Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Schönberg / Kolja Blacher, Markus Stenz

Arnold Schönberg: Pelleas und Melisande op. 5; Violinkonzert op. 36. Kolja Blacher, Gürzenich-Orchester Köln, Markus Stenz. Oehms Classics 4260034864450 (Naxos)

Arnold Schönbergs frühes symphonisches Poem »Pelleas und Melisande« ist zugleich ein spätromantisch-klangsinnliches Orchestertableau von höchster Farbintensität und die wohlorganisierte Partitur eines ästhetischen Rationalisten, der mit unendlichen klanglichen Facetten und polyphonen Feinstrukturen souverän umgeht. Mehr als die Wiener Zeitgenossen der vorletzten Jahrhundertwende weist Schönberg in seiner Poetik, hier durch ein kongeniales Sujet beeinflusst, auf die finsteren, ja katastrophischen Tendenzen kommender Jahrzehnte voraus. Markus Stenz, das Gürzenich-Orchester Köln und der Editor stellen ihr umfassendes Schönberg-Verständnis unter Beweis, indem sie die Tondichtung mit dem spröderen, gleichsam abstrakten und dennoch hochvirtuosen Violinkonzert aus der Zwölftonphase kombinieren. Auch diese Dopplung kann als Kommentar zur kompositorischen Dialektik des 20. Jahrhunderts verstanden werden. Für die Jury: Hans-Klaus Jungheinrich

Orchestermusik und Konzerte

Schumann: Sämtliche Konzerte & Klaviertrios Vol.1

Robert Schumann: Violinkonzert d-moll, WoO 23; Klaviertrio Nr. 3 op. 110. Isabelle Faust, Jean-Guihen Queyras, Alexander Melnikov, Freiburger Barockorchester, Pablo Heras-Casado. CD und DVD, harmonia mundi HMC 902196

Das lange Zeit missachtete und vergessene, einst gar von dem Widmungsträger, dem Virtuosen Joseph Joachim, verschmähte Violinkonzert Robert Schumanns gilt heute als einer der interessantesten Beiträge der Romantik zu dieser Gattung. Die Solistin Isabelle Faust, die mit diesem Album eine Schumann-Serie eröffnet, trifft die betörende Melodik dieses Spätwerkes ebenso wie die kraftvolle Rhythmik, bleibt dabei aber stets dezent in konzertanter Partnerschaft mit dem von Pablo Heras-Casado in den Klangfarben bestens ausbalancierten Freiburger Barockorchester. Nicht minder charakteristisch gelingt ihr, im Zusammenspiel mit Queyras und Melnikov, das Klaviertrio g-moll op. 110. Für die Jury: Hartmut Lück

Kammermusik

Dmitri Schostakowitsch: Streichquartette

Nr. 1, 8, 14. Borodin Quartet. Decca 4788205 (Universal)

Seit 1945 hatten die Borodins, damals noch als Moskauer Philharmonisches Streichquartett, einen besonderen Draht zu Dmitri Schostakowitsch, der ihren Rat einholte, bevor er Intimstes, Privatestes seinen Streichquartetten anvertraute – weil die sicher waren vor dem Zugriff von Stalins Kulturbürokratie. Schon einmal spielten sie alle fünfzehn Werke (plus das Klavierquintett op. 57) ein, für das Label Melodiya, in den Siebzigern und Achtzigern. Jetzt starteten sie für Decca die nächste Runde, weil Musik zu verschiedenen Zeiten auch verschieden zu klingen habe – zumal die Klangtechnik inzwischen Riesenschritte machte. Die erste Tranche des neuen Zyklus ist noch sensibler im Aushören von Binnenbeziehungen, noch kompromissloser im Aufschrei und im Verstummen, noch philharmonischer im Timbre. Das Album bündelt ein Früh- und ein Spätwerk mit einem aus der Mitte: dem achten Quartett, gewidmet den Opfern der Zerstörung Dresdens im Zweiten Weltkrieg. Vermessung also eines ganzen Kosmos, gespannt zwischen schwärzeste Depression und grellste Zirzensik. Für die Jury: Thomas Rübenacker

Tasteninstrumente

Domenico Scarlatti: Klaviersonaten

Claire Huangci. 2 CDs, Berlin Classics 0300603 BC (Edel)

