Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Franz Schubert: Symphonien Nr. 2 B-Dur D 125 und Nr. 5 B-Dur D 485

Antwerp Symphony Orchestra, Philippe Herreweghe. PHI Records LPH 028 (Outhere Music/Note 1)

Der nach wie vor jugendbewegte, inzwischen siebzigjährige Philippe Herreweghe nimmt die Symphonien des jungen Franz Schubert ernst, ohne sie zu überfrachten. Das spiegelt Aufbruchwillen und Traditionsbewusstsein dieses Komponisten, der durchaus wußte, wo er herkommt und erfolgreich eigene Wege suchte. Herreweghe braucht, um dies darzustellen, kein Spezialistenensemble, sondern nur aufgeweckte und hellwache Orchestermusiker. Selbst der lange erste Satz der Zweiten hat keine Längen, das schwebt und tanzt – diese Schubert-Lesart hat Biss, ohne je verbissen zu wirken. Für die Jury: Rainer Wagner

Orchestermusik und Konzerte

Sergej Prokofjew: Violinkonzerte Nr. 1 D-Dur op. 18 und Nr. 2, g-moll op. 63

Franziska Pietsch, Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Cristian Mācelaru. Audite 97.733 (Naxos)

Franziska Pietsch hat sich in den letzten Jahren als hoch expressiv gestaltende Kammermusikerin profiliert, aus ihren Aufnahmen spricht eine bemerkenswerte künstlerische Individualität. In den Violinkonzerten von Sergej Prokofjew stellt sie die virtuos-geigerischen Effekte und die hoch expressive Lyrik in lebendigen Kontrasten gegenüber. Sie arbeitet Charaktere mit Deutlichkeit heraus und öffnet damit das Ohr für die immense Vielgestaltigkeit der musikalischen Gedanken, die Prokofjew in diese konzertanten Meisterwerken hineingelegt hat. Der Ausdruckswille der Geigerin ist bezwingend, in jeder Phase absolut glaubhaft. Ein Glücksgriff auch der junge rumänische Dirigent Cristian Mācelaru, er bewegt das DSO Berlin zu farbkräftigem Spiel. So runden sich diese Prokofjew-Interpretationen zu einem großen, schlüssigen Ganzen. Für die Jury: Norbert Hornig

Kammermusik

»Es war einmal«

Robert Schumann: Märchenerzählungen op.132 für Klarinette, Viola und Klavier; Fantasiestücke für Klavier und Klarinette op.73; Märchenbilder für Klavier und Viola op.133. Jörg Widmann: Es war einmal… Fünf Stücke im Märchenton für Klarinette, Viola und Klavier. Tabea Zimmermann, Jörg Widmann, Dénes Várjon. Myrios Classics MYR 020 (harmonia mundi)

Es war einmal, als alles noch unschuldig war und das Gute das Böse stets besiegte: die Märchenzeit. Im Leben schaffte Robert Schumann es nicht, diesem Augenblick erfolgreich ein »Verweile doch!« zuzurufen, wohl aber in seiner Kunst. Auch wenn er seine Stücke nicht immer so nannte, hat seine Musik doch immer etwas Märchenhaftes, und da er die Bratsche besonders liebte, wurde Tabea Zimmermann eine seiner besten Interpretinnen. Die vorliegenden Werke hat sie mehrfach eingespielt, aber nie in so dunkel-glühenden Farben. Der Klarinettist Jörg Widmann und der Pianist Dénes Várjon folgen errötend ihren Spuren. Und Widmann folgt auch als Komponist dem Komponisten: Sein Klaviertrio, hier erstmals eingespielt, nimmt im heutigen Jargon diesen Märchenton auf, umspielt ihn, spinnt ihn fort. Für die Jury: Thomas Rübenacker

Tasteninstrumente

Dmitry Masleev – Scarlatti

Domenico Scarlatti: Sonaten K 27, K 466, K1, K 141, K 32; Sergej Prokofjew: Sonate Nr. 2 d-moll op.14; Dmitri Schostakowitsch: Klavierkonzert Nr. 2 F-Dur op. 102. Dmitry Masleev, Tatarstan National Symphony Orchestra, Alexander Stadkovsky. Melodyia MEL 1002517 (Naxos)

