Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

NEU: Longlist 2/2024, veröffentlicht am 5. April 2024

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Shostakovich under Stalin’s Shadow

Dmitri Schostakowitsch: Symphonie Nr. 10. Boston Symphony Orchestra, Andris Nelsons. DG 479 50592 (Universal)

»Stalins Schatten« – so lautet der etwas plakative deutsche Untertitel dieses neuen Teilstücks der Schostakowitsch-Symphonien-Ausgabe von Andris Nelsons, der den Komponisten ins Licht der abendländischen Aufklärung stellt. Statt Politpamphlet samt Spiegelung gibt es verhaltenes Pathos, statt des Maskenspiels ein Musikgeschichtsbewusstsein – Schostakowitsch zwischen Tradition und Selbstfindung. Und das Boston Symphony Orchestra stellt statt Hammer und Meißel (beziehungsweise Sichel) eine Palette warmer Farben plus Weichzeichner bereit. Sehr eigenständig. Für die Jury: Rainer Wagner

Orchestermusik und Konzerte

Witold Lutosławski: Klavierkonzert; Symphonie Nr. 2

Krystian Zimerman, Berliner Philharmoniker, Simon Rattle. DG 479 45185 (Universal)

Am 19. August 1988 hatte Krystian Zimerman das für ihn geschriebene, ihm gewidmete Klavierkonzert von Witold Lutosławski bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt. Kurz darauf entstand seine Aufnahme für die Deutsche Grammophon, mit dem Komponisten am Pult des BBC Symphony Orchestra. Jetzt also noch einmal, für dasselbe Label, mit Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern – leichter, eleganter, selbstverständlicher: eine Meister-Interpretation, die im Wechsel der Klangfarben und in ihren aleatorischen Freiheiten eine Spielfreude verströmt, dass man die aberwitzige Virtuosität des Soloparts kaum mehr wahrnimmt. Dabei zeigt die souveräne Aufnahme aber auch, dass Lutosławskis unverwechselbarer Personalstil bei aller scheinbaren Zufälligkeit immer das Ergebnis eines präzise gesteuerten Kalküls ist, das der Hörer freilich ebenso wenig durchschauen muss wie die Reihen-Konstruktion einer Zwölfton-Komposition. Für die Jury: Michael Stegemann

Kammermusik

Grazyna Bacewicz: Streichquartette Vol. 1

Nr. 1, 3, 6, 7. Lutosławski Quartet. Naxos 8.572806

Die Streichquartette von Grazyna Bacewicz spiegeln die stilistische Entwicklung der polnischen wie auch der internationalen neuen Musik in einem Zeitraum von 1939 (Nr. 1) bis 1965 (Nr. 7) faszinierend wider. Das Lutosławski Quartet entfaltet diese Spannweite beglückend deutlich und sehr virtuos. Die fragilen Klänge kommen wie von weit her, dann wieder sind sie hart und unerbittlich. Hier gibt es ein glitzerndes Klangfarbenspiel, dort entstehen witzige Interaktionen zwischen den vier Akteuren. Mit redendem Gestus wird die Poesie dieser Musik betörend vor uns ausgebreitet. Für die Jury: Ingeborg Allihn

Tasteninstrumente

Claude Debussy / Reynaldo Hahn: 1915

Klavierwerke zu vier Händen. Six épigraphes antiques, En blanc et noir; Reynaldo Hahn: Le ruban dénoué, Pour bercer un convalescent. Duo Yaara Tal & Andreas Groethuysen. Sony 88875108322

