Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Zimmermann: Sinfonie in einem Satz

Bernd Alois Zimmermann: Sinfonie in einem Satz (1. Fassung); Giostra Genovese; Konzert für Streichorchester; Musique pour les soupers du Roi Ubu. WDR Sinfonieorchester Köln, Peter Hirsch. Wergo 73402 (New Arts International)

Lange blieb die Urfassung von Zimmermanns Sinfonie in einem Satz nur ein Thema für Musikphilologen und Zimmermann-Spezialisten. Doch auch ohne Detailvergleich kann man als Hörer spüren, wie ungebärdig, ja, wie ungekämmt diese rhapsodische Musik hinausstrebt ins Freie, Offene. Das früher entstandene Konzert erscheint formalistischer, in seinen Giostra Genovese verwirbelt der Komponist historische Zitate zu einem Tanztaumel. Das alles aber wird vom WDR Sinfonieorchester Köln frisch und farbenreich, mit viel Spielfreude musiziert, zumal die Instrumentationsfrechheiten Zimmermanns werden wunderbar ausgereizt, und man staunt, in der Ubu-Musik: So geistreich kann ein »Enthirnungsmarsch« klingen! Für die Jury: Rainer Wagner

Orchestermusik und Konzerte

Mozart: Violinkonzerte / Frank Peter Zimmermann

Wolfgang Amadeus Mozart: Violinkonzerte Nr. 2 KV 211 & Nr. 5 KV 219; Sinfonia Concertante KV 364. Frank Peter Zimmermann, Antoine Tamestit, Kammerorchester des Bayerischen Rundfunks, Radoslaw Szulc. Hänssler Classic HC 15042 (Naxos)

Rund drei Jahrzehnte nach seiner ersten Gesamtaufnahme dieser Ikonen des Repertoires spielt Frank Peter Zimmermann die Mozartschen Violinkonzerte ein zweites Mal neu ein. Diese »neue« Mozart-Lesart ist punktgenau und klar artikuliert, alles wirkt ungemein stimmig und plausibel, wozu Zimmermanns traumwandlerische geigerische Souveränität ebenso beiträgt wie seine kultiviert romantische Tonbildung. Das Zusammenspiel mit Antoine Tamestit in der Sinfonia Concertante sowie mit dem Kammerorchester des Bayerischen Rundfunks unter Leitung von Radoslaw Szulc zeugt von bestem Einvernehmen. Mozarts Musik spricht und überredet, als könne sie gar nicht anders gedacht und gespielt werden. Für die Jury: Norbert Hornig

Kammermusik

Scharwenka: Werke für Violine und Klavier

Philipp Scharwenka: Violinsonaten Op. 110 & 114, Suite für Violine und Klavier Op. 99. Natalia Prischepenko, Oliver Triendl. TYXart TXA 16075 (Note 1)

Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wurde viel handwerklich gut komponierte Musik von Expressionismus und Dodekaphonie verdrängt. Darunter: die von Scharwenka. Die hier eingespielten Werke sind reife Spätwerke dieses Komponisten. Veröffentlicht zwischen 1896 und 1904, stehen sie noch ganz im Banne der Tradition. Zarte Melodieerfindung trifft auf rhythmisch dominierte Passagen, Kontraste und Wechsel zwischen elegischer Ruhe und verdichteter Spannung wirken klassisch ausbalanciert. Prishepenko spielt mit der ihr eigenen lyrischen Intensität und Oliver Triendl ist ihr ein sensibler Partner, die beiden harmonieren perfekt. So transportiert diese Einspielung vom ersten Ton an Schwarwenkas düster-nervöse Musik auf packende Weise. Für die Jury: Elisabeth Richter