Der Gewinner des Tschaikowsky-Wettbewerbs im Jahr 2015 legt hiermit seine erste CD vor. Das Programm ist mit Sonaten von Scarlatti und Prokofjew sowie dem zweiten Klavierkonzert von Schostakowitsch ungewöhnlich. Durch die ausgewählten Scarlatti-Sonaten bewegt sich Dmitry Masleev mit katzenartiger Agilität. Tonwiederholungen bohrt er nicht maschinenstur in die Tasten, sondern lässt sie wunderbar vibrieren – spielerisch und nervös zugleich. Die zweite Sonate von Prokofjew ist eine andere Welt, sie verlangt andere stilistische Mittel – und dennoch wählt Masleev einen vergleichbaren Ansatz. Er nutzt das Klavier auch in perkussiven Momenten nicht als Schlaginstrument. Selbst wenn die Rhythmen starr rütteln – Masleev vermittelt immer zugleich die Botschaften dahinter: Wärme, Provokation und beißenden Humor. Für die Jury: Christoph Vratz

Tasteninstrumente

Johann Sebastian Bach: Choralpartiten

Johann Sebastian Bach: Choralpartiten BWV 766-770, Präludien & Fugen BWV 531, 533-536, 541, 544, 549-551. Anna Pikulska an der Silbermann-Orgel St.Marien zu Freiberg, Sachsen und an der Trost-Orgel Stadtkirche Waltershausen. Organum 702011 (harmonia mundi)

Es ist Freude pur, wenn eine Produktion höchstes interpretatorisches Niveau mit besonderer dokumentarischer Leistung verbindet. Der jungen polnischen Organistin Anna Pikulska gelingt dies exemplarisch mit ihrem neuen Doppel-Album. Es bietet – dank eines klug ausgewählten Repertoire-Querschnitts und des herausragenden, wissenschaftlich fundierten Booklet-Textes – einen innovativen Blick auf die Bach-Forschung im Bereich Orgel. Zwei bedeutende Instrumente aus Bachs Lebensraum sind zu hören: die Trost-Orgel der Stadtkirche in Waltershausen sowie die berühmte Silbermann-Orgel im Freiberger Dom. An der Entstehung dieser Instrumente war Bach zwar nicht beteiligt, doch schätzte er nachweislich beide Orgelbauer sehr. Pikulska entlockt den Orgeln mit Stilsicherheit und gestalterischer Fantasie ein Maximum an individuellen Klangvarianten. Für die Jury: Sabine Fallenstein

Oper

Antonio Vivaldi: Dorilla in Tempe

Romina Basso, Marina de Liso, Serena Malfi, Lucia Cirillo, Sonia Prina, Christian Senn, Coro della Radiotelevisione svizzera, I Barocchisti, Diego Fasolis. Naïve OP 30560 (Indigo)

Die Fortsetzung der berühmten »Vivaldi-Edition« beim Label Naïve, um die es mit den Jahren still geworden war, bietet in Gestalt von »Dorilla in Tempe« nun mehr als Grund zum Feiern: Sie grenzt an ein Wirtschaftswunder. Angekommen bei Volume 55, widmet man sich einer Hybrid-Form, dem »Melodramma erocio-pastorale«. Dieses war immerhin so erfolgreich, dass Vivaldi das Werk mehrfach wieder aufnahm. Mit Diego Fasolis steht ein Dirigent zur Verfügung, der seine Sänger zwiebelt und triezt, ohne dass die thessalische Königstochter zärtlich von ihrem Schäfer lässt. Romina Basso lüftet ihr Brustregister herzerquickend. Abgesehen vom König sind hier nur Mezzosoprane am Werk, wodurch man sich auch als Zuhörer hoffnungslos in die Liebeshändel verstrickt. Bleibt die Edition bei den knapp fünfzig bekannten Vivaldi-Opern, so wäre dies noch nicht einmal Halbzeit. Weiter so! Für die Jury: Kai Luehrs-Kaiser

Oper

Hector Berlioz: Les Troyens

Joyce DiDonato, Marie-Nicole Lemieux, Marianne Crebassa, Michael Spyres, Stéphane Degout, Cyrille Dubois, Philippe Sly, Richard Rittelmann, Stanislas de Barbeyrac, Bertrand Grunenwald, Agnieszka Slawinska, Jean Teitgen, Hanna Hipp, Nicolas Courjal, Jerôme Varnier, Frédéric Caton, Les Chœurs de l’Opera national du Rhin, Badischer Staatsopernchor, Chœur & Orchestre philharmonique de Strasbourg, John Nelson. Erato 9029576220 (Warner)