An Ideen zur programmatischen Perspektiverweiterung fehlt es dem Klavierduo Tal & Groethuysen nicht, wie diese neue Sony-Einspielung unter dem (musik)geschichtlichen Motto »1915« einmal mehr beweist. Vor allem im Studio bringt diese pianistische Eheformation Höchstleistungen zu Gehör. Die beiden kombinieren hier Standardwerke des Duo-Repertoires von Claude Debussy mit weitgehend unbekannten Stücken von Reynaldo Hahn. Trügerisch friedfertig erscheint so das Jahr 1915, zumal die herzerwärmenden, intelligent-sentimentalen, auch depressiv angehauchten Stücke von Hahn den Hörer in die Welt einstiger Übereinstimmung von Kunst und geschmeidiger Unterhaltung versetzen. In diesem Zusammenhang ist »Le ruban dénoué« (»Das entknotete Band«), ein Zyklus von zwölf Walzern, zu hören. Es lohnt sich, Hahn, einen wichtigen, vielseitigen, eigenständigen Komponisten im Spannungsfeld von Romantik und konkurrierendem Impressionismus, hörend zu beobachten. Für die Jury: Peter Cossé

Tasteninstrumente

Beethoven: Organ Perspectives

Ludwig van Beethoven: Orgelwerke. Maria-Magdalena Kaczor. Aeolus AE 11111 (Note 1)

Die Orgel war eines der Instrumente Beethovens in seiner Bonner Jugend. Die Pianistin und Organistin Maria-Magdalena Kaczor stellt nun kleine Klavierstücke, Etüden und Fugen des jungen Beethoven, darunter die Bagatellen op. 33, so unglaublich differenziert, lebendig und farbenreich auf der Orgel dar, dass man sie gar nicht mehr anders hören möchte. Sie spielt ungemein feinfühlig, präzise, subtil und variantenreich, und mit der Karlsbader Stieffell-Orgel steht ihr ein ideales Instrument zur Verfügung, das nicht nur zeitlich bestens zu Beethovens Musik passt, sondern auch unglaublich schillernd und unkonventionell eingesetzt wird. Die zart sägenden Streicher oder fülligen Flöten dieser Orgel sind ein Traum, wie Kaczors grandiose, die Darbietung stets auf den Punkt bringende Musikalität. Für die Jury: Guido Krawinkel

Oper

Jean-Philippe Rameau: Les Indes Galantes

Amel Brahim-Djelloul, Benoît Arnould u.a., Les Talens Lyriques, Christophe Rousset. DVD, Alpha ALP 710 (Note 1)

Die fantastische Reise durch fremde Kulturen, die Jean-Philippe Rameau in der Ballettoper »Les Indes Galantes« unternahm, wird in unserer postkolonialistischen Gegenwart mit neuen Augen wahrgenommen. In der Produktion der Opéra National de Bordeaux wirft die Choreografin und Regisseurin Laura Scozzi einen sehr gegenwärtigen, gelegentlich auch bösen Blick auf die heute gar nicht mehr so fremden Völker, sie lässt in der mythischen Naturszenerie des Prologs die adretten Tänzerinnen und Tänzer in kindlicher Unschuld herumtollen. Christophe Rousset, der die Partitur nach einem Autograph von 1750 eingerichtet hat, bringt den »Exotik« signalisierenden Farbenreichtum schön zur Entfaltung und formt das Ineinander von Tanznummern, Sologesang und Choreinlagen zum packenden dramatischen Geschehen. Für die Jury: Max Nyffeler

Oper

Félicien David: Herculanum

Véronique Gens, Karine Deshayes, Edgaras Montvidas u.a., Flemish Radio Choir, Brussels Philharmonic, Hervé Niquet. 2 CDs mit Buch. Ediciones Singulares ES 1020 (Note 1)

Wieder ein weißer Fleck der Operngeschichte getilgt, ja »vulkanisch« eingefärbt: Félicien Davids 1859 in Paris uraufgeführte Grand Opéra bringt nicht nur den Vesuv-Ausbruch des Jahres 79 auf die Bühne, sondern dramatisiert Christenverfolgungen, Liebesverstrickungen samt Zaubertrank und einen durch Satan selbst angeführten Sklavenaufstand. Dabei geht er über das Vorbild Meyerbeer hinaus. David bietet sowohl typischen »lyrisme français« als auch Vokalpartien, die an den klassischen italienischen Belcanto erinnern. Diese zehnte Ausgrabung des Palazzetto Bru Zane in Venedig vernachlässigt leider das Opernland Deutschland, sie bietet nur das französische Original samt englischer Übersetzung. Gleichwohl, das von Hervé Niquet geführte Ensemble brilliert. Für die Jury: Wolf-Dieter Peter

