Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Henri Dutilleux: Symphonie Nr. 1

u.a. Orchesterwerke. Christian Tetzlaff, Orchestre de Paris, Paavo Järvi. Erato 2564624244 (Warner)

Beredter kann ein symphonisches Plädoyer für den bei uns immer noch unterschätzten Henri Dutilleux kaum ausfallen: Sein Meisterwerk »Métaboles« erklingt nicht nur im Schlusssatz so »flamboyant«, wie es die Partiturvorgabe verlangt. Und die von Dutilleux als »Jugendwerk« zu gering eingeschätzte Erste Sinfonie tönt selbst- und formbewusst. Paavo Järvi und sein glänzend aufgelegtes Orchestre de Paris musizieren das angemessen geistreich, reaktionssicher, klangvoll und immer durchhörbar. Das Violin-Nachtstück »Sur le même accord« mit dem klugen und sensiblen Solisten Christian Tetzlaff rundet das Portrait eindrucksstark ab. Für die Jury: Rainer Wagner

Orchestermusik und Konzerte

Vilde Frang – Mozart

Wolfgang Amadeus Mozart: Violinkonzerte Nr. 1 & 5, Sinfonia Concertante KV 364. Vilde Frang, Maxim Rysanov, Arcangelo, Jonathan Cohen. Warner Classics 2564627677

Diese Werke bleiben ewig jung – sie haben philharmonischen Plüsch, kratzbürstige Historisierer, rokokoeske Verniedlicher und hyperventilierende Alles-Anders-Macher schadlos überstanden. Und glänzen jetzt wieder etwas intensiver – wie ein kostbarer, unter klarem Licht nochmals leicht gedrehter Diamant. Denn die norwegische Geigerin Vilde Frang entlockt der Musik neue Facetten, die eher energisch glühen als vordergründig strahlen. Das wohltuend vibratoarm spielende Kammerorchester Arcangelo und Bratscher Maxim Rysanov fügen sich perfekt in ein von der Technik ausgewogen gezeichnetes Klangbild. Für die Jury: Lothar Brandt

Kammermusik

Mozart, Mendelssohn – Chiaroscuro Quartet

Wolfgang Amadeus Mozart: Streichquartett d-moll KV 421; Felix Mendelssohn Bartholdy: Streichquartett a-moll op. 13. Chiaroscuro Quartet. Aparté AP 092 (harmonia mundi)

Der Klangreden sind genug gehalten, und es muss auch für die Klassik nicht mehr bewiesen werden, dass Darmsaiten den Horizont erweitern können. Das Chiaroscuro Quartet spielt sich nicht nur selbstverständlich an die Seite der besten modern ausgerüsteten Kollegen. Es entdeckt, plastisch strukturierend und perfekt intonierend, einen geradezu unheimlich zeitlosen Mozart galaktischer (und doch warmer) Farben, einen fremden Vertrauten, der mehr weiß, als er sagt. Dagegen nehmen die Musiker, altersmäßig zwischen beiden Komponisten, den jungen Mendelssohn bis in die feinste Kapillare so persönlich, dass nach der Herausforderung durch subtile Ferne eine durch sensible Nähe entsteht. In beiden Fällen ist man gespannt auf jeden Ton, jede Farbe, spürt den Sog. Und erholt sich von der »Wellness«-Mode, die sich in der Branche gerade auszubreiten droht. Für die Jury: Volker Hagedorn

Tasteninstrumente

Cécile Chaminade: Klavierwerke

Cécile Chaminade: Sonate c-Moll op. 21, Etüden. Johann Blanchard. MDG 904 1871 (Naxos)

Eher musikalisch unbefriedigend, also mehr als eine Art publizistische Rückendeckung für ungerecht behandelte Komponistinnen, waren die bislang vereinzelten Cécile-Chaminade-Einspielungen zu werten. Mit der vorliegenden Werkauswahl ist es dem siebenundzwanzigjährigen Pianisten Johann Blanchard gelungen, dieser eleganten, von virtuosem Sentiment beflügelten Musik endlich das fällige Podium zu eröffnen. Mit Verve und Raffinesse stellt er sich als brillanter Chaminade-Anwalt vor, der einfühlsam auf die verschiedenen Stück-Charakteristiken reagiert. Blanchard – das ist zu spüren – liefert nicht nur Repertoire, er steht mit allen Mitteln erregenden, aber auch verantwortungsvoll sentimentalen Klavierspiels für die elegante, blitzgescheite Sonaten- und Etüdenkunst der Komponistin ein. Dank dieser Leistung wird es von nun an völlig unstatthaft sein, die Musik von Cécile Louise Stéphanie Chaminade sozusagen von oben herab zu hören. Für die Jury: Peter Cossé