Claire Huangci, die junge amerikanische Pianistin chinesischer Abstammung, reiht sich mit diesem ungemein frisch und wendig vorgetragenen, in den flinken und wirbelnden Momenten aufregend gebotenen Scarlatti-Programm in den kleinen Kreis der führenden Interpreten ein. Die Lesarten von Vladimir Horowitz, sicher auch die von Aldo Ciccolini und Mario Tipo in Erinnerung, gelingt es Huangci, sich in allen Stimmungslagen, aber auch in allen technischen Belangen prächtig zu bewähren. Sie kalkuliert, dosiert, überrascht, schaltet blitzschnell um, wenn nötig, und spielt sich als freche, übermütige Interpretin völlig berechtigt in den Vordergrund. Zwischen neapolitanischer Ausgelassenheit und gelegentlich iberischer Hofeskälte vermittelt sie virtuos – eine Erfrischung, eine Beseelung, eine diskographische Bereicherung! Für die Jury: Peter Cossé

Tasteninstrumente

William Hamilton Bird: The Oriental Miscellany

Airs Of Hindustan. Jane Chapman. Signum Classics SIGCD 415 (Note 1)

Die Cembalistin Jane Chapman ist bekannt für ihr furchtloses Eintreten, wenn es um unkonventionelle Entdeckungen geht. Bei den von William Hamilton Bird transkribierten und bearbeiteten indischen Liedern handelt es sich um eine echte Trouvaille, die zudem eines der ersten, wenn nicht gar das erste Beispiel eines musikalischen Orientalismus überhaupt ist. Diese Einspielung kommt so lebendig, frisch und inspirierend daher, dass musikalischer Erkenntnisgewinn und Hörvergnügen gleichermaßen garantiert sind. Chapman entdeckt immer neue Facetten des Cembaloklangs, selten tönte dieses Instrument zeitgemäßer und aktueller als hier. Kurzum: Hier wird ein bislang unbekanntes Werk erschlossen und so hinreißend musiziert, dass man aus dem Schwärmen nicht mehr herauskommt. Für die Jury: Guido Krawinkel

Oper

Giuseppe Verdi: Les Vêpres Siciliennes

Lianna Haroutounian, Bryan Hymel, Michael Volle, Erwin Schrott u.a., Orchestra Of The Royal Opera House, Antonio Pappano, Regie: Stefan Herheim. 2 DVDs, 1 Blu-ray, Opus Arte 0825646164349 / 0825646164318 (Warner)

Es sei, schrieb Degas, in der Oper »alles falsch: das Licht, die Dekorationen, die Frisuren der Balletteusen, ihre Büsten und ihr Lächeln. Wahr sind nur die Wirkungen, die davon ausgehen«. Stefan Herheim gelang in seiner Londoner Produktion der »Sizilianischen Vesper« ein Wechsel der Kostümierung in Richtung von Verdis Wahrheit. Er verlegte den historischen Volksaufstand der Italiener gegen die Franzosen von 1282 zeitlich und räumlich ins Paris der Uraufführung von 1855 und auf die Bühne einer nachgebauten Grand-Opéra-Aufführung.

Dem Ballett »Les Quatres Saisons« wird so geradezu der »genius loci« wiedergegeben, freilich nicht als Einlage im dritten Akt, sondern mehrfach in die Handlung eingebaut. Ein Seitenblick auf Petipas Tanzkunst, die historische Wahrheit eines Aufstands gegen imperiale Machtausübung sowie die familiär zwischenmenschlichen Verstrickungen sind gekonnt miteinander verschmolzen. Pappano führt das erstklassige Solistenensemble zu emphatischen Ausbrüchen, ein unterschätztes Werk gewinnt spannende Aussagekraft. Für die Jury: Wolf-Dieter Peter

Oper

Antonio Salieri: Les Danaïdes

Judith van Wanroij, Philippe Talbo, Tassis Christoyannis u.a., Les Talens Lyriques, Christophe Rousset. 2 CDs, Ediciones ES 1019 (Note 1)

