der Digable Planets auf. Kein Wunder: Bei denen hatte Ishmael Butler alias Palaceer Lazaro unter dem Pseudonym Butterfly auch schon mitgemischt. Für die Jury: Guido Halfmann

Blues

Rad Gumbo Meets John Lee Sanders

New Orleans Blues And Zydeco. PAO Records PAOCD 11270

Manchmal stimmt das Klischee von New Orleans als musikalischer Schmelztiegel tatsächlich – hier zum Beispiel. Eine oberbayerische Band, die klingt, als käme sie direkt aus dem Delta, und ein Profi aus den Vereinigten Staaten frönen ihrer gemeinsamen Liebe und liefern ein großartiges Werk auf der Basis des Sounds der »Crescent City« ab. Die in ihrem Werdegang so ungleichen Parteien treffen sich auf Augenhöhe und befruchten sich hörbar gegenseitig. Selten passten zwei höchst unterschiedliche geographische Welten musikalisch derart perfekt zusammen. »New Orleans Blues And Zydeco« ist ein Album, das quasi aus dem Nichts kam und gleich für Aufsehen sorgt. Für die Jury: Karl Leitner

R&B, Soul und Hip-Hop

Dilated Peoples: Directors Of Photography

Rykodisc 26257 01832 (Warner)

HipHop hat sich während der achtjährigen Plattenpause der Kalifornier verändert, doch dieses Album dreht die Zeit zurück – und geht voran. »Directors Of Photography« ist eine Demonstration exzellenten Handwerks in diesem Genre. Das DJing und das Storytelling überzeugen ebenso wie die massiv geschichteten Beat-Fundamente. Meister mit Hang zum kunstvollen Relief sind hier am Werkeln gewesen, unter ihnen Alchemist, 9th Wonder und DJ Premier. Über den korrekt produzierten Inhalt hinaus achteten Babu, Evidence und Rakaa auf den Einband. Passend zum Titel liegt eine Sammlung von Polaroids bei, die Texte und Detailinformationen festhalten. In der gegenwärtigen MP3-Phase, die Solches gerne vernachlässigt, ist diese Gestaltung ein Statement und das Album nicht als numerische Parade einzelner Songs, sondern als haptisches Gesamtkunstwerk wahrzunehmen. Für die Jury: Jörg Wachsmuth & Torsten Fuchs

Wortkunst

Alfred Döblin: November 1918

Eine deutsche Revolution. Hörspiel von Norbert Schaeffer. Musik: Martina Eisenreich. Mit Laura Maire, August Diehl, Sebastian Rudolph, Imogen Kogge u.a. 4 CDs, Der Hörverlag ISBN 978-3-8445-1458-2

Alfred Döblins monumentales Erzählwerk in einer szenisch-akustischen Fassung zu Gehör zu bringen – das ist allein angesichts der vielen fiktiven und realen Akteure aus jener Zeit auf den ersten Blick eine nicht zu bewältigende Herausforderung. Der Bearbeiter und Regisseur Norbert Schaeffer hat sie mit seiner ursprünglich für NDR Kultur und SWR 2 realisierten Hörspielfassung überzeugend gemeistert. Mit einem großartigen Schauspieler-Ensemble und der Musik von Martina Eisenreich komponierte er ein stimmgewaltiges akustisches Tableau, das den Hörer den schmutzigen Kriegsalltag ebenso erfahren lässt wie dessen Schatten, in dem sich die Menschen – Traumatisierte ebenso wie Ewig-Gestrige und Revolutionäre – wieder einer sinnvollen Existenz zu vergewissern suchen. Eine ungeschönte Geschichtsstunde. Für die Jury: Wolfgang Schiffer

Kinder- und Jugendaufnahmen

Martin Baltscheit: Nur 1 Tag

Charly Hübner, Annett Louisan, Martin Baltscheit, André Gatzke. Oetinger audio ISBN 978-3-8373-0764-1

Diese Geschichte ist wunderbar lustig und traurig zugleich. Martin Baltscheit, der sie zuerst als ein Theaterstück für Kinder auf die Bühne gebracht hatte, erzählt aus dem Leben einer Eintagsfliege, stellt ihr Fuchs und Wildschwein zur Seite. Gemeinsam machen sich die drei auf den Weg, an einem Tag das ganze Glück zu suchen. Nebenbei liefert der Autor kleinen und großen Hörern philosophischen Stoff zum Nachdenken. Lohnt die Bekanntschaft mit jemandem, der nur kurz lebt? Und wie packt man das ganze Glück in 24 Stunden? Martin Baltscheit überzeugt als cleverer Fuchs, Charly Hübner als gutmütiges Wildschwein und Annett Louisan als liebenswerte Eintagsfliege, die sich zunächst für eine Maifliege hält und nichts von ihrem kurzen Leben ahnt. Ein Hörspiel mit Geräuschen und stimmiger Musik (Sandra Weckert), das man immer wieder hören möchte. Für die Jury: Juliane Spatz

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