Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

NEU: Longlist 2/2024, veröffentlicht am 5. April 2024

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Ludwig van Beethoven: The Complete Symphonies

Simona Šaturová, Mihoko Fujimura, Christian Elsner, Christian Gerhaher, MDR Rundfunkchor, GewandhausChor, GewandhauskinderChor, Gewandhausorchester Leipzig, Herbert Blomstedt. 5 CDs, Accentus 80322 (harmoni mundi)

Fantasie-Arbeit, die eine kodifizierende Verbindlichkeit nie außer Acht lässt, aber entscheidend grundiert wird von einem geschmackssicheren interpretatorischen Persönlichkeitsbild, setzt den Maßstab für Blomstedts einzigartige Darstellung aller Beethoven-Symphonien. Mit seiner juvenil drängenden Resolutheit in Ansatz und Durchführung gelingt es dem Nestor der internationalen Dirigenten-Elite, seinen nie nachlassenden Gestaltungswillen umzumünzen in ein über jeden Zweifel erhabenes objektivierendes Wertungsstreben. Seine narrative Unbedingtheit vermittelt sich in allgegenwärtiger Klarheit wie eine quasi naturgegebene Alltäglichkeit. Eine von innovatorischer Durchdringungskraft erfüllte Wiedergabe erwächst zum Hör-Fest. Für die Jury: Hanspeter Krellmann

Orchestermusik und Konzerte

Walton, Bruch, Pärt / Nils Mönkemeyer

William Walton: Violakonzert. Max Bruch: Kol Nidrei op. 47, Romanze op. 85. Arvo Pärt: Fratres. Nils Mönkemeyer, Bamberger Symphoniker, Markus Poschner. Sony 88985360192

Unter Komponistenkollegen kann es mitunter »rauh« hergehen. »Rauh« nannte William Walton die Interpretation, die Paul Hindemith als Bratschist seinem 1929 entstandenen Violakonzert angedeihen ließ. Bei Nils Mönkemeyer kann von Rauheit keine Rede sein: Sein Ton ist sahnig-sehnend, dabei kernig, wo nötig. Gemeinsam mit Markus Poschner und den Bamberger Symphonikern legt Mönkemeyer mit diesem Album eine bittersüße Tonspur quer durchs zwanzigste Jahrhundert. Die spätromantischen Wurzeln von Waltons Konzert werden durch die Gegenüberstellung mit Max Bruchs »Kol Nidrei« op. 47 von 1880 und und dessen Romanze op. 85 offengelegt. Einen Nachklang liefert Arvo Pärt mit seinem Tintinnabuli-Stil im ätherisches Stück »Fratres«. Für die Jury: Wiebke Roloff

Kammermusik

Hindemith, Schönberg / Trio Zimmermann

Paul Hindemith: Streichtrio Nr.1 op. 34, Streichtrio Nr. 2. Arnold Schönberg: Streichtrio op. 45. Trio Zimmermann. BIS-Records 2207 SACD (Klassik Center)

Hier werden zwei Komponisten, die lange als Antipoden des zwanzigsten Jahrhunderts galten, wie selbstverständlich kombiniert. Und man braucht gar nicht zu wissen, dass Schönberg sein Streichtrio op. 45 kurz vor und nach seinem Herzinfarkt komponierte, um eine angespannte Emotionalität, aber auch viele Erinnerungsspuren ans Leben, an Walzer und Choral wahrzunehmen. Dass wir die drei Streichtrios von Schönberg und Hindemith wie neu hören, liegt an der klanglichen und spieltechnischen Perfektion des Zimmermann-Trios und an seiner rückhaltlosen Identifikation mit den Werken. Es straft sogar Hindemith Lügen, der sein erstes Streichtrio nach der Komposition des zweiten am liebsten vergessen hätte. Hätte er es in dieser Interpretation erlebt, wäre er sicher nicht zu diesem Schluss gekommen. Ein Bravourstück! Für die Jury: Lotte Thaler

Tasteninstrumente

CPE Bach: Tangere / Alexei Lubimov

Carl Philipp Emanuel Bach: Fantasien, Sonaten, Rondi und Solfeggi. Alexei Lubimov. ECM 2112 (Universal)