Gerechtigkeit für Salieri! Dieser Komponist, der einer unbewiesenen, aber hartnäckig kolportierten Behauptung zufolge Mozart aus Neid vergiftet haben soll, erweist sich hier als exzellenter Musikdramatiker in der Nachfolge seines Freundes und Förderers Christoph Willibald Gluck, der die Uraufführung 1784 in Paris tatkräftig unterstützt hatte. Die antike Horrorgeschichte des Massenmordes der Töchter des Danaos an ihren Freiern inspirierte Salieri zu einer Musik von klassizistischer Größe. Die von prachtvollen Chorsätzen überstrahlte Szenenfolge entwickelt dank Christophe Roussets zügigen Tempi einen dramatischen Sog, das Gesangsensemble ist bestens aufeinander abgestimmt. Bemerkenswert auch die editorische Qualität: Die Ausgabe ist von einer umfangreichen Dokumentation in Französisch und Englisch begleitet und liegt in attraktiver Buchform vor. Für die Jury: Max Nyffeler

Chor und Vokalensemble

Joby Talbot: Path Of Miracles

Conspirare, Craig Hella Johnson. SACD, harmonia mundi HMU 807603

Kann man den weltberühmten Pilgerpfad nach Santiago de Compostela vertonen? Ja, man kann – und zwar auf eine höchst originelle, verblüffende Weise. Der 1971 geborene Engländer Joby Talbot, den wir ansonsten wegen seiner Filmmusiken (»Per Anhalter in die Galaxis«) kennen, hat den »Path Of Miracles« mit seinen vier Stationen wundervoll vertont, und zwar ohne jeden Verzückungskitsch. Das fabelhafte Vokalensemble Conspirare, diese Profi-Formation aus dem texanischen Austin, lässt unter Leitung des Dirigenten Craig Hella Johnson gelegentlich zwar auch die Blasen unter den Füßen, mehr aber noch die spirituellen Schübe der Erfüllung hören. Die Chorpartitur ist anspruchsvoll, doch Conspirare macht das Wunder möglich, dass man von diesen Schwierigkeiten nichts erahnt. Für die Jury: Wolfram Goertz

Klassisches Lied und Vokalrecital

Héroïque – Französische Opernarien / Bryan Hymel

Französische Opernarien von Rossini, Berlioz, Verdi, Gounod u.a. Bryan Hymel, Prager Philharmoniker, Emmanuel Villaume. Warner 0825646179503

Gioachino Rossinis Arnold in »Guillaume Tell«, Giuseppe Verdis Henri in »Les Vêpres Siciliennes« oder die Partie des Énée in »Les Troyens« von Hector Berlioz zählen, insbesondere wegen ihrer hohen Tessitura, zu den hybriden Tenorpartien. Sie waren in den letzten Jahrzehnten nur selten angemessen zu besetzen. In den letzten Jahren hat der amerikanische Sänger Bryan Hymel just mit diesen Rollen an den Opernhäusern in London, Wien und München nachhaltig auf sich aufmerksam gemacht, ein Eindruck, den er mit seinem Debütalbum, einer Anthologie unter dem programmatischen Titel »Héroïque«, glänzend bestätigt. Für die Jury: Jürgen Kesting

Alte Musik

Antonio Caldara: Triosonaten

Amandine Beyer, Leila Schayegh, Matthias Spaeter u.a. Glossa GCD 922514 (Note 1)

Lange Zeit war Arcangelo Corelli das unerreichte Vorbild in Sachen Triosonaten, bis schließlich Antonio Caldara in den Jahren 1693 und 1699 mit seinen Opera 1 und 2 neue Maßstäbe setzte. Hier werden kontrapunktisch sorgfältig gearbeitete Sätze von virtuos-konzertierenden Elementen angenehm durchbrochen, und in den weiten melodischen Bögen gibt sich der nachmalige Opern- und Oratorienkomponist Caldara schon deutlich zu erkennen. Die Geigerinnen Amandine Beyer und Leila Schayegh spüren dem mit großer Freude am Detail nach und bestechen wie die Continuogruppe mit einer technischen Virtuosität, die kreativ und inspiriert ist, ohne zum eitlen Selbstzweck zu werden. Für die Jury: Matthias Hengelbrock

Zeitgenössische Musik

Tristan Murail: Le Partage des eaux, Contes cruels, Sillages

Wiek Hijmans, Seth Josel, BBC Symphony Orchestra, Pierre-André Valade. Aeon AECD 1222 (Note 1)