Das Opus summum »Les Troyens« von Hector Berlioz liegt in einer Reihe exzellenter Aufnahmen vor, etwa unter Leitung von Colin Davis oder Charles Dutoit. Diese Neueinspielung mit dem Orchestre Philharmonique de Strasbourg und John Nelson wurde live in bei zwei konzertanten Aufführungen mitgeschnitten, sie besitzt den Vorzug der Vitalität. Das Orchester und die Chöre aus Straßburg und Karlsruhe klingen französisch schlank und hell. Joyce DiDonato als Dido, Marie-Nicole Lemieux als Cassandre und vor allem der herausragende Michael Spyres als Enee treffen den spezifischen Stil der Musik von Berlioz besser als ihre Vorgänger. Für die Jury: Robert Braunmüller

Chor und Vokalensemble

György Ligeti: Requiem

György Ligeti: Requiem, Lux aeterna; Clytus Gottwald: Transkriptionen von Werken Claude Debussys, Gustav Mahlers & Maurice Ravels. Gabriele Hierdeis, Renée Morloc, Kammerchor Stuttgart, Danubia Orchestra Óbuda, Frieder Bernius. Carus 83.283 (Note 1)

Mit gut zehn Jahren Verspätung kam dieser Mitschnitt einer Aufführung von György Ligetis Requiem mit Frieder Bernius und seinem Kammerchor Stuttgart endlich auf den Markt – es ist eine Referenzaufnahme! Bernius gelingt es, die Mikrotonalität des Mitte der sechziger Jahre entstandenen, gewaltigen Stücks so fein auszuarbeiten, dass sie wirkt wie ein Wechsel von einander anziehenden und abstoßenden Kleinstpartikelchen aus Klangfarbe und Dynamik. Zuweilen geht die Detailarbeit so weit, dass die Klangflächen alles Statische verlieren: Was andernorts nur hübsch schillernd herumliegt, beginnt hier zu atmen, ja manchmal gar zu tanzen, und weit spannt sich das Spektrum von tiefer Stille bis zum durchdringenden Schrei. Die Solistinnen Gabriele Hierdeis und Renée Morloc wie auch das punktgenau spielende Danubia Orchestra Óbuda fügen sich passgenau ein. Für die Jury: Susanne Benda

Klassisches Lied und Vokalrecital

Franz Schubert: Die schöne Müllerin

Christian Gerhaher, Gerold Huber. Sony 88985427402

Vierzehn Jahre ist es her, dass Christian Gerhaher mit seinem symbiotischen Klavierpartner Gerold Huber »Die schöne Müllerin« erstmals eingespielt hat. Bei dieser bestechenden Neuaufnahme verfolgen wir erneut den von ihnen so intensiv wie distanziert geschilderten Weg eines Liebeskranken in den Freitod. Klanglich zeichnet es sich schon in den ersten Liedern ab – und führt auf seine Weise ins Licht: Gerhahers Lebensmüder ist am Ende mit sich im Reinen. Heller und ungedeckter, auch ironischer, offensiver gestaltet er inzwischen, auch rezitiert er zwischen den Schubert-Liedern die nicht vertonten Müller-Texte. Erlebbar wird so das vielleicht Schwierigste überhaupt: Singen als natürliche, stufenlose Verlängerung des reflektierten Sprechens. Für die Jury: Markus Thiel

Alte Musik

Händel | Bach – Dixit Dominus | Magnificat

Johann Sebastian Bach: Magnificat BWV 243; Georg Friedrich Händel: Dixit Dominus HWV 232. Vox Luminis, Lionel Meunier. Alpha 370 (Note 1).

Das belgische Ensemble Vox Luminis bürstet die Musik nicht gegen den Strich, sondern lotet ihren Gehalt mit großem Respekt und hoher Sensibilität aus. An Details wie der differenzierten Aussprache des Kirchenlateins (in Bachs »Magnificat« deutsch, in Händels »Dixit Dominus« italienisch) oder dem Einsatz einer großen Kirchenorgel als Continuoinstrument wird deutlich, wie sorgfältig sie den jeweiligen historischen Kontext der Stücke berücksichtigen. Mit zwei Sängern pro Stimme und einem entsprechend kleinen Streicherapparat gelingen ihnen eine beeindruckende kammermusikalische Transparenz und ein breites Spektrum an Artikulationsnuancen. Zugleich kommt in dem luxuriösen Gesamtklang und dem souveränen Gestus ihrer Interpretation sehr gut zur Geltung, dass es sich hierbei um wirklich »große« Musik handelt, um Meilensteine barocker Sakralmusik. Für die Jury: Matthias Hengelbrock

Zeitgenössische Musik

Julius Eastman: The Zürich Concert

New World Music 80797 (Klassik Center Kassel)