Die Klaviermusik von Carl Philipp Emanuel Bach wurde bis heute nur gelegentlich beachtet – und dann mit Umsicht, ja Vorsicht gestaltet. Nun aber, da der russische Pianist Alexei Lubimov eine Auswahl aus dem riesigen Repertoire dieses Bach-Sohnes vorgelegt hat, wird fast schockierend deutlich, welch eine Kraft und welche Mengen an ästhetischer Widerborstigkeit und freigeistiger Utopie in dessen Werken verborgen sind. Lubimov bringt sie uns staunenden Hörern auf einem faszinierend klingenden, singenden und sprechenden Tangentenflügel nahe – und mitunter auch zur Explosion: exemplarisch »Alte Musik« im Sinne wundersamer, aber auch provokanter Unvergänglichkeit. Für die Jury: Peter Cossé

Tasteninstrumente

Le Cœur & L’Oreille – Manuscript Bauyn

Werke von Louis Couperin, Jacques Champion de Chambonnières, Jacques Hardel, René Mesangeau, Jean-Henri d’Anglebert, Germain Pinel, Johann Jacob Froberger. Giulia Nuti. Arcana A 434 (Note 1)

Das Bauyn-Manuskript, 450 Seiten stark, ist eines der bedeutendsten Kompendien barocker Cembalomusik aus Frankreich. Schon allein die intensive Beschäftigung mit diesem umfangreichen Material zeichnet die italienische Cembalistin Giulia Nuti aus. Ihre stilkundigen und ornamental fantasievollen Interpretationen der hier überlieferten Werke von Couperin, Chambonnières, Hardel und vielen anderen machen ihre neue CD rundum preiswürdig. Der voluminöse, sinnliche und farbenreiche Cembaloton des 1658 in Paris gebauten Instruments »Le Hanneton« zeugt von den herausragenden Qualitäten dieses Kunstwerks, der Künstlerin und nicht zuletzt des faszinierenden Repertoires. Für die Jury: Sabine Fallenstein

Tasteninstrumente

Kit Armstrong Performs Bach’s Goldberg Variations & Its Predecessors

Werke von Johann Sebastan Bach, William Byrd, Jan Pieterszoon Sweelinck und John Bull. Recorded Live from the Concertgebouw Amsterdam. C Major DVD 741608 / Blu-ray 741704 (Naxos)

Kit Armstrong ist jetzt in einem Alter, in dem der legendäre Glenn Gould als junger Wilder mit Bachs Goldberg-Variationen einst Furore gemacht hat. Armstrong indes, Jahrgang 1992, ist im Gegensatz zu Gould kein Rebell am Klavier, sondern ein bereits sehr abgeklärter Gestalter, wie dieser 2016 entstandene Livemitschnitt der »Aria mit verschiedenen Veränderungen« aus dem Concertgebouw in Amsterdam zeigt. Beeindruckend die enorme Bandbreite pianistischer Mittel, die er sensibel und souverän einsetzt. Die ergänzenden Programmstücke von Sweelinck, Bull und Byrd werden in ihren Stimmungen von Armstrong wunderbar ausleuchtet. Und auch der visuelle Eindruck der DVD überzeugt: Die Kamera vermittelt für das Spiel des Pianisten in diesem herrlichen Saal eine ganz besondere Atmosphäre. Für die Jury: Bernhard Hartmann

Oper

Georg Friedrich Händel: Ottone

Max Emanuel Cenčić, Ann Hallenberg, Xavier Sabata, Lauren Snouffer, Pavel Kudinov, Anna Starushkevych. il pomo d’oro, George Petrou. 3 CDs, Decca 4831814 (Universal)

Aufgrund träger Produktionsverhältnisse bei den großen Firmen hat sich Countertenor Max Emanuel Cenčić sozusagen selbstständig gemacht. Die von ihm konzipierten und koproduzierten Gesamtaufnahmen von Opern des Barock werden, sobald sie fertig sind, an die renommierte Decca expediert. Hier schmückt man sich bereits mit dem fünften Großprojekt dieser Art. Bei »Ottone« handelt es sich um Händels dritte Heldenoper in Folge (nach »Alessandro« und »Arminio«). Die Besetzung ist vorzüglich, und der Dirigent George Petrou erzielt am Pult mit il pomo d’oro ein sogar noch lebendigeres Ergebnis als sonst mit eigenem Ensemble. Als Dokument einer Emanzipation der Künstler stellt diese Aufnahme den bisherigen Höhepunkt der Cenčić-Factory dar. Für die Jury: Kai Luehrs-Kaiser