Chor und Vokalensemble

Johann Sebastian Bach: Messe in h-moll, BWV 232

Carolyn Sampson, Anke Vondung, Daniel Johannsen, Tobias Berndt, Gächinger Kantorei Stuttgart, Freiburger Barockorchester, Hans-Christoph Rademann. 2 CDs, Carus 83.314; 2 CDs & DVD, Carus 83.315 (Note 1)

Neu bei dieser ersten CD, die Hans-Christoph Rademann mit der Gächinger Kantorei aufgenommen hat, sind die autographen Dresdner Stimmen der h-moll-Messe Bachs von 1733, die hier, nebst Alternativ-Versionen, in Kyrie und Gloria erstmalig dokumentiert sind. Doch hat diese Einspielung mehr als nur großen musikhistorischen Reiz, was am zügigen Dirigat Rademanns liegt, an der Durchsichtigkeit und Detailgenauigkeit seines Zugriffs wie auch an der klanglichen und rhythmisch-tänzerischen Feinarbeit, die er mit seinem Chor und mit dem Freiburger Barockorchester leistet. Unter den Solisten ist Carolyn Sampson die brillanteste, stilistisch passendste. Für die Jury: Susanne Benda

Klassisches Lied und Vokalrecital

Morgen! / Michaela Schuster, Markus Schlemmer

Lieder von Brahms, Schumann, Reger, Strauss. Michaela Schuster, Markus Schlemmer. Oehms Classics OC 1833 (Naxos)

Die Mezzosopranistin Michaela Schuster, auf den großen Opernbühnen der Welt vor allem als Wagner- und Strauss-Sängerin zu Haus, widmet sich auch dem Lied. Bei ihrer neuen CD handelt es sich um den Livemitschnitt eines Recitals von 2012. Schuster erzählt singend Geschichten, ist dabei direkt und eindeutig in ihren künstlerischen Aussagen und kultiviert in den Mitteln des Ausdrucks. Ihr Programm ist klug ausgewählt, ihre Lesart könnte man als in bestem Sinne »naiv« bezeichnen: Ohne Verkünstelungen, aber mit Kraft und Einfühlungsvermögen gestaltet sie Lieder von Brahms, Schumann, Reger und Strauss. Für die Jury: Stephan Mösch

Alte Musik

Lassus: Missa super Dixit Joseph

Orlando de Lassus: Missa super Dixit Joseph, Motetten. Cinquecento. Hyperion CDA 68064 (Note 1)

Zehn Motetten – darunter die großartig bedrängende »Timor et tremor« – sowie eine komplette Messe hat das Vokalensemble Cinquecento aus dem Riesen-Œuvre des frankoflämischen Roland de Lassus ausgewählt, der im sechzehnten Jahrhundert in München tätig war. Die sechs Sänger, die sich ausschließlich der Polyphonie dieses Zeitalters widmen, stellen einmal mehr unter Beweis, dass sie dieser hochartifiziellen und dennoch expressiven, dem Text stets eine besondere Bedeutung gebenden Kunst stimmtechnisch wie musikalisch gleichermaßen gewachsen sind. Mit deklamatorischem Nachdruck und herbem, aber stets transparentem Klang verleihen sie den Stücken eine Energie und Gegenwärtigkeit, die rundum überzeugt. Für die Jury: Uwe Schweikert

Zeitgenössische Musik

György Kurtág: Kafka-Fragmente

György Kurtág: Kafka-Fragmente für Sopran und Violine op. 24 Nr. 1-19. Caroline Melzer, Nurit Stark. Hybrid-SACD, BIS-2175 (Klassik Center)