Der New Yorker Julius Eastman, Jahrgang 1940, ein studierter Pianist, Komponist und Tänzer, machte sich zu Lebzeiten den größten Namen als Sänger, er war Kultfigur unter Komponisten und Sängern im New York der späten siebziger Jahre – doch nach seinem Tod im Jahre 1990 für lange Zeit völlig vergessen. 1980 hatte er in Zürich ein Konzert gegeben, eine siebzigminütige Nonstop-Soloimprovisation am Flügel, die ein Freund auf Kassette mitschnitt. Das New Yorker Label New World Records hat diese Aufnahme nun veröffentlicht und zeigt uns damit den composer/performer Eastman mit einem Auftritt, dem sich wohl niemand entziehen kann. Orchestrale Klangkaskaden voller Power und Energie mit ekstatischen Auswüchsen wechseln mit poetischen Feinheiten. Mit diesem Album wird Julius Eastman in ein neues Licht gerückt. Für die Jury: Marita Emigholz

Historische Aufnahmen

Alfredo Campoli – Milestones of a Legend

Werke von Beethoven, Elgar, Mendelssohn Bartholdy, Paganini, Tschaikowsky u.a. Campoli, London Philharmonic Orchestra. Documents 600443 (Intense Media)

In den siebziger Jahren traf der Musikwissenschaftler Knut Franke mit seinem Überraschungsruf »Der Mann ist ja ein musikalisches Chamäleon!« ins Schwarze, was die wichtigsten Merkmale Alfredo Campolis als Geiger und Musiker betrifft. Die vorliegende Box vermittelt ohne Frage Eindrücke, die ihn als einen der eigenständigsten musikalischen Gestalter aufzeigen. Besonders charakteristisch ist seine unglaubliche breite Farbpalette, die sehr oft überraschend eingesetzten Klangnuancen, die stilistische Prägnanz, sein Umgang mit Bewegungsenergie – kurzum: die Fähigkeit, der Musik Leben einzuhauchen. Für die Jury: Wolfgang Wendel

Grenzgänge

Jon Balke: Nahnou Houm

Ensemble Siwan, Mona Boutchebak, Derya Turkan, Helge Norbakken, Pedram Khavar, Zamini, Barokksolistene. ECM 2572 (Universal)

Es ist ein Brückenschlag zwischen Orient und Okzident, den der Pianist und Komponist Jon Balke unternimmt. Entsprungen ist die Idee seiner Sehnsucht nach Al Andalus, wie die Mauren ihr Andalusien nannten, unter deren Herrschaft in Spanien eine Koexistenz zwischen den Kulturen bestand. Diesen Spuren geht Balke in arabischen und spanischen Dichtungen des 12. bis 17. Jahrhundert zusammen mit der versierten Vokalistin Mona Boutchebak musikalisch nach, um sie auf orientalischen und europäischen Instrumenten feinsinnig zu vergegenwärtigen. Der Titel »Nahnou Houm«, zugleich Programm und zentrales Stück, bedeutet soviel wie »Wir sind sie«. Balke setzt so seine Spurensuche fort, die mit Siwan 2009 begann – damals mit dem Jahrespreis des PdSK ausgezeichnet.»Nahnou Houm« bietet elf traumhaft schöne Stücke voll delikater Klänge und Anklänge dar: ein Traum von Al Andalus. Für die Jury: Heinz Zietsch

Filmmusik

The Film Scores & Original Orchestral Music of George Martin

The Berlin Music Ensemble, Craig Leon. Atlas Recordings ARCD008 (PIAS/Rough Trade)

Der im Jahr 2016 verstorbene Sir George Martin war nicht nur der »fünfte Beatle« und maßgebliche Entdecker der Beatles. Er war auch Musiker, Komponist und Arrangeur. Der Beatles-Streifen »Yellow Submarine« anno 1968 wurde seine erste große Filmmusik. Sie eröffnet als »Pepperland Suite« das vorliegende Album und verrät einiges über den Eklektiker George Martin, der lebenslang ein Fan der Musik Claude Debussys gewesen ist, aber gleichzeitig auch für Hitchcocks Hauskomponisten Bernard Herrmann schwärmte und ein Faible hatte für Schostakowitsch und Prokofjew. All diese Elemente werden hörbar auf dem vorliegenden George-Martin-Album, exzellent dargeboten vom Berlin Music Ensemble unter der Leitung von Craig Leon. Für die Jury: Matthias Keller