Oper

Hector Berlioz: Béatrice et Bénédict

Stéphanie d’Oustrac, Paul Appleby, Philippe Sly, Sophie Karthäuser, Lionel Lhote, Katarina Bradić, Frédéric Caton, Glyndebourne Chorus, London Philharmonic Orchestra, Antonello Manacorda, Regie: Laurent Pelly. Opus Arte DVD OA 1239D/ Blu-ray OABD 7219D (Naxos)

Das besondere Werk am besonderen Ort auf besondere Weise: Eine Festspieldefinition, die in Glyndebourne mit dieser selten aufgeführten Opéra comique erneut erfüllt wurde. Dirigent Antonello Manacorda trifft den spritzigen Liebeskomödientonfall perfekt, bis hin zur Spontini-Karikatur mit einer Festkantate, in die er selbst, Chor und Instrumentalisten mit einbezogen werden. Regisseur Laurent Pelly verlegt das Berliozsche Konzentrat aus Shakespeares »Viel Lärm um Nichts« in eine streng geordnete »Schachtel-Welt«, aus der große Emotionen hervorbrechen. Im Ensemble herrlicher Typen bis hin zum liebevoll einigen Paar Héro und Claudio setzen der sentimentale Bénédict von Paul Appleby und die herrlich kratzbürstige Béatrice von Stéphanie d’Oustrac komödiantische Glanzlichter. Für die Jury: Wolf-Dieter Peter

Chor und Vokalensemble

György Kurtág: Sämtliche Werke für Ensemble und Chor

Natalia Zagorinskaja, Harry van der Kamp, Elliott Simpson, Tamara Stefanovich, Jean-Guihen Queyras, Gerrie de Vries, Csaba Király, Yves Saelens, Asko/Schönberg Ensemble, Netherlands Radio Choir, Reinbert de Leeuw. 3CDs, ECM 2505-07 (Universal)

Dieses Album ist das Ergebnis einer Generalstabsarbeit der modernen Aufführungspraxis. Über viele Jahre hinweg hat sich der niederländische Pianist und Dirigent Reinbert de Leeuw immer wieder dem Werk des großen ungarischen Komponisten György Kurtág genähert, mal tastend, mal forschend, mal umkreisend, mal erobernd. Er hat die Kompetenz in dieser Zeit reifen lassen, und oft hat er auch den Komponisten um Feinjustierung gebeten. Das Ergebnis ist phänomenal. Das Asko/Schönberg Ensemble und der Netherlands Radio Choir, angeleitet von de Leeuw, verblüffen außer Kurtág selbst (der bei den Aufnahmen dabei war) auch den Hörer: Der erlebt nämlich moderne Musik, in der sich Zartheit und Sinnlichkeit wunderbar vereinen. Für die Jury: Wolfram Goertz

Klassisches Lied und Vokalrecital

Traumgekrönt / Hanna-Elisabeth Müller

Lieder von Richard Strauss, Alban Berg & Arnold Schönberg. Hanna-Elisabeth Müller, Juliane Ruf. Belvedere 08034 (harmonia mundi)

Beim ersten Soloalbum treibt es die jungen Sänger oft zu den Repertoireschlagern. Es spricht für Hanna-Elisabeth Müller und ihre Klavierpartnerin Juliane Ruf, dass sie dieser Versuchung widerstehen. Sowohl das Strauss-Repertoire (und davon eher die Randzonen) wie auch Bergs »Sieben frühe Lieder« und Schönbergs frühe »Vier Lieder«: Alles deuten sie mit großer Klarheit. Überhaupt definiert sich Müllers Kunst ex negativo: Nicht parfümiert, nicht zu schwärmerisch, nicht zu neckisch oder gefühlig klingt das, sondern mit reflektierter Emphase nachgezeichnet. Die Makellosigkeit der Tongebung, die Balanciertheit der Stimme bis in Extremlagen, die intelligente Dosierung von Kraft und Farben machen »Traumgekrönt« zu einem herausragenden CD-Debüt. Für die Jury: Markus Thiel