Tasteninstrumente

Haydn: Sechs Klaviersonaten / Einav Yarden

Joseph Haydn: Klaviersonaten Nr. 44 g-Moll Hob. XVI:44; Nr. 39 D-Dur Hob. XVI:39; Nr. 40 G-Dur Hob. XVI:40; Nr. 41 B-Dur Hob. XVI:41; Nr. 46 As-Dur Hob.XVI:46; Nr. 47 h-Moll Hob. XVI:32. Einav Yarden. Challenge SACD CC 72742 (New Arts International)

Die Pointen sitzen, die langen Melodiebögen finden punktgenau ihr Ziel, und die Bassfiguren verharren nicht im Begleit-Status, sie nehmen Einfluss auf das gesamte musikalische Geschehen. Wo auch immer man in diese Auswahl an (weniger bekannten) Sonaten von Joseph Haydn hineinhört, wird man reich beschenkt. Ob Echoeffekte, kleine lyrische Oasen oder rasche Tonwiederholungen – Einav Yarden holt diese Musik aus der Ecke des Behaglich-Vergnüglichen heraus, wo sie fälschlicherweise abgestellt wurde, und präsentiert sie, übertragen auf das moderne Klavier, unverstellt und lebendig, mit Nachdenklichkeit und Humor. Dank dieser stilistischen Sicherheit erscheinen die Sonaten wie kleine Theater-Stücke! Für die Jury: Christoph Vratz

Tasteninstrumente

Hymnes

Orgelwerke von Nicolas de Grigny, Vincent Paulet, Thierry Escaich, Jean-Baptiste Robin, Benoît Mernier und Pierre Farago. Olivier Latry, Vincent Dubois u.a., 2 SACDs, Aeolus AE-11101 (Note 1)

Wenn es um französische Orgelmusik des Barock geht, führt an Nicolas de Grigny kein Weg vorbei. Diese Einspielung führt das Erbe des ehemaligen Organisten an der Kathedrale in Reims fort und überführt es ins einundzwanzigste Jahrhundert: Fünf namhafte Gegenwartskomponisten haben ihre Versionen der »Hymnes« formuliert. Das Ergebnis ist spannend und optimal dokumentiert. Die neue Cattiaux-Orgel der Reimser Kathedrale macht bei den alten wie auch den neuen Werken gute Figur, die erstklassigen Interpreten beweisen sowohl bei de Grignys kniffeliger, hochgradig artifizieller Musik wie auch bei den zeitgenössischen Werken Stilgefühl und Brillanz. Für die Jury: Guido Krawinkel

Oper

Georg Friedrich Händel: Arminio

Max Emanuel Cencic, Layla Claire, Ruxandra Donose, Vince Yl, Juan Sancho, Xavier Sabata, Petros Magoulas, Armonia Atenea, George Petrou. 2 CDs, Decca 478 8764 (Universal)

Es ist paradox: Zur gleichen Zeit, in der Griechenland mit Krisen von sich redet macht, geht das erste griechische Alte-Musik-Ensemble international auf künstlerischen Erfolgskurs: Armonia Atenea mit dem Dirigenten George Petrou. Bestechend präzis das historisch informierte wie auch inspirierte Zusammenspiel der Truppe, herausragend das von Produktion zu Produktion jeweils neu zusammengestellte Sängerensemble, wobei renommierte Stars ebenso eingeschlossen sind, wie talentierte Newcomers. Auf die Einspielung des »Alessandro« folgt mit »Arminio« eine weitere selten zu hörende Händel-Oper, in einer beglückenden Interpretation. Für die Jury: Roland Wächter

Oper

Jacques Offenbach: Les Contes d’Hoffmann

Hoffmanns Erzählungen. Kerstin Avemo, Mandy Fredrich, Rachel Frenkel, Daniel Johansson, Michael Volle. Regie: Stefan Herheim. Wiener Symphoniker, Johannes Debus. Blu-ray C Major 735604 (Naxos)