Tristan Murail versteht sich darauf, Visionen zu evozieren von der bebenden Dynamik hinter den Erscheinungen, seine Musik handelt von der Schönheit schöpferischer Ordnung in den Gefilden permanenten Umbruchs. Dieses Album stellt, in drei Erstaufnahmen, drei Orchesterwerke dieses französischen Spektralisten vor, aus drei Jahrzehnten, von 1985, 1996 und 2007, und erlaubt so Einblicke in seine kompositorische Entwicklung. Und es sind großartige Musiker, die im Opalisieren der Klangfarben und magmatisch-bewegter Texturen jenes Lauern des Unerhörten wach halten, welches alles Leben kostbar macht. Für die Jury: Helmut Rohm

Historische Aufnahmen

Gulda – Bach: Das Wohltemperierte Klavier

Johann Sebastian Bach: Das Wohltemperierte Klavier. Friedrich Gulda. 4 CDs, MPS 0300650 MSW (Edel)

Friedrich Gulda gab in den Jahren 1972 und 1973 dem großen Johann Sebastian Bach das »Versprechen, in Ehrfurcht und Liebe weiterhin und mehr als bisher mein Bestes zu tun«. Tatsächlich gilt diese lange vergriffene Aufnahme beider Bände des Wohltemperierten Klaviers, damals entstanden auf einem Bösendorfer Grand Imperial im Studio und unter Obhut des Villinger Jazzproduzenten Hans Georg Brunner-Schwer, als ein Meilenstein jederzeit dienender und liebender Virtuosität am Klavier. Gulda näherte sich dem Zyklus dieser achtundvierzig Präludien und Fugen nicht mit der Ehrfurcht des Musealen, vielmehr mit dem Willen zu kreativer Modernität – in Phrasierung und Klangfarbe sowie in der präzisen intellektuellen Durchdringung und dem ganzen Reichtum der Emotionen, den Bachs überragendes Kompendium des »Claviers« in sich birgt. Für die Jury: Wolfgang Schreiber

Grenzgänge

Anders Jormin, Lena Willemark, Karin Nakagawa

Trees Of Light. ECM 2406 (Universal)

Hinreißend, wie hier sehr unterschiedliche musikalische Erfahrungen ganz unangestrengt zusammenfließen! Der souverän im zeitgenössischen Jazz agierende Kontrabassist Anders Jormin findet eine gemeinsame Wellenlänge mit Lena Willemark, die, wie er, in Schweden beheimatet ist, sowie mit der Japanerin Karin Nakagawa. Mit Fiddle und Viola lässt Willemark Anklänge an nordische Folklore und Klassik aufleuchten, als Sängerin versetzt sie eigene Gedichte in den Atem des gemeinsamen Musizierens, während Nakagawa mit ihrem Spiel auf der fünfundzwanzigsaitigen Koto an klassische japanische Musik erinnert, sich aber zugleich mit aktuellem Klangverständnis in die Improvisationen einbringt. Für die Jury: Bert Noglik

Musikfilm

Barbara Hannigan – Concert & Documentary

Mahler Chamber Orchestra, Barbara Hannigan. Regie: Barbara Seiler, Michael Beyer. DVD, Accentus ACC 20327 (harmonia mundi)

Sie sei ein kreatives Tier, lautet ihre ebenso untertriebene wie irritierende Selbsteinschätzung: »I’m a creative animal!« So auch der Titel der Dokumentation des SFR, den Barbara Seiler hinter den Kulissen drehte, als die kanadische Sopranistin Barbara Hannigan im Sommer 2014 im KKL in Luzern eines ihrer kultverdächtigen dramatischen Konzerte gab, in denen sie zugleich singt und dirigiert, Mozartarien neben Ligetis »Mysteries of the Macabre«, letzteres in einem provozierenden Domina-Kostüm, mit pechschwarzer Perücke. Dass diese Sängerin in kein festes Rollenschema des klassischen Musikbetriebs passt, stellt Seilers Filmporträt eindrucksvoll unter Beweis, Michael Beyer steuert den Konzertmitschnitt bei. Faszinierend ist es, Hannigans teils abrupte und immer hoch reflektierte Rollenwechsel aus nächster Kameranähe mitzuerleben. Diese Nähe zuzulassen, ist keine Selbstverständlichkeit, sie spricht für die unbedingte Souveränität der Künstlerin. Für die Jury: Wolf-Christian Fink

Musikfilm

Brett Morgen: Cobain – Montage Of Heck

DVD / Blu-ray, Panorama Entertainment 5053083041014 / 5053083041038 (Universal)