Alte Musik

Franz Xaver Richter: Sinfonien, Sonaten & Oboenkonzert

Oboenkonzert g-moll, Sinfonien in B-Dur, g-moll & Con Fuga, Triosonaten a-moll op. 4,6 & D-Dur op. 3,3. Xenia Löffler, Capricornus Consort Basel, Peter Barczi. Christophorus CHR 77409 (Note 1)

Das Capricornus Consort stellt Franz Xaver Richter als einen Komponisten dar, der seinen eigenen Gesetzen vollkommen genügt und nicht nach den Kriterien »noch nicht« oder »immer noch« bewertet werden sollte. Mit selbstbewussten Gesten und einer hohen lyrischen Expressivität gibt sich der Vertreter der Mannheimer Schule als starke Künstlerpersönlichkeit zu erkennen. Zugleich lässt die Interpretationshaltung des Consorts aufhorchen: Die Musiker um Peter Barczi profilieren sich nicht auf Kosten der Musik, sie arbeiten satztechnische Details ebenso sachkundig und angemessen heraus, wie sie die jeweilige Atmosphäre mit besonderer Sensibilität erfassen. So kommen Gewicht und Ausdruckskraft von Richters Werken optimal zur Geltung, aber auch ihr Charme und ihre beseelte Atmosphäre. Für die Jury: Matthias Hengelbrock

Zeitgenössische Musik

Ephemeral Rivers – Cat Hope: Kammermusik

Cat Hope: Miss Fortune X, Cruel & Unusual, Broken Approach, Dynamic Architectrue 1, Sogno 102. Tristen Parr, Aaron Wyatt, Cat Hope, Lindsay Vickery, Stuart James, Louise Devenish, Zachary Johnston, Lizzy Welsh, Phoebe Grey, Judith Hamman, Samuel Dunscobe, Vanessa Tomlinson, Mark Cauvin. HatArt/HatHut ART200 (Outhere)

Das Streichquartett erinnert an Polizeisirenen: Glissandi wandern durch den Klangraum, begleitet von einem unheimlichen elektronischen Beben. Von dieser alltäglichen Brutalität spricht auch der Titel des Stücks: »Cruel & Unusual«. Ausgelöst wurde diese politische Kammermusik durch einem Bericht über Isolationshaft in US-Gefängnissen. Die Komponistin Cate Hope, 1966 geboren, gehört zu den wichtigsten Stimmen der neuen australischen Musik, ihre Werke sind eine wahre Entdeckung. Mit minimalem Aufwand schafft sie ebenso suggestive wie beunruhigende Geräusch-Klangwelten. Das kann einem schon unter die Haut gehen. Für die Jury: Thomas Meyer

Historische Aufnahmen

Liszt / Paul Badura-Skoda

Franz Liszt: Sonate h-moll. 1965 & 1971. Paul Badura-Skoda. Gramola 99147 (Naxos)

Paul Badura-Skoda hat in den sieben Jahrzehnten seines Wirkens eine unglaubliche Repertoirebreite offenbart. Dass aber Liszts h-moll-Sonate dazugehören könnte, käme den wenigsten Hörern in den Sinn. Diese Darbietung des Werks als Live- wie auch als Studioeinspielung bestätigt ein erwartbares Vorurteil: Da spielt ein Pianist mit einem enormen Formgebungsvermögen, klar in Diktion, Logik und Transparenz, dabei ohne Sensationslust oder Effekthascherei. Man könnte fast sagen: Badura-Skoda spielt Liszt »typisch deutsch.« Im Konzertmitschnitt führt er den Spannungsverlauf ohne Bruch in großer Varianz. Am Ende muss man erst einmal durchatmen – nicht wegen des zirzensischen Anteils, sondern wegen Liszts Vermögen, ein solch außergewöhnliches Werk zu erfinden. Für die Jury: Wolfgang Wendel

Grenzgänge

En El Amor

Nataša Mirković, Michel Godard, Jarrod Cagwin. Carpe Diem Records CD16313 (www.carpediem-records.de)