Textgenau in seiner speziell für die Bregenzer Festspiele erstellten Fassung zeigt Stefan Herheim die Story vom dreifachen Scheitern des Dichters ETA Hoffmann auf und hinter einer sich vielfach wandelnden Showtreppe als ein phantastisches »Bewusstseinsstrom«Theater: Realität, Erinnerung, Sehnsuchtsvision, Alptraum, Hoffnung und Scheitern durchdringen sich wie in einem trans und polisexuellen Rausch, voll Glitterglanz und Tristesse, echten Emotionen und tödlicher Täuschung. Mit dem beeindruckenden schwedischen Tenor Daniel Johansson im Zentrum hat das typengenaue Ensemble unter Johann Debus einen Meilenstein der Offenbach-Interpretation erarbeitet. Für die Jury: Wolf-Dieter Peter

Chor und Vokalensemble

Martin Smolka: Poema de balcones

Martin Smolka: Poema de balcones; Walden, the destiller of celestial dews; Salz und Traurigkeit. Martin Homann, SWR Vokalensemble Stuttgart, Marcus Creed. SACD, Wergo WER 73322 (New Arts International)

Diese Musik wirkt schlicht, ihr fortwährendes Wuchern hat etwas so Organisches, dass selbst äußerliche, pathetische Effekte Platz und Berechtigung finden. Akkorde gleiten in- und übereinander, Klangflächen und Klangfarben wechseln stetig, man bemerkt kleine Tonabstände, mikrotonal Flirrendes, einen Geist der Harmonie, manchmal auch der Meditation, und eine Liebe zum Schönen, wie sie sich vor allem in Smolkas Chorwerken auf betörende Weise niederschlägt. Das SWR-Vokalensemble hat den Weg des Komponisten schon lange intensiv begleitet. Es präsentiert nun neben Smolkas Lorca-Hommage »Poema de balcones« die Thoreau-Hommage »Walden« und die Rózewicz-Hommage »Slone i smutne«, mit feiner Linienführung und präziser Intonation. Für die Jury: Susanne Benda

Klassisches Lied und Vokalrecital

Wolfgang Rihm: Goethe-Lieder

Hans Christoph Begemann, Thomas Seyboldt. bastille musique bm002 (rudi mentaire distribution)

Zwei Raritäten hat Sebastian Solte vom Label bastille musique bislang herausgebracht, beide erhielten auf Anhieb einen Vierteljahrespreis: Erst Claude Viviers »Kopernikus«-Oper mit der Opera Factory Freiburg, jetzt Goethe-Lieder von Wolfgang Rihm. Ausgangspunkt war der Wunsch, Rihms 2012 entstandene »Harzreise im Winter« aufzunehmen. Hinzu kamen, mit »Sehnsucht« und »Nachtgesang«, zwei für die Kissinger Liederwerkstatt komponierte Stücke. Schon seit 2008 schlummerten in den SWR-Archiven weitere Rihmsche Wort-Klang-Miniaturen nach Goethe, insgesamt fünfzehn Lieder, auch sie sind nun Dank des mutigen Berliner Produzenten endlich auf CD zu hören. Eine vorzügliche Edition! Für die Jury: Albrecht Thiemann

Alte Musik

Buxtehude and his circle

Vokalwerke von Dietrich Buxtehude, Christian Geist, Nicolaus Bruhns, Franz Tunder und Kaspar Förster. Theatre of Voices, Paul Hillier. SACD, Dacapo Records 6.220634 (Naxos)

Die protestantische Kirchenmusik des siebzehnten Jahrhunderts entwickelte in Norddeutschland eine ganz besondere Mischung aus Strenge und Phantasie, Ausdrucksstärke und Innerlichkeit. Paul Hillier und sein Theatre of Voices verdeutlichen dies in einem klug konzipierten Programm, das den Bogen von Buxtehudes Amtsvorgänger Tunder bis zu seinen jüngeren Zeitgenossen Geist und Bruhns schlägt. Technisch beeindrucken die klangliche Homogenität und Fülle des Vokal- und Instrumentalensembles, interpretatorisch berührt nicht nur die Ernsthaftigkeit des Predigttons, sondern auch und vor allem die behutsame Versenkung in den Geist dieser Epoche. Für die Jury: Matthias Hengelbrock