Näher als in vorliegender Dokumentation ist man einer Rock-Ikone selten gekommen – wohl auch deshalb, weil Regisseur Brett Morgen aus dem Vollen schöpfen konnte. Er interviewte nicht nur Menschen aus dem engsten Umfeld Kurt Cobains, etwa dessen Mutter oder Krist Novoselic, den Bassisten der wegweisenden Band Nirvana. Er erhielt auch Zugang zu Privatvideos, Tagebüchern, Zeichnungen sowie unveröffentlichten Musikaufnahmen. Entstanden ist das dichte Porträt eines manisch-depressiven Künstlers, der nach der Scheidung der Eltern in jungen Jahren zum Außenseiter wurde (»Niemand wurde mit ihm fertig«), was zu unzähligen Demütigungen führte. Cobain entwickelte einen Hass, der in Gewaltphantasien gegen sich und andere mündete, schließlich tötete er sich selbst, 1994, im Alter von siebenundzwanzig Jahren. Für die Jury: Andreas Kunz

Jazz

Benjamin Schmid Jazz Quartet: Hot Club Jazz

Gramola 99069 (Naxos)

Von Musikern, die auf den Spuren von Genies wandeln, erhofft der Hörer im Grunde Gegensätzliches: Wer huldigt, soll anders klingen als der Geehrte (aber mindestens so originell!) und doch wieder ähnlich (dann aber auch so gut!). In seinem Tribute-Album, das überwiegend Stücke aus dem Repertoire Django Reinhardts und Stéphane Grappellis vorstellt, die vor achtzig Jahren den Gipsy Swing aus der Taufe gehoben hatten, gelingt dem Benjamin Schmid Quartet eine wunderbare Balance aus Distanz und Nähe zu den Vorbildern. Während Schmids Partner, der gitarristische Nachwuchsstar Diknu Schneeberger, und das Rhythmusteam aus dessen Vater Joschi Schneeberger (Bass) und Martin Spitzer (Rhythmusgitarre), leicht federnd à la Django swingen, erinnert der Leader nur entfernt an Grappelli, glänzt vielmehr in einer eigenen umwerfenden Melange aus Elementen des Swing, Bop, der Sintimusik und mehr – all das mit Wiener Schmelz und einer konkurrenzlos phänomenalen Technik. Für die Jury: Marcus A. Woelfle

Jazz

Rolf Kühn Unit: Stereo

MPS 0210290 MS1 (Edel)

Der Name Rolf Kühn steht für Weltklasse auf der Klarinette. Und obwohl er dies längst nicht mehr beweisen müsste, sucht er auch mit fünfundachtzig Jahren immer und immer wieder nach aktuellen Herausforderungen, nach neuen Nuancen des Ausdrucks und Klangbildern von frischer Expressivität. »Stereo« demonstriert die Früchte seiner intensiven Zusammenarbeit mit dem Bassisten Johannes Fink und dem Schlagzeuger Christian Lillinger, hier fließen die Erfahrungen des Altmeisters und das Lebensgefühl jüngerer Generationen zusammen. Das Spiel der drei ist inzwischen noch stärker miteinander verwoben und zugleich offener geworden. Kühn & Co. setzen voll auf Risiko, sie gehen musikalisch als Gewinner aus dem Spiel hervor. Für die Jury: Bert Noglik

Weltmusik

Pygmäenfrauen aus dem nördlichen Kongo

Verschiedene: Femmes Pygmées de la Sangha / Pygmäenfrauen aus dem nördlichen Kongo. Ocora Radio France OCR 560243 (harmonia mundi)

Diese in Polyphonie und Polyrhythmik komplexen Vokalkompositionen von zum Teil überirdischer Schönheit sind einmal mehr ein gut dokumentiertes Juwel im Ocora-Katalog. Nathalie Fernando präsentiert einen nach Gattungen sortierten Querschnitt von Gesängen aus den Repertoires der Frauen verschiedener ethnischer Gruppen, die in der Sangha-Region im Norden der Republik Kongo leben. Über sogenannte »Pygmäen« gibt es von dem berühmten Musikethnologen Simha Arom bereits Dokumentationen aus dem Gebiet der Zentralafrikanischen Republik, die auch György Ligeti inspiriert haben. Die Veröffentlichung aktueller Feldforschungsaufnahmen aus der Republik Kongo betritt damit Neuland und ist die wertvolle Erschließung eines bisher weißen Flecks der auf Tonträger erfassten Musiken der Welt. Für die Jury: Jürgen Schöpf