Zwischen dreizehn Sekunden und gut sechs Minuten dauern György Kurtágs nur für Stimme und Violine geschriebene »Kafka-Fragmente«. Die Sopranistin Caroline Melzer und die Geigerin Nurit Stark gestalten diesen 1987 vollendeten Zyklus plastisch. Sie musizieren auf gleicher Höhe und verwandeln jede der vierzig Miniaturen in eindringliche, mitunter erschreckende Tonfiguren. Kafkas Phantasien zwischen Beweglichkeit und Erstarrung werden minuziös in Klang umgesetzt, wobei die perfekt ausleuchtende Interpretation durch hochauflösende Aufnahmetechnik vorbildlich unterstützt wird. Für die Jury: Ludolf Baucke

Historische Aufnahmen

Ferenc Fricsay: Complete Recordings on Deutsche Grammophon, Vol. 2

Opern und Chorwerke. Hertha Töpper, Dietrich Fischer-Dieskau, Oralia Dominguez u.a. 38 CDs, DG 479 46410 (Universal)

»Seid’s so lieb« war eine typische Redewendung des ungarischen Dirigenten Ferenc Fricsay bei Proben. Er war ein Maestro liebenswürdiger Unerbittlichkeit. In einer Fülle von Aufnahmen wurde sein ebenso flammender wie kontrollierter Musizierstil eingefangen, ein Schatz, der vor allem vom Label Deutsche Grammophon gehütet und nun endlich gebündelt veröffentlicht wird. Exakt zum hundertsten Geburtstag Fricsays im Jahr 2014 erschienen zunächst die symphonischen Werke, jetzt folgen im zweiten Schritt sämtliche Opern- und Chor-Einspielungen. Vieles davon ist über die Jahre vertraut geblieben (etwa Mozart, Bartók), Entlegeneres findet leicht ins Gedächtnis zurück, wie zum Beispiel Opernarien mit Hertha Töpper, Ernst Kozub oder Josef Metternich, auch Maureen Forrester mit Brahms und Mahler. Man kann nicht oft genug an Fricsay, den zu früh Verstorbenen, erinnern. Für die Jury: Christoph Zimmermann

Musikfilm

Satiesfictions – Promenades with Erik Satie

Film von Anne-Kathrin Peitz und Youlian Tabakov. Steffen Schleiermacher u.a. DVD, Accentus ACC 20312 (harmonia mundi)

Dieser spielerische, dabei doch immer seriöse Film beleuchtet die vielen Facetten des Komponisten Erik Satie, der musikalisch zu provozieren verstand – zum Beispiel mit Schlappen Präludien, Unappetitlichen Chorälen, Drei Stücken in Birnenform oder einer Musique d’ameublement (Einrichtungsmusik). Die Filmemacher lenken den Blick auf die Sprünge und Brüche im Leben des Komponisten, aber auch auf seine innovatorischen Fähigkeiten und Erfindungen. Und sie nehmen Satie oftmals wörtlich: wenn sie aus seinen zahlreichen Zeitungsannoncen Werbespots entstehen oder seine phantasievollen Zeichnungen Gestalt annehmen lassen. Für die Jury: Helge Grünewald

Jazz

Oscar Peterson: Exclusively For My Friends

8 CDs, MPS 0210325 MSW (Edel)

»Tastenwunder«, »Klavier-Phänomen«, »größter Pianist des Jazz«, »Swing-Maschine«: Superlative wie diese werden bei Oscar Peterson gern bemüht. Er pflegte seine pianistische Meisterschaft in der klassischsten aller Jazz-Besetzungen unter Beweis zu stellen, im Trio, meist mit Bass und Schlagzeug. Diese Aufnahmen der »Exclusively For My Friends«Reihe entstanden zwischen 1965 und 1971 im Wohnzimmer des Saba und MPS-Chefs Hans Georg Brunner-Schwer, ein Meilenstein in Petersons Œuvre, hier ergänzt um neun bisher unveröffentlichte Takes. Freunde nicht nur des Jazz, sondern auch der ernsten Musik werden die derart komplettierten Einspielungen seiner mittleren Schaffensphase genauso begeistert aufnehmen wie junge Nachwuchspianisten. Für die Jury: Lothar Jänichen