Zeitgenössische Musik

First Performance VI / Arditti Quartet

Emmanuel Nunes: Chessed III; Alfred Zimmerlin: Streichquartett Nr.4; Morton Feldman: Structures; Helmut Lachenmann: Grido. Arditti Quartet. CD + Blu-ray, bonitz music network BMN20159 (harmonia mundi)

Drei Klassiker des modernen Streichquartetts wurden in diesem Mitschnitt einer hervorragenden Baseler Live-Aufführung des Arditti Quartets konserviert. Dazu kommt die Uraufführung des vierten Streichquartetts von Alfred Zimmerlin. Auf ruhige Weise entwirft der einundsechzigjährige Schweizer Komponist hier eine eigenständige Form: durch die Reihung von oft heterogenen Teilen, die sich jedoch zu einem Ganzen zusammenschliessen. Das Ohr wird geführt, ohne bedrängt zu werden. Und das Stück erreicht, ohne dass dies ständig betont werden müsste, eine starke Emotionalität. Für die Jury: Thomas Meyer

Historische Aufnahmen

Folk Songs of the World – Volkslieder aus aller Welt

Cathy Berberian, Harold Lester. SWR music SWR19010CD (Naxos)

Die Crossover-Programme von Cathy Berberian waren nie von markstrategischer Eitelkeit bestimmt, sie beruhten auf natürlicher musikalischer Vielseitigkeit. Von Claudio Monteverdi bis hin zu den Beatles war nichts für ihre Stimme unerreichbar. Im Bereich der zeitgenössischen Musik erwarb sich die aus Armenien stammende Sängerin, die viele Projekte gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Komponisten Luciano Berio realisierte, den ehrenvollen Spitznamen einer »seriellen Callas«. Dank ihrer enormen Sprachbegabung wurde sie außerdem eine der führenden Folk-Interpretinnen, wofür diese SWR-Aufnahmen von 1979 ein lustvoll-charmantes Beispiel sind. Für die Jury: Christoph Zimmermann

Grenzgänge

»Udopia«. Werke für Oud & Ensemble von und mit Thimios Atzakas.

Αvgerini Gatsi, James Wylie, Nikos Paraoulakis, Elektra Miliadou, Kostas Anastasiadis, Dimitris Zacharakis. Carpe Diem Records CD-16309 (www.carpediem-records.de)

Der Oud-Virtuose Thimios Atzakas, Jahrgang 1971, stammt aus der Vielvölkerstadt Thessaloniki, er studierte zuerst klassisch Gitarre, unter anderem in Köln und Leipzig. Auf seinem Debüt-Album führt er, unterstützt von der Sängerin Avgerini Gatsi sowie fünf weiteren Musikern, Jazz und neue Musik zusammen, aber auch traditionelle und folkloristische Klänge von der Seidenstraße bis an die Mittelmeerküste. Eine sensible Kombination von Komposition und Improvisation, selbst den fast totgeklimperten »Gnossiennes« von Erik Satie haucht Atzakas neues, oud-opisches Leben ein. Für die Jury: Nikolaus Gatter

Filmmusik

John Debney: The Jungle Book

Original Motion Picture Soundtrack. Walt Disney Records 50087344368 (Universal)

Ein Klassiker, das sagt sich leicht. Bei »Dschungelbuch« stimmt es, für Kiplings Roman ebenso wie für Disneys Trickfilm von 1967, aber auch für die Musik dazu, und erst recht für die Songs, die für Generationen zum Erinnerungsinventar wurden. Solche Heiligtümer grundüberholt man nicht mal eben. John Debneys temporeicher Soundtrack zeigt Respekt vor dem Original. Er macht, farbenfroh instrumentiert und von einem 105-Mann-Orchester eingespielt, das Vergnügen möglich, die »neuen« Songs ebenso toll zu finden wie die »alten«: Scarlett Johansson schlängelt sich hypnotisch durch »Trust in Me«, Christopher Walken macht sich in »I Wanna Be Like You« zum Affenkönig und Bill Murray erweist sich als Idealbesetzung für die Interpretation von »The Bare Necessities«. Für die Jury: Joachim Mischke