Traditionelle Ethnische Musik

Marina Lledó: Noche Rara

Youkali 017 (Galileo)

Noche Rara ist das starke Debütalbum der fünfundzwanzigjährigen spanischen Sängerin Marina Lledó, die mit sicherer und selbstbewusster Stimme neben eigenen Liedern auch Klassiker von Caetano Veloso, Chico César und eine wunderbare Version von »Preciso Me Encontrar« des Samba-Pioniers Cartola darbietet. Ihre Uptempo-Interpretation des »Girl From Ipanema« bietet einen ungewöhnlich eigenen Blick auf diesen Welthit. Die glänzenden Arrangements ihres Vaters, des in Brasilien aufgewachsenen Gitarristen Arturo Lledó, breiten tropikale Schwüle über dem gesamten Album aus. Für die Jury: Peter Schulze

Liedermacher

Manfred Maurenbrecher: Rotes Tuch

Reptiphon 06690 (Broken Silence)

Nie war Manfred Maurenbrecher auf seinen bislang satt zwanzig Alben eine geräuschvolle Natur – eher widerborstig piano sein probater Sprechgesang. Stets deutlich vernehmbar indes die episch wuchernden Texte dieses Zeitdiagnostikers – auch auf dem heißblütigen Fünfzehn-Lieder-Opus »Rotes Tuch«. Mit fünfundsechzig ist er nun in perfekter Balance als Toro und Torero in der Ukraine-Arena, aber auch als knarzender Suburbia-Chronist wie aufräumender Staubsauger-Freak unterwegs. Charakteristisch für den Humanisten das finale »Zeitfenster«-Lied, geduckt zwar, aber: »Ich will bei dir sein – ist mein zeitloser Vorschlag.« Nicht nur hierbei webt die dreiköpfige Band ihrem Edelmann am Klavier nuancierte Klangräume zu hochwertigem rotem Tuch. Und der Ulkrefrain »Rolle rolle rolle« aus dem gleichnamigen Album-Intro könnte ein gescheiterer Evergreen werden als »Da da da«. Für die Jury: Jochen Arlt

Folk und Singer/Songwriter

Harald Haugaard: Lys og Forfald

Westpark Music 993222 (Indigo)

Der Geiger Harald Haugaard, verwurzelt in und gewachsen an dänischer Musiktradition, zeigt mit diesem dritten Album einer Trilogie (nach »Burning Fields« und »Den Femte Søster«) seine bemerkenswerten Qualitäten auch als zeitgenössischer Komponist. Wunderbar, wie sich auf »Lys og Forfald« sphärische Ruhe und beinahe spröde Transparenz mit furiosen Tutti und harmonischer Dichte ergänzen. Eine Studioproduktion, der das langjährige Miteinander einer Liveband anzuhören ist, die sich die Zeit nahm, diese Kompositionen gemeinsam zu erleben. Dazu kommen illustre Studiogäste, etwa die Sängerin Helene Blum. Für die Jury: Jo Meyer

Pop

Jamie xx: In Colour

Young Turks / XL Recordings 889030012227 (Indigo)

Vielleicht werden Menschen späterer Generationen diese Platte einmal hören und sagen: So klang 2015. Dieses Debütalbum des sechsundzwanzigjährigen britischen Produzenten Jamie Smith, der sich Jamie xx nennt, wirkt wie eine Zeitschrift, die man neugierig durchblättern kann. Jamie xx macht elektronischen Blues für die Gegenwart, seine Stücke führen die Traditionslinien britischer Clubkultur, amerikanischen HipHops und des R&B fort, und er gibt ihnen stets einen besonderen Twist: Die virtuos in die Tracks gewebten Stimmen, Harmonien und Samples hüllen das Album in eine melancholische Atmosphäre. Bass und Beats erzählen vom Leben in den Städten, Posaunen, Trompeten und Steeldrum wiederum von den Natursehnsüchten der Zeitgenossen. So warm und menschlich kann Maschinenmusik klingen. Für die Jury: Philipp Holstein

Hard und Heavy

Armored Saint: Win Hands Down

Metal Blade 03984153842 (Sony)