Tasteninstrumente

César Franck: Vater der Orgelsymphonie

David Noël-Hudson, Joris Verdin, Jean-Pierre Griveau. 2 DVDs und 2 CDs, Fugue State Films FSF DVD 009 (Naxos)

Ein berühmtes Bonmot César Francks wird hier zum Ausgangspunkt einer wunderbaren Reise: »Mon orgue, c’est un orchestre!« Aber nicht nur die Musik des großen Franzosen erklingt in diesem Film, an verschiedenen, fein ausgewählten Cavallié-Coll-Orgeln. David Noël-Hudson liefert auch eine Analyse der zwölf wichtigsten Orgelwerke, Joris Verdin erläutert die spezielle Spielweise Francks. Und Hörer bzw. Zuschauer können dem Menschen César Franck begegnen, in biographischen Dokumenten. So kommt man ihm mit dieser fundierten und opulenten Produktion auf zwei DVDs und zwei CDs tatsächlich näher, dem Organisten von Sainte-Clotilde. Für die Jury: Martin Hoffmann

Oper

Jean-Philippe Rameau: Les Fêtes de Polymnie

Véronique Gens, Emöke Baráth u.a., Orfeo Orchestra, György Vashegyi. 2 CDs, Glossa GCD 923502 (Note 1)

Eine echte Perle der französischen Barockmusik ist dieses »Ballet héroïque«, aufgeführt 1745 als allegoriengesättigte Huldigung an Louis XV. nach dem Sieg in der Schlacht von Fontenoy, im Österreichischen Erbfolgekrieg. Im großartigen Prolog und drei Aufzügen werden rhetorisch prägnant ausformulierter Sologesang, prachtvolle Chorsätze und instrumentale Tanzeinlagen dicht miteinander verwoben und zu bewegenden Tableaus gefügt. Jean-Philippe Rameaus wenig bekannte, dabei hochinspirierte Partitur durch eine in vieler Hinsicht gut gelungene Gesamtaufnahme ins Licht der Aufmerksamkeit zu rücken – das ist dieser ungarisch-französischen Koproduktion als Verdienst anzurechnen. Für die Jury: Max Nyffeler

Oper

Richard Wagner: Der fliegende Holländer

Bryn Terfel, Anja Kampe, Matti Salminen, Marco Jentzsch u.a., Philharmonia Zürich, Alain Altinoglu, Andreas Homoki. DG DVD 0440 073 5173 4, Blu-ray 0440 073 5174 1 (Universal)

Expressionistische Gespenstergeschichte und Gesellschaftskritik – Andreas Homoki zeigt, dass beides in Wagners vermeintlich »nur romantischem« Musikdrama steckt. Das imperialistische Übersee-Handelskontor Dalands kreist auf der Drehbühne um Geisterschiff-Probleme. Wie ein Caligari-Wiedergänger kommt und geht der wuchtig überragende Holländer Bryn Terfel durch diese scheinbar wohlgeordnete Welt. Parallel zum Geisterchor brennt die Weltkarte von Afrika aus. Das Feuer greift auf Europa über, »die Wilden« töten singend mit Pfeil und Bogen. In dieser Welt will Anja Kampes sehnsuchtsvoll glühende Senta nicht leben. All das wird hochemotional gesungen und von der Philharmonia Zürich unter Alain Altinoglu zupackend musiziert. Für die Jury: Wolf-Dieter Peter

Chor und Vokalensemble

Luca Marenzio: Quinto Libro di Madrigali

a sei voci. La Compagnia del Madrigale. Glossa GCD 922804 (Note 1)