Auf dem Serpent, auch Zink genannt, einem schlangenförmigen Urahn der Tuba, schafft Michel Godard zusammen mit dem versierten Jazz-Perkussionisten Jarrod Cagwin einen Echoraum für die zarten und leidenschaftlichen Modulationen der Stimmvirtuosin Nataša Mircović aus Bosnien-Herzegowina. Die Akustik der ehemaligen Synagoge von St. Pölten verleiht den sephardischen Volksliedern aus Südosteuropa einen zarten, verschwebenden Klang. Das Beiheft bringt die Liedtexte in einen Dialog mit Lyrik des 2017 verstorbenen österreichischen Dichters und Theaterregisseurs Ernst Marianne Binder. Für die Jury: Nikolaus Gatter

Filmmusik

Hans Zimmer: Dunkirk

Hans Zimmer: Originalfilmmusik zu »Dunkirk«. Water Tower 7434371 (Sony)

Seit fast drei Jahrzehnten zelebriert Hans Zimmer opulente Orchesterklänge, unter deren oftmals melodische Arrangements er mit eruptiv aufbrodelnden Perkussionswellen rhythmische Akzente setzt. Diesen Stil hat Zimmer in der Partitur für »Dunkirk« noch einmal vorangetrieben, indem er das Tempo straffte und in den Spannungsszenen mit düster drohenden Posaunenklängen effektsicher dynamisierte Unruhe forcierte. Die Mittel für sich sind nicht neu, aber Zimmer hat sie in seinem unverkennbaren Produktionsstil auf jenen Stand veredelt, der seine Filmmusik zu einem universell anerkannten Gesamtwerk in Sachen Komposition und Arrangement geführt hat. Für die Jury: Uwe Mies

Jazz

Cleo

Let Them Talk. Luley Music Records LMR 02017 (www.janluley.de)

Schon als 15-Jährige hat sie den Sound von New Orleans eingeatmet, und das hört man ihrer Debüt-CD auch an: Cleos Stimme ist volltönend, voluminös, bluesig und jazzig – als hätte sie ihr Handwerk in der legendären Preservation Hall gelernt. Und doch ist sie nicht auf der Stufe ihrer großen Vorbilder stehengeblieben: Die Sängerin und ihre Band bestechen durch einen erfrischend neuen Blick auf alte Hüte. Die Pop- und Jazzstandards aus dem vorigen Jahrtausend, die man überwiegend mit großer Besetzung kennt, sind entkernt und reduziert auf vier sehr ökonomisch eingesetzte Instrumente; oft reicht allein die Klavierbegleitung aus, um die Songs zu voller Blüte zu bringen. Wenn schon die Premiere der jungen Vokalistin so überzeugend gelungen ist, darf man wohl mit Fug und Recht noch einiges von ihr erwarten. Für die Jury: Rainer Nolden

Jazz

Silke Eberhard Trio

The Being Inn. Intakt CD 280 (harmonia mundi)

Das Album gleicht einer Einladung in das imaginäre Gasthaus, das sich die Berliner Altsaxophonistin und Bassklarinettistin Silke Eberhard beim Schreiben der Stücke vorstellte – ein Ort, an dem die moderne Jazztradition im Raum schwebt und im gemeinschaftlichen Spiel neu ausgeformt wird. Dabei sind die Fenster weit geöffnet, so dass sich bei allen Reminiszenzen an die Geschichte dieser Musik ein beglückendes Gefühl von Freiheit einstellt. Jan Roder am Kontrabass und Kay Lübke am Schlagzeug weben ein spannendes Beziehungsgeflecht und treten als Gesprächspartner der Bandleaderin wie auch selbst als Solisten hervor, so dass ein vielfältig ausdifferenzierter Trioklang entsteht, der sehr eigen ist und zugleich vertraut anmutet. Für die Jury: Bert Noglik

Weltmusik

Gahlia Benali & Mâäk

MwSOUL. W.E.R.F. 143 (Rough Trade)

Gahlia Benali lebt zwischen den Künsten und Kulturen. Geboren und ausgebildet in Belgien, aufgewachsen in der arabischen Kultur Tunesiens, liebt die Sängerin, Grafikerin, Schauspielerin und Songschreiberin Projekte, mit denen sie die teilenden Stilkriterien der Künste überlistet. Die Idee zu diesem Album reicht zurück in die Zeit des arabischen Frühlings, als die Internetverbindungen mit Ägypten zeitweise gekappt waren. Ein Gedicht des Poeten Abdallah Ghoneim erreichte sie dennoch, ein Gedicht über die Verbundenheit (»MwSOUL«) jenseits trennender Realitäten. Mit Mâäk, einer belgischen Bläsertruppe ohne stilistische Berührungsängste, formt Gahlia Benali ihre eigenen Texte über Trennung und Freiheitsdrang in Musik: eindringlich, stilübergreifend, intensiv. Für die Jury: Jodok W. Kobelt