Musikfilm

Midori Plays Bach

Johann Sebastian Bach: Sonaten & Partiten BWV 1001-1006 für Violine Solo. Live auf Schloß Köthen. Ein Film von Andreas Morell. DVD Accentus ACC ID403 (harmonia mundi)

Die Frage nach dem Aufführungsort ist für die Geigerin Midori zwar nicht vorrangig, um der Interpretation großer Musik Authentizität zu verleihen. Für ihre DVD-Produktion mit Johann Sebastian Bachs sechs Sonaten und Partiten für Violine solo hat sie sich gleichwohl sehr bewusst für das Schloss Köthen als »Aufnahmestudio« entschieden: ein auratischer Ort, an dem Bach intensiv just an diesen Werken gearbeitet hat. Die Qualität von Midoris Bach-Spiel konnte man schon in einer vorher entstandenen Audio-Aufnahme bewundern, nun kommt der visuelle Aspekt hinzu, der den Höreindruck noch einmal vertieft. Weil Midori sich das Schloss regelrecht erwandert, erlebt man statt einer abgefilmten Konzertsituation etwas völlig Neues. Neben ihrem makellosen Spiel macht dieser Aspekt den hohen Reiz der im August 2016 unter der Regie von Andreas Morell entstandenen DVD-Produktion aus. Für die Jury: Bernhard Hartmann

Musikfilm

You’ll Never Walk Alone

Die Geschichte eines Songs. Ein Film von André Schäfer. Joachim Król, Campino, Thomas Hengelbrock, Jürgen Klopp, Gerry Marsden. DVD mindjazz pictures 6417773 (Alive)

Die Fußballhymne schlechthin. Sie stammt aus einem amerikanischen Musical, das auf einem ungarischen Theaterstück basiert. Von Fußball ist keine Rede, dafür von »Kopf hoch«, »Keine Angst« und »Geh voran!« Schauspieler und Fußballfan Joachim Król begibt sich auf eine Reise nach den Wurzeln von »You’ll Never Walk Alone« und den Geschichten, die sich um diesen Song ranken. Sie führt ihn nach Budapest und Wien, New York und Los Angeles, Liverpool und Dortmund, wo er mit Künstlern, Fans und Fußballprofis ausleuchtet, was die Hymne so einzigartig macht. Ein Film über die verbindende Kraft eines Liedes und die Power gemeinsamen Singens. Für die Jury: Berthold Klostermann

Jazz

New Old Luten Quintet: Letzter Rabatz!

Ernst-Ludwig Petrowsky, Elan Pauer, John Edwards, Robert Landfermann, Christian Lillinger. Euphorium Records EUPH 057

Das Wunder des Spätwerks – hier entfaltet es sich mit eruptiver Kraft, sprudelnder Kreativität und exzessiver Energie. Drei Jahre in Folge, von 2013 bis 2015, war der Saxophonist Ernst-Ludwig Petrowsky bei der von Oliver Schwerdt kuratierten Konzertreihe in Leipzig zu Gast. 2015, kurz nach Petrowskys 82. Geburtstag, traf der Altmeister erneut mit dem Pianisten Elan Pauer (alias Oliver Schwerdt), den beiden Kontrabassisten John Edwards und Robert Landfermann sowie dem Schlagzeuger Christian Lillinger zusammen. Im spontanen, ebenso sensiblen wie herausfordernden Zusammenspiel steigerte sich das Quintett in Gefilde von flammender Intensität. Für die am gleichen Abend eingespielten Euphorium-CDs »Radau!« und »Remmidemmi!« bildet »Letzter Rabatz!« den Abschluss einer einzigartigen Trilogie. Für die Jury: Bert Noglik

Weltmusik

Tania Saleh: Intersection

Kirkelig Kulturverksted FXCD 440 (Indigo)

Engagierte arabische Lyrik und traditionsbewusste nahöstliche Melodien begegnen vielschichtiger Elektronik und pointiert eingesetzten Samples: Der libanesischen Sängerin Tania Saleh und ihrem erfindungsreichen Sounddesigner Khalil Judran ist ein Album von herausfordernder Schönheit geglückt. Das Beiheft, mit allen Liedtexten, bietet Einblicke in die politisch hintersinnigen, öffentlichen Wandmalereien der Künstlerin Saleh sowie den Link zu einem Film, der die bemerkenswerte Entstehungsgeschichte von »Intersection«, in Zusammenarbeit mit Produzent Erik Hillestad, als Gesamtkunstwerk erzählt. Für die Jury: Jürgen Frey

Traditionelle Ethnische Musik

Maya Youssef: Syrian Dreams

Maya Youssef, Barney Morse-Brwon, Sebastian Flaig, Attab Haddad. harmonia mundi HMM 902 349