Keine Leidens-Chromatik à la Carlo Gesualdo trübt den arkadischen Frühling: Natur- und Seelenbilder fügt das fünfte Buch von Luca Marenzios sechsstimmigen Madrigalen zu einem wohlklingenden Akkord von Anmut und Würde. Solchem Geist erlesen-eleganter Klassizität ist aber auch nichts Sinnliches fremd: Die musikalische Rückkehr ins irdische Paradies zollt der Devotion der 1591 publizierten Sammlung an ein adliges Hochzeitspaar Tribut – als sollte in lauterem Wohlgefallen zugleich die von Eifersuchts- und Ehrenmorden strotzende Familiengeschichte des Herzogs Orsini, Vorbild von Shakespeares Orsino in »Was ihr wollt«, aufgehoben werden. Die Compagnia del Madrigale, derzeit das Spitzenensemble der Gattung, phrasiert die vokalen Linien mit geschmeidiger Natürlichkeit, ohne die expressive Note zu unterschlagen: elastisch im Timbre von samtsanfter Zärtlichkeit bis zu klarer Fülle, plastisch in der rhetorischen Formung, homogen ausbalanciert bis in die feinste Nuance. Für die Jury: Martin Mezger

Klassisches Lied und Vokalrecital

»Green«. Mélodies françaises sur des Poèmes de Verlaine

Philippe Jaroussky, Quatuor Ebène, Jérôme Ducros u.a. Erato 2564616695 (Warner)

Lyrisches Legato, weiter Atem, kristallklare Intonation – mit diesen Vorzügen verwöhnt uns Philippe Jaroussky seit langem. So auch in seinem weit gespannten Liederkreis auf Texte von Paul Verlaine. Von der Belle Époque (vertreten von Gabriel Fauré, Ernest Chausson und Claude Debussy) bis tief ins 20. Jahrhundert (Edgard Varèse, Charles Koechlin) reicht die Auswahl, von der himmelblauen Mélodie (Reynaldo Hahn) bis zum launigen Operetten-Couplet (Alexis-Emmanuel Chabrier) und modernen Chanson (Charles Trenet, Georges Brassens). Ein blitzgescheit komponiertes Programm, vom Pianisten Jérôme Ducros und den sich auch mal als Mini-Chor einmischenden Musikern des Quatuor Ebène sensibel begleitet! Und Jaroussky beweist, dass eine Counterstimme auch diesem Repertoire nie gehörte Farben abgewinnen kann – wenn es denn so reflektiert, intelligent und stilsicher zugeht wie hier. Für die Jury: Albrecht Thiemann

Alte Musik

Francisco Guerrero, Alonso Lobo: »Flight of Angels«

The Sixteen, Harry Christophers. Coro COR 16128 (Note 1)

Die von Harry Christophers zusammengestellten Mess-Sätze und Motetten von Francisco Guerrero und Alonso Lobo geben einen faszinierenden Einblick in das Schaffen dieser beiden selten zu hörenden Meister der spanischen Renaissance-Polyphonie. Christophers und sein englisches Elite-Vokalensemble The Sixteen gestalten die überwältigende Kontrapunktik der teilweise mehrchörigen Stücke mit subtiler Klangbalance, ohne auf tiefer gehende Emotionen zu verzichten. Guerrero erweist sich dabei als der virtuosere, der dissonanzenreiche Lobo nicht zuletzt mit der für die Beerdigung des spanischen Königs Philipp II. entstandenen Motette »Versa est in luctum« als der dunklere, elegischere Komponist. Für die Jury: Uwe Schweikert

Historische Aufnahmen

Johanna Martzy: RIAS Recordings

Werke von Antonin Dvorák, Johannes Brahms, Johann Sebastian Bach u.a. RIAS Symphonieorchester, Ferenc Fricsay u.a. Audite 1023 424 ADT (Edel)

Die ungarische Geigerin Johanna Martzy wurde trotz ihrer kurzen Karriere zu einer Interpreten-Legende. Diese Edition versammelt Berliner Rundfunkproduktionen aus den fünfziger und sechziger Jahren und präsentiert einen Querschnitt durch die Stile, von der Bach-Sonate bis zur Fritz-Kreisler-Piece. Immer wieder erweist sich, wie uneitel diese Künstlerin auch im virtuosen Repertoire agierte. Im Zentrum steht die G-Dur Violinsonate op. 78 von Brahms, begleitet von Jean Antonietti, sowie das hinreißend musizierte Dvořák-Konzert op. 53, dirigiert von Ferenc Fricsay. Für die Jury: Wilhelm Sinkovicz