Traditionelle Ethnische Musik

Alma: Oeo

… Irgendwo zwischen Heimaterde und einem dunklen All. Col legno WWE 20434 (harmonia mundi)

Die vitale österreichische Volksmusikszene, die sich längst von der rigiden und ideologiebehafteten »Pflege« emanzipiert hat, ist heute bestimmt durch genaue Kenntnis der Tradition, Stilpluralismus und Internationalität. Für all dies steht auch die neue und außergewöhnlich farbenreiche Produktion von Alma. Vier Musikerinnen und ein Musiker führen das weiter, was sie ebenso an einem Wiener oder Kremser Musikantenstammtisch spielen könnten. Die Kompositionen und Arrangements von Julia Lacherstorfer und anderen entspringen nicht einem zwanghaften Bestreben, Volksmusik »zeitgemäß« zu verpacken, vielmehr ihren intensiven Erfahrungen mit unterschiedlichen Weltregionen und Kompositionsschulen. An diesen Inspirationen lässt uns Alma auch durch die geistreichen Kommentare teilhaben. Für die Jury: Ulrich Morgenstern

Liedermacher

Johannes Kirchberg und das CANEA Quartett Hamburg

Johannes R. Becher. einmal frei. und einmal glücklich sein. dermenschistgut (https://musik.dermenschistgut.de)

Der Pianist, Komponist und Sänger Johannes Kirchberg aus Hamburg widmet sich mit seiner jüngsten Veröffentlichung auf einfühlsame und sensible Weise dem expressionistischen Dichter Johannes R. Becher, der später Kulturminister der DDR wurde. Das Programm, entworfen zum sechzigsten Todestag Bechers, macht auch um die Nationalhymne keinen Bogen, aber es zeigt vor allem Bechers Ambivalenz zwischen Affirmation und Phantasie, Politik und Privatem, im Ringen um Heimat, Frieden, Liebe. Jens-Uwe Günther hat Kirchbergs Lieder für Streichquartett-Begleitung anspruchsvoll arrangiert – ein künstlerisch ambitionierter Weg, sich einem vergessenen Poeten anzunähern. Für die Jury: Kai Engelke

Folk und Singer/Songwriter

Fara

Cross The Line. CPL-Music CPL 018 (Broken Silence)

Vier junge Damen von den Orkney Inseln, Freundinnen von Kindheit an, führen ihr Musikstudium auf dem schottischen Festland fort und machen in den unterschiedlichsten Formationen Karriere. Aber sie musizieren immer noch gemeinsam und gründen die Gruppe Fara. Die Debüt-CD beweist ihr Talent für Eigen- und Fremdkompositionen; mitreißend und beschaulich, im Zentrum des Geschehens auch auf den Orkneys: die typische Fiddle. Zusätzlich auf der Plus-Seite: die überzeugende Interpretation des Joe-South-Klassikers »Games People Play«. Wer einmal den Enthusiasmus und die positive Verrücktheit der vier Ladies auf der Bühne erlebt hat, dar ist man sicher: Das ist erst der Anfang eines gewiss langen, garantiert erfolgreichen Weges für Fara. Für die Jury: Mike Kamp

Pop

LCD Soundsystem

American Dream. DFA Records/Columbia 889854561024 (Sony)

Nach siebenjähriger Pause ist James Murphys LCD Soundsystem nun wieder ans Netz gegangen. Und wie: Für »American Dream« holte der DJ und Sounddesigner aus New Jersey die DNA der modernen Clubkultur aus dem Gefrierschrank der Musikgeschichte. Wie frisch aufgetaut pulsiert hier die nervöse Unruhe der Talking Heads und dengelt der Furor von Dance-Punkern wie der Gang Of Four; gläsern klar prallt der Klingklong von Kraftwerk auf Glamrock à la Bowie. Diesen musikalischen Vorbildern setzt Murphy ein Denkmal, das er hermetisch gegen den Klangmüll der Gegenwart abriegelt. Ergebnis: ein präzise groovender, ab und an ambient-artiger Electropop-Hybrid, der dynamische Kante zeigt, ohne die Melodie zu scheuen. Für die Jury: Christof Hammer