Musikfilm

Leonard Bernstein – Larger Than Life

Ein Film von Georg Wübbolt. Blu-ray, C Major 736004 (Naxos)

Leonard Bernstein mit filmischen Mitteln zu porträtieren, ist eine Herkules-Aufgabe. In nur siebzig Minuten stemmt die Dokumentation dieses Schwergewicht, sie macht einmal mehr begreifbar, dass die vielfältige Begabung dieses Dirigenten und Komponisten, der sowohl als TV-Gastgeber der »Young People’s Concerts« wie auch als Musical-Revolutionär und Mahler-Exeget oder Spiritus Rector des Schleswig-Holstein Musikfestivals wirkte, eigentlich unbegreiflich gewesen ist. Zahlreiche Zeitzeugen kommen zu Wort, ihre Aussagen vermitteln das Bild eines ewig drängenden, hoch kreativen Künstlers und Philanthropen, dessen Potenzial für drei Menschenleben ausgereicht hätte. Dass der Film auch Schwächen Bernsteins, seine Süchte und Ambivalenzen, nicht auslässt, ohne ihn damit zu verraten, ist ein achtenswertes Verdienst der Regie. Für die Jury: Wolf-Christian Fink

Jazz

Albert & Emil Mangelsdorff: Early Discoveries

2 CDs, SWR Jazzhaus JAH-459 (Naxos)

So etwas wie den deutschen Jazz gebe es nicht, hat Albert Mangelsdorff gerne betont. Doch diese sechs Sessions der beiden Brüder aus den Jahren 1953 bis 1963 zeigen, wie sich das Genre in der Cool und Bop-Ära herauskristallisierte, im mitreißenden Spiel von Individualisten wie Attila Zoller, Rolf Kühn und Hans Koller, die sich schon von ihren amerikanischen Vorbildern lösten. Wenige musizierten auf der Posaune so schlüssig und ideenreich wie der junge Albert Mangelsdorff, und dies viele Jahre, bevor der wegweisende deutsche Jazzer mit seinem mehrstimmigen Posaunenspiel die Rolle des Instrumentes revolutionierte. Dass einige Besetzungen bislang auf keinem Album dokumentiert waren, verleiht der Edition besondere Bedeutung. Für die Jury: Marcus A. Woelfle

Jazz

Jack DeJohnette: In Movement

Jack DeJohnette, Ravi Coltrane, Matthew Garrison: In Movement. ECM 2488 (Universal)

Ravi Coltrane mag zwar die Wahl der Instrumente, Sopran- und Tenorsaxophon, sowie seine Hingabe an die Musik von seinem Vater John ererbt haben; doch in seiner Interaktionsintensität oder vielmehr seiner »Prozess«-Kunst und in den schwelgenden Balladen ist er absolut individuell. Der Sinn für das Schöne geht ihm auch in furiosen Ausbrüchen nicht verloren. Bassist Mathew Garrison ist einerseits melodischer Gesprächspartner, andererseits Schöpfer elektronischer Klangfarben, ebenso der jahrhunderterfahrene Schlagzeuger Jack DeJohnette, der dieses Trio zusammengebracht und die meisten Kompositionen geschrieben hat. Eine phänomenale Produktion! Für die Jury: Ulrich Olshausen

Weltmusik

Trio Benares: Assi Ghat

Jazzsick Records 5092 JS (esc)