Grenzgänge

Jun Miyake: Lost Memory Theatre

Act 2. yellowbird YEB-7746 (Soulfood)

Die von Jun Miyake geschaffenen Klangfolgen gleichen vorbeiziehenden Traumbildern. Das Spiel mit Erinnerung, Vergessen und Vergegenwärtigen mündet in vielschichtig schillernde Stücke, die sich bei wechselnden Besetzungen unterschiedlichster Stilmittel bedienen – weil sie von einer magischen Grundstimmung durchzogen sind, fallen sie aber nicht auseinander. Die Grenzen zwischen kammermusikalischer Anmutung, popmusikalischer Trivialität und avancierter Klangproduktion verschwimmen. Mit dem zweiten Akt des »Lost Memory Theatre« gelingt Jun Miyake eine verblüffende Steigerung seiner musikalischen Phantasie in Gestalt von Visionen und Imaginationen – angefüllt mit Nostalgie und zugleich beflügelt von der Lust am so zuvor noch nicht Gehörten. Für die Jury: Bert Noglik

Filmmusik

Gary Yershon: Mr. Turner

Varèse Sarabande 302 067 310 8 (Colosseum)

Der Soundtrack des britischen Komponisten Gary Yershon zu Mike Leighs Film »Mr. Turner – Meister des Lichts« über deren Landsmann, den romantischen Landschaftsmaler William Turner, ist die perfekte klangliche Entsprechung des spröde-verstörenden Charakters der Hauptfigur. Mit ihrer Reduzierung auf Streichquintett und Holzbläser verfolgt sie einen adäquat kunstsinnigen Ansatz, der den visuellen Schöpfungsprozess auch auf akustischer Ebene unmittelbar spürbar werden lässt und in diesem Sinne »unerhört« und innovativ wirkt. Für die Jury: Matthias Keller

Musikfilm

Chopin

A Documentary By Angelo Bozzolini. DVD, EuroArts 2058848 (Naxos)

Der Pianist Charles Rosen schrieb einmal über Frédéric Chopin, er sei ein polnischer Komponist gewesen, der in Paris deutsche, französische und italienische Musik schrieb. Regisseur Angelo Bozzolini kristallisiert in zahlreichen Gesprächen mit Interpreten, Musikwissenschaftlern und Schriftstellern alle Inspirationsquellen und Charakteristika von Chopins Musik heraus. Doch keine Dokumentation hat bislang so klar dessen polnische Wurzeln ins Zentrum gestellt. Wie stark Chopin als ein Symbol polnischer Identität gilt, zeigt sich etwa daran, dass Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg das Chopin-Denkmal in Warschau zerstören ließ. Wunderbare Konzertdokumente, u.a. mit Arturo Benedetti Michelangeli, Bilder vom damaligen und heutigen Leben in Paris, Warschau oder Żelazowa Wola beleben das sensibel komponierte Portrait. Und Chopin selbst erzählt – per Animation einer Fotografie. Ein eigenwilliger, berührender Film. Für die Jury: Elisabeth Richter

Jazz

Rudresh Mahanthappa: Bird Calls

ACT 9581-2 (Edel)

Der indische Altsaxophonist Rudresh Mahanthappa bekannte, Bebop-König Charlie »Bird« Parker sei das Schlüsselerlebnis seiner Karriere gewesen.. Mit »Bird Calls« widmet er dieser vielleicht einflussreichsten Persönlichkeit, die je auf die weitere Jazzgeschichte einwirkte, eine höchst originelle Hommage. Mahanthappa spielt Parkers Themen nicht direkt; er reflektiert sie, nimmt Gestalt und Charakter als Futter seiner eigenen, auch kompositorischen Phantasien. Es macht Spaß, die Themen – wenn bekannt – in einer Art Vexierspiel in den Verarbeitungen aufzuspüren, aber man kann die irrsinnige Virtuosität, Klangkraft und Einfallsdichte auch ohne das genießen. Auf die für Mahanthappa typischen Zitate aus der modalen indischen Musik verzichtet der Meister übrigens keineswegs. Und in dem Trompeter Adam O’Farrill hat er einen ebenbürtigen Partner. Für die Jury: Ulrich Olshausen

Weltmusik

Criolo: Convoque Seu Buda

Sterns 470190 (Alive)