Die Semi-Legende Armored Saint meldet sich mit »Win Hands Down« eindrucksvoll zurück. Nachdem der Vorgänger »La Raza« (2010) mit seinen vielen ruhigen oder experimentellen Passagen nicht alle Fans begeistern konnte, holen Sänger John Bush und seine Mitstreiter zum Gegenschlag aus. Dabei klingt das neue Album keineswegs so, als wäre es vor einem Vierteljahrhundert aufgenommen worden. Es überrascht mit frischen Ideen, beispielsweise einem Duett zwischen Bush und Sängerin Pearl Aday, die sich aber perfekt in den Band-Kontext einfügen. Dafür stehen der bärenstarke Titelsong, das eingängige »Muscle Memory« oder das feist attackierende »Up Yours«. Wer auf puren, unverfälschten Heavy Metal mit einer der Ausnahmestimmen des Genres steht, sollte hier unbedingt reinhören. Für die Jury: Marc Halupczok

Alternative

Tocotronic – Das rote Album

Vertigo 4726055 (Universal)

Wieso rot? Diese Farbwahl ist auf die Auseinandersetzung mit dem Thema »Liebe« zurückzuführen. Die Songs auf dem elften Tocotronic-Studiowerk werden gelegentlich von luftigen Streicher- und Synthieflächen getragen, die zeitlose Räume andeuten und sich zu hübschen Popmelodien verdichten. Aber keineswegs wollen sie nur romantisch-verklärte Liebesbekundungen sein. Vielmehr bleibt die Hamburger Band ihrer politischen Attitüde treu, etwa, wenn Dirk von Lowtzow sich mit Menschen verbrüdert, die sich im Ausnahmezustand befinden. Wo Tocotronic geistreich und poetisch diffusen Schwärmereien nachspüren, haben ihre Lieder häufig einen trotzig-unangepassten Unterton. Dieses »Rote Album« ist facettenreich, widersprüchlich, rebellisch – kurzum: künstlerisch wertvoll. Für die Jury: Jumoke Olusanmi

Club und Dance

Nick Höppner: Folk

Ostgut Ton OSTGUTCD 33 (Rough Trade)

Der Aufstieg Berlins zur Welthauptstadt der elektronischen Tanzmusik ist eine der großen Pop-Geschichten der vergangenen fünfundzwanzig Jahre. House und Techno sind zum Soundtrack der Spree-Stadt geworden. Diese Musik ist allgegenwärtig, sie läuft tagsüber beim Bäcker ebenso wie nachts in den zahllosen Clubs. Deshalb hat Nick Höppner, Resident-DJ im Berghain, dem schönsten, größten und berühmtesten all dieser Läden, sein Album »Folk« genannt: Für ihn stellen diese Sounds die neue Berliner Folk Music dar. Höppner ist dreiundvierzig, sein Album ein spätes Debüt – vielleicht haben dessen Klarheit, Reife und Eleganz hier ihren Grund. Tatsächlich besitzen die neun Stücke die Einfachheit und emotionale Tiefe großer Folksongs – allerdings sind sie am Computer entstanden, der Gitarre des 21. Jahrhunderts. Für die Jury: Tobias Rapp

Electronic und Experimental

Holly Herndon: Platform

4AD 111002 (Indigo)

Einer der vielen klugen Sätze, mit denen Holly Herndon, Doktorandin für Computer Research in Music and Acoustics, derzeit Aufmerksamkeit erregt, lautet: »Gefühle, die du bei einem Trennungsgespräch über Skype hast, sollten in der Musik nicht mit denselben Affekten transportiert werden, wie sie vielleicht zu einer Milchshake-Bar in den fünfziger Jahren passen würden.« Einer der Höhepunkte ihres Albums »Platform« ist »Home«, darin sie ihren Text »I don’t know how to be on my own« mit laptop-gesplitteter Stimme deklamiert. Sie singt das Lied in einem digital erzeugten Duett mit sich selbst und lässt einen Chor aus manipulierten, vor- und rückwärtslaufenden, herauf- und heruntergepitchten Fragmenten ihrer Stimme zugleich murmeln und tirilieren: »Ihr Ich und ihr Ihr, ihr Wir und ihr Anderes werden unendlich ineinander gespiegelt«, beobachtet PdSK-Jurykollege Jens Balzer. Aus Herndons Musik spricht die Verunsicherung, aber auch die Selbstbehauptung des segmentierten, fragmentierten und durchdigitalisierten Subjekts. Für die Jury: Klaus Walter