Eine Handvoll Perlen, ausgeschüttet in der Ruine eines in Schutt gebombten Hochhauses, Reichtümer und Köstlichkeiten im Schmutz, Hubschrauber-Drohungen über verlassenen Straßen: das sind Bilder, die sich ungefragt einstellen beim Hören der »Syrian Dreams« von Maya Youssef. Gebürtig in Damaskus, lebt sie heute in London. Als Kind hatte sie sich in den Klang des Kanun verliebt, einer Zither, die in der arabischen Musik ähnlich zentral ist wie in Europa das Klavier. Dass Mädchen das Kanun nicht spielen sollten, hinderte sie nicht, eine bedeutende Virtuosin zu werden. Ihre Musik spielt mit Traditionen und Stilen, durchaus ironisch, manchmal betroffen. Ihre Überzeugung, dass Musik die Bilder des Todes zu bannen, Traumata zu heilen vermag, setzt sie in ihren Konzerten und in der Theaterarbeit mit syrischen geflüchteten Kindern um. Ganz ohne Worte spricht »Syrian Dreams« von der Hoffnung auf den Sieg der Schönheit über den Tod. Für die Jury: Hanni Bode

Liedermacher

Manfred Maurenbrecher: flüchtig

Reptiphon Rep 047 (Broken Silence)

Wieder einmal gelingt es Manfred Maurenbrecher mit seiner ebenso poetischen wie gnadenlos entlarvenden Sprache, den Nerv der Zeit zu treffen. Hier singt er über Flucht und das Flüchten in den unterschiedlichsten Formen. Wir sind alle ständig unterwegs, körperlich wie gedanklich. Hoffentlich, möchte man in letzterem Fall nur sagen. Veränderung zeichnet unser Leben aus. Wenn wir uns verändern möchten, dann machen wir das freiwillig. Zumindest meistens. So auch Maurenbrecher, wenn er hier von seinen eigenen Reisen erzählt. Aber Andere, wie Herr Saleh aus Homs im unvergleichlich präzisen Lied »zu früh«, haben gar nicht die Wahl. Sie müssen sich verändern, sie müssen flüchten, um überhaupt leben zu können. Hier geht es nicht um den feinen Luxus des Reisens, hier geht es um existenzielle Fragen. Für die Jury: Hans Reul

Folk und Singer/Songwriter

Daniel Kahn & The Painted Bird: The Butcher’s Share

Oriente Musik RienCD91 (Fenn)

Klezmer ist populär, ganz ohne Frage! Die Musik der osteuropäischen Juden wird manchmal etwas shtetl-seelig präsentiert, doch es gibt viele Erneuerer. Kaum jemand bringt diese Musik textlich und musikalisch so nachhaltig auf den aktuellen Stand wie der mittlerweile in Berlin lebende jüdische Amerikaner Daniel Kahn mit seiner Band The Painted Bird. Auf seiner fünften CD »The Butcher’s Share« ist er radikaler und punkiger denn je. Mit Gitarre, Klavier, Akkordeon, Geige, Schlagzeug, Kontrabass, Klarinette, Saxofon und Posaune kommt Kahn immer genau auf den meist politischen und gleichzeitig poetischen Punkt und zwar in Deutsch, Jiddisch und Englisch, mit Eigenkompositionen und Gedichtvertonungen. Das ist beste Tradition für das Heute – und auch nicht seine erste Auszeichnung durch den PdSK! Für die Jury: Mike Kamp

Pop

Kelela: Take Me Apart

Warp Records WARP 287 (Rough Trade)

Die amerikanische Produzentin Kelela hebt Popmusik auf ein neues Level. Indem sie radiotauglichen R&B mit zerklüfteter Elektronik grundiert und sinnlich darüber hinwegfließende Gesangsmelodien mit verschleppten Beats zum Kentern bringt, entstehen schizophrene Momente voll wärmendem Trost und kalter Entfremdung. Ihr Debütalbum lässt sich in HipHop-, Grime-, House- und Trap-Elemente zerlegen, enthält aber auch Anleihen bei Gospel, Soul und Jazz. In ihren Texten will Kelela vor allem die »komplexe und verschachtelte« Lebenswirklichkeit schwarzer Frauen abbilden, einer Minderheit innerhalb einer Minderheit. Experimentierfreude, Sendungsbewusstsein und ein Gefühl für große Melodien wurden im Pop schon lange nicht mehr so vereint wie auf diesem Album.
(Für die Jury Pop: Fabian Peltsch)