Er kennt, ehrt und beherrscht die brasilianischen Traditionen, aber er steht mit allen Vieren im dritten Jahrtausend und hantiert mit HipHop, Electronica oder House genauso kompetent wie mit Einheimischem. Der bald vierzigjährige Kleber Cavalcante Gomes, genannt Criolo, meistert diese Vielfalt mit großer Sicherheit und gebührendem Pathos, immer wieder konterkariert mit viel Ironie. Unser Mann aus São Paulo ist also interkontinental kompatibel, aber keineswegs ein Vertreter des nichtssagenden »Crossover«, wie sein drittes Album »Convoque Seu Buda« eindrucksvoll demonstriert. Die Zukunft aller »Mischlings-Sounds« (so die Übersetzung von Criolo) hat begonnen. Für die Jury: Marianne Berna

Traditionelle Ethnische Musik

Zomba Prison Project: I Have No Everything Here

Six Degrees / Exil 10902-2 (Indigo)

Diese Aufnahmen sind ungelenk, sie sind kurz – neun der zwanzig Stücke bringen es auf weniger als eine Minute. Aber sie sind auch ehrlich, direkt, und sie spiegeln eine ganz besondere Lebenssituation wider: Hier singen und spielen Männer und Frauen aus dem Zomba Maximum Security Prison in dem südostafrikanischen Staat Malawi. Die Lieder wurden bis auf eine Ausnahme selbst geschrieben und beziehen sich direkt auf die Situation der Gefangenen; sie heißen »I Will Kill No More«, »I See The Whole World Dying Of Aids«, »Give Me Back My Child« oder einfach »When They See Me Dance« – Frauen war nur Singen und Tanzen erlaubt, während die Männer eine Band mit Instrumenten gründen durften. Wir wissen nicht, wofür sie verurteilt wurden, aber für alle 2000 Insassen bedeutet Musik Lebensmut. Und ist damit eine große Kunst. Für die Jury: Bernhard Hanneken

Liedermacher

Hannes Wader: Sing

Mercury 4711473 (Universal)

Der aktuelle Wader ist der bewährte Wader. Auf »Sing« vermisst man neben anderem zwar Schubert-Referenzen. Stattdessen, gut so, setzt der anhaltend zeitkritische Fahrensmann die Tradition seiner bissigen Talkin’-Blues-Novellen fort. Zudem ist das Klangbild angereichert mit neuen Impulsen wie Cello, Steel Guitar oder gar einem dreistimmigen Damenchor. Seit jeher verstand sich Hannes Wader darauf, pointiert Galliges mit Romantischem oder Visionärem zu vereinen. Prägnant geblieben ist Waders kontrastreicher, sonorer Gesang. Der nunmehr zweiundsiebzigjährige Barde lässt auf diese Weise neun seiner zehn poetischen »Sing«-Liedtexte – außen vor gelassen sei der titelgebende Stadl-Singsang – eindrücklich nachwirken. Für die Jury: Jochen Arlt

Folk und Singer/Songwriter

Bube Dame König: Traumländlein

CPL Music 00649 (Broken Silence)

Immer steht das jeweilige Lied wie eine Ikone im Vordergrund. Denn dieses Trio aus Halle an der Saale balanciert traumwandlerisch sicher zwischen Schlichtheit und pointierter Virtuosität. Juliane Weinelt, Till Uhlmann und Jan Oelmann, den drei Mitgliedern von Bube Dame König, hört man die Vertrautheit mit dem internationalen Folkrevival an. Ihre sensible und geschickte Übertragung von schwedischer, französischer und keltischer Stilistik auf bekannte deutsche Volkslieder macht das Überlieferte unerwartet frisch und schafft klare Distanz zu Kitsch und Volkstümlichkeit. Bube Dame König gelingt so ein ausgesprochen origineller Zugang zu Heimat und Tradition. Die eigenen Lieder des Ensembles fügen sich wie selbstverständlich in dieses Gesamtbild ein. Für die Jury: Jo Meyer

Pop

Ibeyi

XL Recordings 999872 (Indigo)