Jazz

Irène Schweizer & Han Bennink: Welcome Back

Intakt INT 254 (harmonia mundi)

Diese zwei Namen stehen für die Erfindergeneration der improvisierten Musik in Europa. Seit den Berliner Festivals und Workshops der weltweit einflussreichen Free Music Production (FMP) in den siebziger Jahren haben Irène Schweizer und Han Bennink unzählige Konzerte zusammen gespielt. Ihre erste Duo-CD stammt aus dem Jahr 1995, zwanzig Jahre später zeigen die beiden Seelenverwandten, Pianistin und Schlagzeuger, wie dringlich und pulsierend sie ihre Musik aus dem afroamerikanischen Vorbild in eine originär europäische Identität transformiert haben und wie widerständig und wahrhaftig sie ihre Haltungen bis heute dialogisch zu großer Kunst formen. Für die Jury: Christian Broecking

Traditionelle Ethnische Musik

A Filetta: Castelli

World Village WV 479097 (harmonia mundi)

Am Anfang war die Gesangstradition der Insel Korsika: Männergruppen, die bei festlichen Gelegenheiten singen, in der Kirche oder auch einfach am Feierabend, wenn die richtigen Leute zusammen kommen. Als sich in den siebziger Jahren die Lebensumstände in den korsischen Dörfern radikal veränderten, waren diese Gesänge seltener zu hören. Erst von Künstlern wie Jean-Claude Acquaviva mit der Gruppe A Filetta wurden sie ins öffentliche Bewusstsein zurückgeholt. Der A-cappella-Gesang ist für die sechs Männer ein musikalisches Universum, das sein korsisches Zentrum weiträumig umkreist und sich doch immer wieder darauf bezieht. »Castelli« spielt mit den Erfahrungen aus mehr als drei Jahrzehnten: Filmerfolge, Theatermusiken und geheime Brücken zu anderen Gesangsstilen sind geerdet mit eigenen korsischen Wurzeln. Für die Jury: Hanni Bode

Liedermacher

Konstantin Wecker: Ohne Warum

Sturm & Klang S&K 6415880 (Alive)

Dies ist, in vielen Liedern, ein sehr persönliches Album geworden. Jedes Gedicht – alle Lieder Konstantin Weckers sind ja in ihrem Ursprung eigentlich Gedichte – hat eine dicht auf den Text zugeschnittene musikalische Umsetzung erfahren, was letztlich in ein abwechslungsreich durchkomponiertes Programm mündet. Neben aller Poesie wurde es für Wecker wieder Zeit, sich beim legendären »Willy« zu melden – oder in dem Talking Blues »Revolution« seiner Wut Ausdruck zu geben: Wut, zum Beispiel, über die Tatsache, dass ein Prozent der Weltbevölkerung über fünfzig Prozent des Weltvermögens besitzt. Aber auch Hoffnung spricht aus diesen Liedern, etwa in dem Lied »Ich habe einen Traum«, das die Flüchtlingsfrage thematisiert. Typisch Wecker. Für die Jury: Hans Reul

Folk und Singer/Songwriter

Jens Kommnick: Redwood

Siúnta Music SM 2207 (www.jenskommnick.de)

Dieser Mann ist unglaublich talentiert, unglaublich vielseitig. Neben der Gitarre, seinem Hauptinstrument, spielt Jens Kommnick auf seiner zweiten Solo-CD »Redwood« sage und schreibe weitere zwanzig Instrumente, darunter höchst komplizierte wie den irischen Dudelsack. So verwirklicht der ansonsten selbstlos sich in Ensembles einfügende Musiker seine ganz persönlichen Klangvorstellungen. Wer außer ihm kann nach einem Walzer für Reinhard Mey auf der Laute Renaissancemusik mit einem Blockflötensatz von Tilman Susato kombinieren oder nach drei herzhaften irischen Jigs den letzten Satz des zweiten Brandenburgischen Konzerts von Johann Sebastian Bach glaubhaft interpretieren? Wer – außer Jens Kommnick? Für die Jury: Mike Kamp