Indische Klangwelten verbinden sich mit Jazz: Diese bemerkenswerte Geschichte wird hier vom Trio Benares um ein neues, ganz und gar zeitgenössisches Kapitel erweitert. Roger Hanschel, seit langem durch die Kölner Saxophon Mafia sowie Crossover-Projekte eher westlicher Prägung bekannt, vertiefte seine Kenntnis nordindischer Musik in Benares, an der Akademie des vielfach preisgekrönten Sitarvirtuosen Deobrat Mishra. Deobrats Neffe Prashant Mishra, ein junger Star der Szene, kam mit Tabla-Percussion dazu. Gemeinsam fanden die drei zu einer energiegeladenen Fusion, die man so noch nicht gehört hat. Hanschels Hoffnung, aus den Stilformen »eine originäre dritte Geschichte« zu entwickeln, hat sich voll und ganz erfüllt. Für die Jury: Jürgen Frey

Traditionelle Ethnische Musik

Mahsa Vahdat: A Cappella – The Sun Will Rise

Kirkelig Kulturverksted FXCD 422 (Indigo)

Sie erklärt es kategorisch im Booklet: »Meine Lieder handeln von Freiheit, Liebe und Sehnsucht«. Und dann tut die iranische Sängerin Mahsa Vahdat etwas, das in ihrer Heimat verboten wäre: Sie singt solo. Die Begleitung dazu liefern Vögel, Kirchenglocken, Bachrauschen und Besuchergeräusche in Kirchen, Palästen sowie einem Mausoleum. So umweht ein genius loci ihre Interpretation von Texten überwiegend persischer Dichter aus dem Mittelalter. Mahsa Vahdat, die 2010 mit dem Freemuse Award für musikalische Meinungsfreiheit ausgezeichnet wurde, trägt dies manchmal mehr spirituell, dann wieder extrovertiert und stets mit großer Emotionalität vor. Sie lässt ihre Seele singen. Es ist eine große Freude, ihr dabei zuzuhören. Für die Jury: Bernhard Hanneken

Liedermacher

Danny Dziuk: Wer auch immer...

... was auch immer, wo auch immer. Buschfunk BF 05342 (www.buschfunk.com)

Diesem immer noch weithin unterschätzten Singer/Songwriter gelingt es auf glaubhafte Weise, persönlich Privates mit allgemein relevanten Gesellschaftsfragen zu vereinen. Bankenwillkür, Wutbürger, Cybermobbing und schleichende Paradigmenwechsel oder aber der Tour-Alltag eines reisenden Musikers, sein Liebesschmerz, seine kritischen Selbstbetrachtungen und Borderline-Erfahrungen: Alles hängt mit allem zusammen. Fernab jeglicher Besserwisserei überzeugt Dziuk auch mit den Inhalten seiner Songs, musikalisch sowieso. Wer bisher meinte, die deutsche Sprache sei ungeeignet für anspruchsvolle Pop-Musik, der kann sich hier eines Besseren belehren lassen. Für die Jury: Kai Engelke

Folk und Singer/Songwriter

Sara Ajnnak: Ráhtjat

S.A. Records SA001 (Broken Silence)

Sara Ajnnak ist eine Samin aus Schweden, die in der heute fast ausgestorbenen umesamischen Variante der samischen Sprache singt – mit einer klaren, klangvollen Stimme, eigenwilligen Arrangements und zurückhaltender Instrumentalbegleitung. Ihre selbstgeschriebenen Texte berichten von der schmerzhaften Suche nach Identität und nach einem eigenen Platz im Leben. Sie erzählen aber auch von der Liebe zur Natur, zu den Traditionen, von der Heilkunst der Noaiden – und letztlich davon, dass Samen sich im Zweifelsfall auch nicht anders verhalten als Männer der meisten Kulturen. Deshalb ist es für Frauen besonders wichtig, für sich selbst und für ihre Rechte zu »joiken«! Für die Jury: Gabriele Haefs

Pop

Anohni: Hopelessness

Rough Trade, Beggars Group RTRADCD823 (Indigo)