Hard und Heavy

The Attic

Sanctimonious. Ván Records VAN 220 (Soulfood)

Attic huldigen seit ihrer Gründung im Jahr 2010 unüberhörbar Mercyful Fate und King Diamond, schaffen es aber bereits auf diesem ihrem zweiten Album, deutlich eigene Akzente zu setzen. Die Band aus dem Ruhrgebiet erschafft ein Konzeptalbum, das Freunden des gepflegten Horrors eine nachhaltige Gänsehaut auf den Buckel zaubert. Songs wie »Die Engelsmacherin« oder »The Hound Of Heaven« sind ausgereifte, fernab des Mainstream positionierte Kompositionen mit Nachhaltigkeitswert. Ein außergewöhnliches Cover rundet das kleine Meisterwerk ab. Für die Jury: Marc Halupczok

Alternative

Algiers

The Underside Of Power. Matador/Beggars Group CD 146452 (Indigo)

Die aus Atlanta stammende Band setzt auf ihrem zweiten Album ihren Weg zwischen dunklen Synthesizer-Sounds, Electro-Beats, pushendem Offbeat-Drumming und hartem, verzerrtem, druckvollem Gitarreneinsatz eindrucksvoll fort. Dank des mitreißenden Gesangs von James Fisher wirken die wuchtigen Neo-Gospel-Hymnen für schwarze Seelen immer düster und wie eine Reißleine gespannt. Fishers vokaler Seelenstriptease kommt einer Offenbarung gleich und bezieht mit aufwieglerischer Lyrik Stellung zu bedrückenden Aspekten der Gegenwart wie Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, dem sich einschleichenden Faschismus, und dem Kontrast weißer hedonistischer Eliten zur frustrierten farbigen Arbeiterschicht in den USA. Für die Jury: Götz Adler

Club und Dance

Nick Höppner

Work. Ostgut Ton CD40/LP 26 (www.ostgut.de/label)

Dass der Berliner Technoclub Berghain neben der Philharmonie der schönste Ort der Hauptstadt zum Musikhören ist, dürfte sich herumgesprochen haben. Wie sehr die elektronische Tanzmusik selbst in den vergangenen drei Jahrzehnten auch zu einer ausgefeilten Kunstsprache geworden ist, lässt sich auf Nick Höppners »Work« nachhören. Höppner ist einer der Resident-DJs des Berghain, und auf seinem zweiten Album finden sich Spuren von Electronica ebenso wie Einflüsse der House Music aus Chicago, auch der Spätneunziger-Two-Step schimmert durch. In Chicago war »Work!« ein Tanzflächen-Kommando. Bei Höppner ist es das geblieben – und gleichzeitig zum Werk geworden. Für die Jury: Tobias Rapp

Electronic und Experimental

Cornelius

Cornelius

Mellow Waves. Rostrum WPCL 12660 (Rough Trade)

Kein Pop-Produzent arbeitet so detailbesessen wie Cornelius aus Tokio. Jahrelang hat er an den zehn Songs für sein sechstes Album geschraubt. Jeder Ton ist präzise geformt und platziert. Erstmals setzt Cornelius auf »Waves« die menschliche Stimme nicht als bloßen Klang ein, sondern auch zur Vermittlung von Text, der Englisch und Japanisch vermischt. Am Computer legt er seine Stimme in vielen Spuren zu komplexen Gesangsharmonien übereinander. Dazu spielt er akustische und elektrische Gitarren, Bass, Keyboards und programmiert die elektronischen Beats. Wohlklang dominiert, wechselt sich aber überraschend mit disharmonischen Passagen ab. Die Musik wirkt clean, aber nicht glatt und erinnert insofern an die kunstvollen Arrangements aus der großen Zeit der Beach Boys. Für die Jury: Ruben Jonas Schnell

Blues

Wellbad

The Rotten. Blue Central Records BCR 91004 (Membran)