»Future« R&B wäre ein treffender Begriff für Kelelas Soul mit elektronischen Mitteln: Die Songs der vierunddreißigjährigen Los Angelina mit äthiopischen Wurzeln klingen entschlossen modernistisch-synthetisch, aber warm und körperfreundlich. Man hört ihre Jazz- und Rockerfahrung im Gesang. Die fremdartige und weiträumige Bass-Architektur des Albums konnte man schon auf den vorangegangenen Mixtape »Cut 4 Me« und der EP »Hallucinogen« kennenlernen. Unterstützt wird Kelela von clubgeprüften, experimentierfreudigen Produzenten wie Jam City vom Londoner Night Slugs-Label, dem Björk-Mitarbeiter Arca und dem Pop-Alleskönner Ariel Rechsthaid. Aber das schönste Mittel der Musik ist die geschmeidige Eleganz der Stimme.
(Für die Jury R’n’B, Soul & HipHop: Markus Schneider) Für die Jury: Fabian Peltsch & Markus Schneider

Dieser Titel gewann sowohl in der Jury Pop als auch in der Jury R&B, Soul, HipHop.

Rock

JD McPherson: Undivided Heart And Soul

New West Records NW6370 (PIAS)

Er arbeitet hart an der Erneuerung des Rock ’n’ Roll. Dabei gelingt JD McPherson das Kunststück, sowohl die den Roots verhaftete Revival-Szene für sich einzunehmen wie auch dem modernen, um Vitalität ringenden Rock Substanz und Vision zu geben. Seine Wurzeln hat er im Rock der fünfziger und sechziger Jahre, mit seinem Amalgam aus R & B, Rockabilly und Pop. Er bereichert dies um Soul-, Louisiana-Blues- und Country-Elemente und platziert sie mittels moderner und zugleich vergangenheitsbewusster Produktionsweise in der Gegenwart. Liest sich wie eine Quadratur des Kreises, funktioniert aber perfekt. Frisch umgezogen von Oklahoma, nach Nashville, Tennessee, hat McPherson dieses Album im historischen RCA-Studio B aufgenommen, wo Elvis Presley und Roy Orbison nebst anderen den Nashville Sound begründeten. Die Versöhnung der Gegenwart mit der Vergangenheit ist ihm bestens gelungen. Für die Jury: Christine Heise

Alternative

Mount Kimbie: Love What Survives

Warp Records WARP 288 (Rough Trade)

Seit ihrem Debüt 2010 als Mount Kimbie gehören die beiden Musiker Kai Campos und Dominic Marker zu den ungewöhnlichsten, fortschrittlichsten Produzenten in der elektronischen Musikszene Großbritanniens. Das zuweilen gemächliche Tempo und die dichte Atmosphäre waren vor acht Jahren höchst außergewöhnlich für Clubmusik. Auf Mount Kimbies drittem Album »Love What Survives« kommen jetzt Gitarre und Schlagzeug hörbar und zum Teil ziemlich krachig zum Einsatz. Die »punkige, schloddrige Qualität« (Kai Campos) auf »Love What Survives« ist zum Teil durchsetzt von dissonant-bedrohlichen Klängen. Noch immer lässt sich die Arbeit von Mount Kimbie keiner Schublade zuordnen – Dominic Marker versuchte es kürzlich in einem Interview mit dem Begriff »geistesgestörter Pop« – wir verstehen das im allerbesten Sinne! Für die Jury: Jumoke Olusanmi

Club und Dance

Four Tet: New Energy

Text Records TEXT 046CD (Indigo)

Als Four Tet hat Kieran Hebden die Clubmusik der letzten knapp zwanzig Jahre geprägt. Auf seinem neuen Album schöpft er nun aus dem Vollen der diversen Stile und Sounds, die er dabei bereits ausgelotet hatte. Er gibt viel Chill-Out Flächen und Downtempo Beats, aber auch Bewegendes im House-Format. Die Energie speist sich vor allem aus minutiös konstruierten Sample-Texturen, die ein Spektrum abdecken, das von altmodischen analogen Synthesizern und vormodernen folkloristischen Instrumenten bis zu weit gereisten Musikmitbringseln aus fernen Ländern reicht. Hebden zeichnet damit ein Klangbild, das gleichzeitig Sehnsucht nach einer romantisierten Vergangenheit abbildet, wie auch Fluchtgedanken in eine futuristische Fantasiewelt. Für die Jury: Christian Tjaben