Die transsexuelle Sängerin Anohni singt zu glitzernden Elektrosounds düstere Texte über Gewalt gegen Frauen, Überwachung, Todesstrafe, Krieg oder die enttäuschende Bilanz der Ära Obama. Jeder einzelne Song wirkt wie ein trojanisches Pferd: Sieht gut aus, tut aber weh. Anohni hat mit »Hopelessness« das erste Protestalbum des Post-Kapitalismus vorgelegt: widerständiger Pop, als ein Versuch, ein gesellschaftlich relevantes Kunstwerk zu schaffen, eine klingende Diskussionsgrundlage. Für die Jury: Philipp Holstein

Der Titel gewann auch in den Jurys Alternative sowie Club und Dance.

Rock

The Jayhawks: Paging Mr. Proust

Sham LP 3219371 (Alive)

Seit dreißig Jahren sind die Jayhawks eine gnadenlos unterschätzte Band. Bei »Paging Mr. Proust« ist es Gary Louris erneut gelungen, schwelgerische Songs zu schreiben, die das Jingle-Jangle-Gefühl der sechziger Jahre verströmen, ohne rückwärtsgewandt zu wirken. Es geht um das Hamsterrad des Lebens, um David Foster Wallace und Robert Frost. Und die Jayhawks spielen dazu unwiderstehliche Americana, auch stürmenden Rock, viel intelligenten Pop – produziert von zwei kongenialen Kollegen: Peter Buck von R.E.M. und Tucker Martine. Die Liebeslieder von Louris sind voll Sehnsucht, seine Weltbetrachtung ist melancholisch, die Songs kennen keine Zeit, schon gar nicht so etwas wie »Trends«. Sie klingen, als wären sie schon immer da gewesen, und werden für immer bleiben. Für die Jury: Birgit Fuß

Hard und Heavy

Long Distance Calling: Trips

InsideOutMusic 88985311202 (Sony)

Diese Platte ist der erhoffte Befreiungsschlag nach kurzer Schwächephase, bereits die EP »Nighthawk«, 2014 veröffentlicht, hatte eine Kurskorrektur nahe gelegt. Marsen Fischer konzentriert sich jetzt auf Keyboards und Synthesizer, den Gesangspart hat bei vier von neun Songs der Norweger Petter Carlsen übernommen. »Reconnect«, »Rewind«, »Plans« und »Lines« reüssieren als eigenständige Alternative/Prog/Metal-Mischung, selbst international in ihrem Bereich »state of the art«. Noch besser gefallen die Instrumental-Tracks, denn dies ist und bleibt die Königsdisziplin der Münster-Dortmund-Connection. Alles in allem: Eine der besten deutschen Bands überhaupt ist wieder ganz bei sich! Für die Jury: Boris Kaiser

Electronic und Experimental

Julianna Barwick: Will

Dead Oceans 95619 (Cargo)

Das vorige Album der New Yorker Sängerin und Pianistin Julianna Barwick, »Nepenthe«, erinnerte an Herbstnebel, sehr romantisch, aber auch depressiv. Mit »Will« hat sie sich wieder mehr dem Leben zugewandt. Die sirenenhaft betörende Stimme aber ist die gleiche geblieben, Barwick schichtet sie übereinander und durchwebt sie mit elektronischen Klangflächen, bis ein außerweltlicher Chor vom Fremden in uns selbst singt. Zusammen mit anderen Musikern, etwa dem holländischen Cellisten Maarten Vos oder dem Schlagzeuger Jamie Ingalls entstand ein Album, das nur selten den Boden berührt: Geistermusik aus einer Welt weitab von Pop und Party. Für die Jury: Jürgen Ziemer

Blues

Henrik Freischlader Trio: Openness

Cable Car Records CCR 0311-47 (www.cablecarrecords.de)