Hard und Heavy

Dead Lord: Heads Held High

Century Media 9985852 (Sony)

Dead Lord beerben Thin Lizzy: Hakim Krim wirft sich in herzzerreißende Gesangsphrasen à la Phil Lynott, die Twin-Guitars drehen ihre Gedächtnispirouetten für Scott Gorham und Brian Robertson. Und doch besitzt die Band, neben Energie, Spielfreude und technischer Akkuratesse, auch einen so entschieden individuellen Zugriff, dass kein Plagiatsverdacht aufkommen kann. In Anbetracht der anachronistischen Produktion lässt sich »Heads Held High« durchaus einordnen im gerade kurrenten Retro-Fach, ohne völlig darin aufzugehen. Der überschäumende Enthusiasmus des Debüts »Goodbye Repentance« macht hier einer Schwermut Platz, die eine gelungene Weiterentwicklung beziehungsweise Diversifikation ihres Repertoires darstellt. Für die Jury: Frank Schäfer

Alternative

Sleaford Mods: Key Markets

Harbinger Sound 00084942 (Cargo)

Politische Frustration und prekäre Arbeitsverhältnisse bestimmten ihr Leben. Unter dem Namen Sleaford Mods machen Jason Williamson als Texter und Sänger und der Produzent Andrew Fearn seit 2010 Musik. Sie entwickelten einen eigenen Sound, der ihre Erbitterung spiegelt. Minimalistisch und rau klingt es, wenn sie Elektro-Funk, HipHop und Post Punk auf ihrem mittlerweile achten Album »Key Markets« vereinen: Ein ruheloser Bass trifft auf scheppernde Beats und entnervten Sprechgesang. Mit Wut, schwarzem Humor und derber Poesie schimpft sich Williamson die Desillusionierung aus dem Leib. Er ist Sprachrohr für all jene, die heute an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden und deren Stimmen keiner mehr hören will. Für die Jury: Jumoke Olusanmi

Club und Dance

Hunee: Hunch Music

Hunee: Hunch Music

Rush Hour RHM 016 CD (Groove Attack)

»Hunch Music« ist eine veritable Überraschung. Niemand in der Welt der elektronischen Tanzmusik klingt im Augenblick wie Hunee oder Hun Choi – so heißt dieser DJ-Künstler mit bürgerlichem Namen. Er wuchs als Kind koreanischer Eltern in Bochum auf, lebte einige Jahre in Berlin, wohnt nun in Amsterdam und wurde bekannt für seinen großartigen Disco-Eklektizismus. »Hunch Music«ist das Debüt eines Plattensammlers, der rare Stücke genauso wertschätzt wie große Hits. Hunee streift House und japanischen Pop, Afro-Beat, Techno und Ambient. Vor allem aber ist sein Album das Werk sowohl eines Zweiflers wie eines Liebenden: Zwei Gefühle, die einander scheinbar widersprechen, bilden zusammen den Kern von Hunees Kunst. Für die Jury: Tobias Rapp

Blues

John Mayall: Find A Way To Care

Forty Below Records FBR 011 (H’ART)

Demnächst wird dieser Altmeister des britischen Blues zweiundachtzig. John Mayall mixt stimmstark und ausgesprochen vital den Blues mit Rock und souligem Funk zu einem süffigen Blend, bei dem zwar fast durchweg die berühmten zwölf Takte abzählbar sind, der aber trotzdem Raum für Abwechslung und Überraschung lässt. Daneben dokumentiert und würdigt diese Produktion ausgiebig John Mayalls kompetentes Spiel an der Hammond-Orgel, auf dem akustischen und elektrischen Piano sowie am Clavinet – ohne dass die entspannt groovende Begleitband oder die Horn Section zu kurz kämen. »Find A Way To Care« gelingt das Kunststück, Traditionalisten wie Modernisten anzusprechen. Für die Jury: Christian Pfarr

R&B, Soul und Hip-Hop

Dr. Dre: Compton

A Soundtrack. Interscope 4753634 (Universal)