Weltmusik im besten Sinn präsentieren die kubanischen Zwillingsschwestern Lisa-Kaindé und Naomi Díaz auf ihrem Debütalbum »Ibeyi«. Sie sind Töchter von Miguel »Anga« Díaz, dem Perkussionisten des weltberühmten Buena Vista Social Club, der 2006 starb. Zwanzigjährig, leben die beiden heute in Paris, sie singen vielsprachig, in Französisch, Englisch oder Yoruba, einem nigerianischen Dialekt, der auf Teilen Kubas gesprochen wird. In ihren minimalistisch instrumentierten Songs vermischen sich kubanische Rhythmik, Yoruba-Gesänge, jazzige Gesangsphrasierungen und Einflüsse aus dem R&B mit den aktuellsten Entwicklungen der elektronischen Musik, die sich in fragmentierten Samples und Post-Dubstep-Bässen manifestieren. Ibeyi bedienen nicht das im Westen so beliebte romantisierte Klischee der Weltmusik. Ihr Patchwork aus multistilistischen Einflüssen ergibt eine hochaktuelle und zeitgemäße Popmusik. Für die Jury: Albert Koch

Alternative

Lotic: Heterocetera

Tri Angle Records 6785620 (Rough Trade)

Der aus Texas stammende, in Berlin lebende Produzent J’Kerian Morgan alias Lotic zählt zu den innovativsten Protagonisten des aktuellen elektronischen Pop. In klanglich überaus markanter Weise verbindet er Härte und Weichheit, hektische Beats und zeitlupenhaft oszillierende Bässe, als DJ kombiniert er Melodiefragmente aus dem Mainstream-R&B mit kalt klonkenden Beats. Auf seiner Debüt-EP »Heterocetera« schweben disharmonisch gegeneinander vibrierende Sirenenchöre nun über schnipp-schnapp-scherenhaft klappernden Rhythmen, und im Titelstück hat er aus dem Sample eines legendären House-Stücks – »The Ha Dance« von Masters At Work – einen György-Ligeti-haft flehenden Chor-Cluster gemacht: eine faszinierende Verschränkung von Traditionsbewusstsein, Abstraktionswillen und Tanzbarkeit. Für die Jury: Jens Balzer

Club und Dance

Percussions: 2011 Until 2014

Percussions Bandcamp (Download)

»Seit Mitte der neunziger Jahre gehört Kieran Hebden zum innovativen Inventar der Londoner Szene. Er produziert, meist unter dem Namen Four Tet, Musik zwischen Experiment und Club. Unter dem Namen „Percussions« begann er 2011 eine Reihe von klar auf den Club hin konzipierten Singles. Aus diesen und weiteren Tracks hat er mit »2011 Until 2014« ein Album gebündelt, das in Bezug auf Spannungsbogen und Durchhörbarkeit tatsächlich das Format ausfüllt und perkussive, elektronische Stücke voll klanglicher Details bietet. Verschachtelt arrangierte Synthesizer-Sequenzen, Samples, Loops und Beats dominieren, gelegentlich tauchen unerwartete Sounds auf, etwa Vogelgezwitscher, afrikanische Instrumente oder kurz eingeblendeter Soul aus den 1970er Jahren – aber immer halten sich rhythmische Spannung und innere Wärme die Waage. Hebden gelingt es, mit seiner Musik körperliche Glücksmomente auf intelligente Weise zu erzeugen. Für die Jury: Christian Tjaben

Electronic und Experimental

Future Brown

Warp CD 262 (Rough Trade)

Das Debütalbum von Future Brown ist ein schillernder Hybrid zwischen Grime, Dancehall und Dubstep. Diese vier Musiker aus New York und L.A. sehen sich nicht als Band, sondern als ein aus vier Produzenten bestehendes Team: die in Kuwait geborene Konzeptkünstlerin Fatima al Quadiri; J-Cush, Boss des New Yorker Labels Lit City Trax; sowie Asma Maroof und Daniel Pineda, die zusammen das Duo Nguzunguzu bilden. Unterstützt werden Future Brown von einem Dutzend Vokalisten, darunter Tink, Riko Dan oder Sicko Mob, die für unterschiedliche Genres stehen. Das Ergebnis ist ein faszinierender Trip in eine bedrohlich klingende Zukunft – denn hinter den vertrackten Rhythmen und fremdartigen Klangflächen lauert eine ausgesprochen pessimistische Weltsicht. Für die Jury: Jürgen Ziemer