Blues

Dr. Will feat. San2: Cuffs Off

Downhill Records DH 083 (Galileo)

Infiziert mit dem New-Orleans-Virus hat sich der Münchner Dr. Will schon vor Jahren. Bei den Aufnahmen zu »Cuffs Off« freilich hat dieser Bazillus seine Wirkung auf ganz besondere Weise entfaltet. Zusammen mit seinem Sangeskollegen San2 schafft es Dr. Will wie sonst keiner hierzulande, tief einzutauchen in die Seele der »Crescent City« und seiner großen musikalischen Liebe zu huldigen – nicht ohne immer wieder kompositorische und klangliche Besonderheiten zwischen Roots und Moderne einzubauen, wie nur er sie im Repertoire hat. »Cuffs Off« ist ein großer Wurf. Für die Jury: Karl Leitner

R&B, Soul und Hip-Hop

Kendrick Lamar: To Pimp A Butterfly

Interscope 4730068 (Universal)

Kendrick Lamar legt hier ein Rap-Album vor, das ohne HipHop auskommt – zumindest, was die damit verbundenen Klischees angeht, die er aber gleichwohl thematisch sanft anreißt. Irgendwann wird man sagen, »To Pimp A Butterfly« sei ein Meilenstein des Genres wie Public Enemys »It Takes A Nation Of Millions To Hold Us Back« oder Nas’ »Illmatic«. Von Beginn an baut Lamar eine unglaubliche Spannung auf: Der Bruch mit Erwartungen gehört zum Plan in diesem Stream, der ständig zum Jazz ausfasert und Interludes als integralen Bestandteil versteht – Lamar verwendet unzählige Zitate aus dem Fundus der schwarzen Musik, aus dem Street Soul, die geschmeidig in das Gesamtwerk eingebettet sind. Für die Jury: Markus Schneider & Jörg Wachsmuth

Wortkunst

Thomas Kling – Die gebrannte Performance

Ulrike Janssen und Norbert Wehr (Hrsg.): Thomas Kling – Die gebrannte Performance. Lesungen von Thomas Kling, Gespräche mit Gabriele Weingartner und Hans Jürgen Balmes. 4 CDs mit Begleitband, Lilienfeld Verlag ISBN 978-3-940357-49-6

Mit siebenundvierzig Jahren ist der wortmächtige Dichter Thomas Kling vor zehn Jahren gestorben. Hier, im letzten dokumentierten Interview, wird die Todesnähe spürbar. Jeder der Auftritte Klings war ein vokales Ereignis gewesen, mit grenzüberschreitender Tendenz, wie seine Lesung zusammen mit dem (ebenfalls verstorbenen) Schlagzeuger Frank Köllges unterstreicht, eine Erweiterung der Literatur-Vermittlung hin zu Konzert und Installation. Auf vier CDs porträtiert »Die gebrannte Performance« diesen Autor, der in der Geschichte der neuesten deutschen Lyrik als epochal gelten kann. Ein Extralob gilt dem Verlag Lilienfeld, der diese Edition – erschienen in der Schriftenreihe der Kunststiftung NRW – klug zusammengestellt und mustergültig um Begleitmaterialien und zwei Gespräche über Klings Arbeit ergänzt hat. Für die Jury: Dorothee Meyer-Kahrweg

Kinder- und Jugendaufnahmen

Salah Naoura: Hilfe! Oma kommt zurück!

Mechthild Großmann. 3 CDs, Oetinger audio ISBN 978-3-8373-0854-9

Ja, sie sind schon eine großartige Familie! Das sagt man ihnen, und das glauben sie auch. Trotzdem fühlt sich jeder irgendwie unverstanden, auch wenn sie genau das tun, was ihnen Freude bereitet: seltene Dampfloks fahren, städtische Gärten gestalten, mit avantgardistischer Mode viel Geld verdienen oder unter der Erde nach Schätzen graben. In diese Idylle hinein platzt Oma, die unerwartet früh von ihrer Weltreise zurückkehrt, und deckt freundlich, aber boshaft die Familienlügen auf. Sind schon die originell unangepasste Geschichte sowie die Sprachkunst des Autors Salah Naoura ein Genuss – ohne die facettenreiche, jede kleinste Gemeinheit auskostende Stimme von Mechthild Großmann wäre diese Produktion nur halb so gelungen. So aber: witzig, hintersinnig. Für die Jury: Carola Benninghoven

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