Gut Ding will Weile haben. 1999 kam mit »2001« das letzte Album von Dr. Dre heraus. Bei »Compton – A Soundtrack« von einer Nachfolgearbeit zu sprechen, ist aber sicher nicht richtig. Das lange angekündigte Album »Detox« hatte sich zur ganz persönlichen Elbphilharmonie, zum Berliner Flughafen des Dr. Dre entwickelt. Mit dem Film »Straight Outta Compton« war der Erfolgsdruck auf Andre Young, den Top-Produzenten des Gangsta-Rap, endlich einen würdigen Nachfolger zu »2001« zu produzieren, plötzlich verflogen. Dr. Dre sagt: »Die Dreharbeiten motivierten mich enorm, ich bin gleich ins Studio. Alle meine Freunde waren dabei.« Der Soundtrack ist autobiografisch und schlüssig produziert, er erzählt eine Geschichte. Er gehört nicht zu den Werken, aus denen man eine Single nach der anderen zieht. Viele spannende Elemente erschließen sich erst bei mehrfachem Hören. Diese Musik wächst also, wenn man sich eingehend mit ihr beschäftigt: das spannendste Album des HipHop im Jahr 2015. Für die Jury: Jörg Wachsmuth & Torsten Fuchs

Wortkunst

Ilija Trojanow: Macht und Widerstand

Ulrich Pleitgen, Thomas Thieme, Ilija Trojanow. 9 CDs, Argon ISBN 978-3-8398-1431-4

Anders als in Deutschland, wo Stasi-Verstrickungen und DDR-Vergangenheit seit der Wiedervereinigung gründlich aufgearbeitet wurden, hat in Bulgarien die Auseinandersetzung mit der Zeit der kommunistischen Diktatur nach Ansicht des 1965 in Sofia geborenen und heute in Wien lebenden Romanautors bislang nur marginal stattgefunden. Dabei tragen die Menschen dort allenthalben noch immer unglaubliche Geschichten mit sich herum. Ilija Trojanow beschreibt in seinem neuen Werk, das eigentlich kein Roman ist, am Beispiel zweier Protagonisten – eines Geheimdienstmannes und eines Widerstandskämpfers – düster und poetisch fünfzig Jahre bulgarischer Geschichte als eine Zeit der Ohnmacht: »Beim ersten Mal kommt die Geschichte tragisch daher, beim zweiten Mal absurd, beim dritten Mal tragisch und absurd zugleich.« Für die Jury: Peter Fuhrmann

Kinder- und Jugendaufnahmen

David Solomons: Mein Bruder ist ein Superheld

Martin Baltscheit. Silberfisch ISBN 978-3-86742-277-2 (Hörbuch Hamburg)

Luke Parker ist elf, liebt Comics, er lebt mit seiner Familie in einem Vorort von London. Und hat allen Grund, sich zu ärgern. Ausgerechnet sein großer Bruder Zack, drei Jahre älter, ein Streber und Comic-Verächter, erhält von einem Außerirdischen Superkräfte, um zwei Universen zu retten. Wenn Luke nicht pinkeln gemusst hätte, als er neben seinem Bruder im Baumhaus saß, wäre vielleicht er dieser Superheld geworden. Nun ist das sein Bruder, und der hat keine Ahnung: dass ein Held einen Namen braucht, ein Kostüm und ein Markenzeichen, damit die Menschen wissen, wer ihnen aus dem Schlamassel geholfen hat. So steht der kleine Bruder dem großen mit Rat und Tat zur Seite. Es gilt, Handys aus dem Gully zu fischen, fahruntüchtige Schulbusse zu retten und herauszufinden, wer Nemesis ist, den der Außerirdische als Zacks größten Feind bezeichnet hatte. Martin Baltscheit liest die Geschichte so, dass man meint, die Cartoons vor sich zu sehen. Oder dem Superhelden-Assistenten Luke Parker persönlich zu lauschen. Für die Jury: Friederike C. Raderer

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