R&B, Soul und Hip-Hop

D’Angelo And The Vanguard: Black Messiah

RCA 88875056552 (Sony)

Selten war sich die Jury R&B, Soul & HipHop so einig, welche Produktion aus dem Quartal sie auf den Schild heben soll. Vierzehn Jahre nach seinem »Voodoo«-Album hat D’Angelo, der heute einundvierzigjährige Soul Man aus Virginia an der US-Ostküste, ein weiteres Meisterwerk aufgenommen. »Black Messiah« ist eine Andacht für den Soul, zugleich eine in die Zukunft weisende Predigt, mit Botschaften beladen, aber ohne religiösen Eifer. Und D’Angelo fordert den Zuhörer heraus: Das Konzept dieser Konzeptveröffentlichung ist erst nach wiederholtem Hörgenuss vollständig zu dechiffrieren. An diesem Album kann man sich produktiv reiben wie an den aktuellen Veröffentlichungen von Flying Lotus und Kendrick Lamar. Für die Jury: Torsten Fuchs

Blues

The Blues Company: Ain’t Nothing But ...

CD + DVD, in-akustik INAK 9135

Diese CD, in einer limitierten Auflage auch als Set mit DVD erhältlich, bietet nicht nur einen wunderschönen Querschnitt durch das derzeitige Live-Programm der um einen Bläsersatz (The Fab BC Horns) und zwei Background-Vokalistinnen erweiterten Blues Company. Sie besticht zudem durch die hervorragende Qualität der Audio- und Videoaufnahmen. Der wesentliche Punkt freilich ist, dass die Band mit der geschickt umgesetzten, kopfhörerbasierten Philosophie der »Silent Concerts« ihrem Auditorium den perfekten Saalsound schlechthin bietet. Damit nimmt die Blues Company eine Vorreiterrolle ein – und allein schon dies macht »Ain’t Nothing But …« zu einer Veröffentlichung der besonderen Art. Für die Jury: Karl Leitner

Wortkunst

H. G. Adler und Hermann Langbein: Auschwitz

Topographie eines Vernichtungslagers. Radiofeature von H. G. Adler und Hermann Langbein. Mit Tondokumenten von Jehuda Bacon, Grete Salus, Otto Wolken u.v.a., Der Audio Verlag (WDR) ISBN 978-3-86231-507-9

Ein Archivfund, hochinformativ und erschütternd. Bereits 1961, zwei Jahre vor dem ersten Auschwitz-Prozess und lange vor dem Gebrauch des Wortes »Holocaust« für das unvorstellbare Verbrechen, erfassen zwei ehemalige Auschwitz-Häftlinge, der Schriftsteller und Wissenschaftler H. G. Adler sowie der Historiker Hermann Langbein, die Maschinerie der Entmenschlichung und des Tötens in dem Lager. Aus Tondokumenten Überlebender und Aufzeichnungen von Tätern wie Rudolf Höß und Adolf Eichmann ist ein in seiner Intensität einzigartiges Hörstück entstanden, das bei seiner Ursendung im WDR wohl vielen Menschen erstmals Fakten der NS-Vernichtungsmaschine vermittelte. Dessen Wiederentdeckung lässt uns noch heute, siebzig Jahre nach Kriegsende, fassungslos die Frage stellen: Warum? Für die Jury: Wolfgang Schiffer

Kinder- und Jugendaufnahmen

Oliver Steller: Gedichte für Kinder 5

Naxos Hörbuch ISBN 978-3-89816-291-3

Gedichte können Spaß machen. Gedichte sind Rhythmus, Musik und Sprachspiel. Gedichte erzählen Geschichten und Nonsens, und sie stellen uns vor Rätsel. Vor allem aber: Sie wollen nicht leise gelesen, sondern unbedingt gesprochen, gesungen, geflüstert oder auch mal geschrien werden. Dass all dies und noch viel mehr in den Gedichten bekannter und auch weniger bekannter Autoren steckt, dass auch Kinder auf diese Weise von Lyrik geradezu infiziert werden können, das beweist Oliver Steller mit diesem Album. Ob bei »Puhne zätzen«, »Monsterliebe« oder der legendären »Spinne Martha«, kein Kind mag dabei gelangweilt sitzen bleiben, es wackeln die Wände, und am Ende rufen alle: noch mal! Für die Jury: Juliane Spatz

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