Electronic und Experimental

Björk: Utopia

One Little Indian/Embassy of Music 5054197926921 (Warner)

Die isländische Sängerin und Musikerin Björk hat sich für ihr elftes Soloalbum eine wirklich paradiesisch klingende Utopie ausgedacht; selbst die Pausen zwischen den Stücken sind erfüllt vom Zwitschern exotischer Vögel. Es ist der Versuch, die Welt liebevoll zu umarmen, mit Folkmelodien und elektronischen Klanglandschaften, die sich wie lebendige Organismen aus einem sehr fremden Universum anhören. Neben dem venezolanischen Produzenten Alejandro Ghersi, besser bekannt als Arca, hat auch ein zwölfköpfiger isländischer Flötenchor daran mitgewirkt. In »Loss« erinnert Björks Stimme an die Hippie-Ikone Vashti Bunyan, und es scheint hier um all das zu gehen, was langsam aber sicher aus unserem Leben und von diesem Planeten verschwindet. Schöner kann man die Sehnsucht nach einer besseren, unschuldigeren Welt nicht artikulieren. Für die Jury: Jürgen Ziemer

Blues

The Sherman Holmes Project: The Richmond Sessions

M.C. Records MC-0082 (in-akustik)

Der letzte Überlebende der Holmes Brothers hat mit achtundsiebzig Jahren sein erstes Soloalbum vorgelegt. Hätte das Schicksal noch eine weitere Veröffentlichung in Triobesetzung zugelassen, hätte man es sich genau so gewünscht. Hier verbeugt sich ein großartiger Musiker ganz tief vor seinen ehemaligen Begleitern und schaut gleichzeitig voller Tatendrang in die Zukunft. Man spürt all seine Erfahrung, seine Reife und bei aller Wehmut auch die Zuversicht und die Hingabe zur Musik, der Liebe seines Lebens. Was für ein anrührendes, grundehrliches Album, was für zeitlos schöne Songs! Shermans schmerzlich vermisste Kollegen könnten stolz auf ihn sein. Für die Jury: Karl Leitner

Wortkunst

Daniel Kehlmann: Tyll

Gelesen von Ulrich Noethen. Argon Verlag ISBN 978-3-8398-1604-2

Mit diesem Roman erleben wir Daniel Kehlmann wieder in Bestform: Inspiriert vom »Simplicissimus« überträgt der Autor die Geschichten der Schelmenfigur Till Eulenspiegel aus dem Mittelalter in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Mit erfundenen und historischen Figuren – darunter auch dem »Winterkönig« Pfalzgraf Friedrich V. und Elizabeth Stuart – evoziert er das vielperspektivische Bild einer düsteren Zeit, in der Hexenjagd, Folter, Plünderungen und Mord an der Tagesordnung waren. Doch nicht nur der Roman an sich ist hoch zu loben, auch der Interpret Ulrich Noethen – gerne als Sprecher eingesetzt für die großen Romane der Weltgeschichte. Für alle Mitwirkenden findet er die jeweils markante Stimme, ohne je zu überziehen. So bringt er uns das düster-sarkastische Theater als vielstimmigen Menschenchor so zu Gehör, dass man gebannt CD nach CD einlegt. Für die Jury: Dorothee Meyer-Kahrweg

Kinder- und Jugendaufnahmen

Peter Wohlleben: Hörst du, wie die Bäume sprechen? Eine kleine Entdeckungsreise durch den Wald

Gesprochen von Hanna Khallaf, Leah Knapp, Hans Löw, Frida Löw, Birk von der Lieth, Antonia Weber. Regie: Frank Gustavus. Oetinger Audio ISBN 978-3-8373-1031-3

Können Bäume tatsächlich miteinander kommunizieren, um sich, zum Beispiel, vor Feinden zu warnen? Was lernen Baumkinder in der Baumschule? Und warum mögen Bäume Hunde nicht? Peter Wohlleben, Deutschlands derzeit wohl bekanntester Förster, nimmt uns mit auf einen unglaublich spannenden Spaziergang durch den Wald und verrät uns Verblüffendes über Bäume, aber auch über kleine und größere Waldbewohner, über Vögel, Insekten, Wildschweine…. Als überaus überzeugender Wald-Botschafter weiß er so anschaulich vom Wald zu erzählen, dass man gar nicht genug davon bekommen kann. Das wurde hervorragend gesprochen von Hans Löw, auch angenehm mit Geräuschen und Kinderstimmen abgemischt, und ist so ein rundum gelungenes Hörbuch für die ganze Familie geworden. Für die Jury: Juliane Spatz

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