Mit diesem Album stellt Freischlader nicht nur sein neues Trio vor, er offeriert zugleich damit auch die Quintessenz seines bisherigen Schaffens. Als Komponist, Gitarrist, Sänger und Arrangeur verfügt er schon seit längerem über eine unverkennbar individuelle Note und einen ureigenen Sound. Die Art und Weise, wie er den Blues und mit dem Blues speziell auf diesem Album spielt, setzt Maßstäbe. Die Songs umschmeicheln den Hörer, locken ihn, machen ihn neugierig. Manchmal überrollen sie uns, einige lassen uns staunend zurück. Ein großer Wurf, selbst für einen Musiker wie diesen, dessen Veröffentlichungen schon seit Jahren immer wieder für Aufsehen sorgten. Für die Jury: Karl Leitner

R&B, Soul und Hip-Hop

Beyoncé: Lemonade

CD & DVD, Columbia 88985336822 (Sony)

Bereits vor der Veröffentlichung von Beyoncés Album war die alltägliche Rassenpolitik in den USA erneut aktuell geworden. Nachträglich wirkt Lemonade wie der Soundtrack zu den aberwitzigen Geschehnissen, den brutalen Polizeiübergriffen gegenüber Schwarzen. Angeblich geht es auf Album wie auch DVD um die Wut und den Hass einer betrogenen Ehefrau. Wenn aber die Sängerin, die längst verdient den Titel »Queen Bey« trägt, mit einem Baseballschläger einen ganzen Straßenzug zertrümmert, ahnt man, dass das nicht alles sein kann. »Freedom« ist ihre Botschaft, so lautet zugleich der Titel eines der zentralen Stücke des Albums, entstanden mit dem Rapper der Stunde Kendrick Lamar. Auch als Performerin ist Beyoncé in Bestform. Ein gutes Dutzend eigenwilliger Produzenten sorgte für enorm starke Tracks, die von ihr mühelos dominiert werden. Für die Jury: Andreas Müller

Wortkunst

John Dos Passos: Manhattan Transfer

Hörspiel von Leonhard Koppelmann und Hermann Kretzschmar. Stefan Konarske, Max von Pufendorf, Maren Eggert, Marc Hosemann u.a. 6 CDs, Hörbuch Hamburg ISBN 978-3-95713-027-3

Mit »Manhattan Transfer« hatte sich Dos Passos in den zwanziger Jahren in die erste Reihe der amerikanischen Schriftsteller katapultiert. Und bis heute wirkt die Modernität dieses Montageromans nach. Die von der Kritik hochgelobte Neuübersetzung durch Dirk van Gunsteren diente als Vorlage für dieses mitreißende, temporeiche Hörspiel, das in Bearbeitung wie Inszenierung auf beglückende Weise gelang. Mit einem erlesenen Sprecherensemble, mit Jazz-Kompositionen und Klangcollagen vergegenwärtigen Koppelmann und Kretzschmar uns die vibrierende Großstadtatmosphäre New Yorks zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, als jeder nach Glück, Arbeit, Macht und Geld strebt. Hoch zu loben ist auch das ausführliche Booklet. Für die Jury: Dorothee Meyer-Kahrweg

Kinder- und Jugendaufnahmen

Martin Baltscheit: Krähe und Bär

oder Die Sonne scheint für uns alle! Charly Hübner, Lina Beckmann, Wolf Frass, Robert Missler. Oetinger ISBN 978-3-8373-0888-4

Was ist vorzuziehen: Rundumversorgung oder Freiheit? Während der Bär die Krähe um letztere beneidet, wünscht sich diese die Bequemlichkeit seines geschützten Zoolebens. Doch alles hat eine Kehrseite, das müssen auch diese beiden ungleichen Freunde erkennen. Eine Geschichte über große Lebensfragen und eine ungewöhnliche Freundschaft. Charly Hübner als grummeliger, trauriger Bär und Lina Beckmann als freche, dreiste Krähe begeistern mit Sicherheit nicht nur kleine Hörer. Für die Jury: Margit Hähner

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