Wellbad sorgen mit dem urwüchsigen, fast schon archaischen Sound der dreizehn Eigenkompositionen dieses Albums für frischen Wind in der deutschen Bluesszene. Und es handelt sich dabei beileibe nicht nur um ein laues Lüftchen. Daniel Welbats Gesang, der durchaus an Tom Waits erinnert, das kauzige, leicht verschrobene Ambiente, das den Songs so gut tut, und schließlich der lässige Charme, den diese CD von der ersten bis zur letzten Note verströmt – all das ergibt in der Summe ein dem Roots-Blues verpflichtetes Album, das man am liebsten gar nicht mehr aus dem Player nehmen möchte. Hut ab, hier passt wirklich alles. Für die Jury: Karl Leitner

R&B, Soul und Hip-Hop

Jay-Z

4:44. Def Jam 00857491007458 (Universal)

Er hat alles erreicht: Jay-Z ist erfolgreich als Musiker, Schauspieler und Unternehmer, hat mit Beyoncé eine Frau gefunden, um die man ihn weltweit beneidet, eine glückliche Familie, mehrere Kinder – und nun sein dreizehntes Studioalbum herausgebracht. Dabei hatte er doch bereits vor einigen Jahren erklärt, er wolle in Rap-Rente gehen. Mir fällt dazu der Bond mit dem gealterten Sean Connery ein: »Sag niemals nie«! Das Booklet ist ein Fotobuch zum Thema »4:44«, wie ein roter Faden zieht sich dieser Titel durch die Bilder aus New York, Los Angeles, Paris, London, Toronto, Nordkorea und Berlin. Die dreizehn Songs erzählen aus der Familie oder rechnen ab mit der Entourage, und so ist dies sicher das persönlichste und emotionalste Album, das es je von Jay-Z gab. Für die Jury: Jörg Wachsmuth

Wortkunst

Natascha Wodin

Sie kam aus Mariupol. Mit Dagmar Manzel. Regie: Thomas Fritz. argon edition/MDRKultur. ISBN 978-3-8398-1588-5

Eine Familiengeschichte ukrainisch-deutscher Provenienz, politisch hochbrisant in Zeiten wie diesen: mit ihren kontinental weit ausgreifenden Migrationsströmen, erst recht mit der weltweit kriegerisch betriebenen Entwurzelung ganzer Völker. Geschichte wiederholt sich (nicht). Gleichwohl startete die Autorin mit moderner Informationstechnik den Versuch, dem Leben ihrer Mutter und deren Familie auf die Spur zu kommen, die von Mariupol 1943 als nichtjüdische Zwangsarbeiterin nach Leipzig deportiert worden war. Ironie des Schicksals: Sie selbst, 1945 in Fürth geboren, erhielt dort im März 2017 den Preis der Leipziger Buchmesse. »Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe« – dieser Satz der Mutter, der die erlebten Grausamkeiten stalinistischer wie deutscher Verbrechen beredt beschweigt, zieht sich durch den Bericht. Dank Dagmar Manzel wird daraus ein Hördokument von Rang. Für die Jury: Peter Fuhrmann

Kinder- und Jugendaufnahmen

Sonne, Mond und Abendstern

Dorothée Kreusch-Jacob, Klaus Doldinger, Giora Feidman, Kreusch-Family. Argon Audio. ISBN 978-3-8398-4890-6

Alles passt perfekt zusammen bei diesem neuen Klassiker für das abendlich »blaue« Kinderzimmer: die einfühlsame Musik, die phantasievollen Texte, der beruhigende Gesang, die stimmige Instrumentierung. Wer selbst so wunderbare Lieder erschaffen kann wie Dorothée Kreusch-Jacob, der fällt es wahrscheinlich auch leicht, kongeniale, aber weniger bekannte Texte aufzuspüren wie etwa die von Mascha Kaléko, Michael Ende und Wolfgang Borchert. Sie hat für dieses Album namhafte Instrumentalisten wie Giora Feidman und Klaus Doldinger mit ins Boot geholt wie auch einige hochbegabte Musiker und Sängerinnen der eigenen Familie. Jedes einzelne Schlaflied wird so zu einem kleinen Kunstwerk. Traumhaft sind die Illustrationen von Quint Buchholz im Booklet. Für die Jury: Carola Benninghoven

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