Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

NEU: Longlist 4/2024, veröffentlicht am 5. Oktober 2024

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Bruckner: Symphonie Nr. 7 – Nelsons

Anton Bruckner: Symphonie Nr. 7 E-Dur, Richard Wagner: Siegfrieds Tod (Trauermarsch) aus »Götterdämmerung«. Gewandhausorchester Leipzig, Andris Nelsons. Deutsche Grammophon 479 8494 (Universal)

Seit Andris Nelsons im Februar 2018 sein Amt als Gewandhauskapellmeister angetreten hat, hängt am Leipziger Augustusplatz der Himmel voller Geigen. Die neue Aufnahme von Anton Bruckners siebter Symphonie, live zur Zeit der Amtseinführung entstanden, bestätigt das nachdrücklich. Wenn im Kopfsatz die vier Hörner mit ihrem leisen E-Dur-Akkord ins Hauptthema eintreten, geschieht das traumhaft präzise und wunderbar geschmeidig – schon deutet sich an, welch phänomenales Niveau die Interpretation erreicht. Die Musik Bruckners findet zu natürlichem Atmen, klanglicher Wärme und blendendem Reichtum der Instrumentalfarben. Nelsons ist kein Bilderstürmer, einen neuen Horizont der Bruckner-Deutung reißt er nicht auf. Die liebevolle Sorgfalt, mit der er sich Bruckner zuwendet, setzt aber in ihrer Weise Maßstäbe. Für die Jury: Peter Hagmann

Orchestermusik und Konzerte

Aram Khachaturian & Krzysztof Penderecki: Cello Concertos

Astrig Siranossian, Sinfonia Varsovia, Adam Klocek. Claves 50-1802 (Klassik Center Kassel)

Diese Neueinspielung von Aram Khachaturians einzigem und Krzysztof Pendereckis zweitem Cellokonzert verbindet süffige Dichte mit bemerkenswerter Klarheit und theatrale Gesten mit heftigen Wallungen. Die Gegenüberstellung der beiden so unterschiedlichen Werke – ersteres 1946 von Swjatoslaw Knuschewitzky, letzteres 1982 von Mstislaw Rostropowitsch uraufgeführt – unterstreicht aber auch Gemeinsamkeiten: einen starken Sinn fürs Dramatische, den Genuss am Melodischen und martialisch-morbide Untertöne. Während Adam Klocek der Sinfonia Varsovia einheizt, (deren künstlerischer Leiter Penderecki ist), reizt die junge französisch-armenische Cellistin Astrig Siranossian Affekte aus, ohne die virtuose Kontrolle zu verlieren. Für die Jury: Wiebke Roloff

Kammermusik

Solo – Emmanuel Pahud

Werke für Soloflöte von Georg Philipp Telemann, Marin Marais, Carl Nielsen, Edgard Varèse, Arthur Honegger, Luciano Berio, Siegfried Karg-Elert, Pierre-Octave Ferroud, Robert Helps, Toru Takemitsu, Arvo Pärt, Matthias Pintscher und Jörg Widmann. Emmanuel Pahud. 2 CDs, Warner Classics 0190295701758 (Warner)

Für Flötisten sind das 18. und das 20. Jahrhundert epochal, als die Ära einerseits der Travers-, andererseits der Metallflöte. Beide Jahrhunderte präsentiert Emmanuel Pahud, Soloflötist der Berliner Philharmoniker, in der fabelhaften Programmdramaturgie seines Solo-Albums. Dabei bilden die »Zwölf Fantasien« von Georg Philipp Telemann eine Art Refrain im Wechsel mit ausgewählten, teils selten gespielten Stücken neueren Datums, und zugleich lädt Pahud ein auf eine kleine musikalische Weltreise. Man kann sich diesem Steuermann blind anvertrauen! Er beherrscht sein Metier wie kaum ein anderer Flötist, bezwingt souverän jede Schwierigkeit und betört mit seinem in allen Lagen perfekt ausbalancierten Flötenton. Klangschönheit ist Pahuds Credo. Nicht nur für Flötisten gilt daher: Must have! Für die Jury: Lotte Thaler

Tasteninstrumente

Olivier Messiaen: Catalogue d’Oiseaux

Pierre-Laurent Aimard. 2 SACDs, Pentatone PTC 5186 670 (Naxos)

Messiaens »Vogel-Katalog« ist einer der Achttausender der Klavierliteratur. Pierre-Laurent Aimard bezwingt ihn trittsicher und konditionsstark, er bewältigt die gut zweieinhalbstündige Tour de force, in der insgesamt 77 der Lieblingsvögel des Hobby-Ornithologen Olivier Messiaen ihren Auftritt haben, hochkonzentriert, mit bravourösem Zugriff. Prickelnd genau die rhythmische Detail-Zeichnung, enorm die dynamische Spannweite, faszinierend fein abgestuft die Differenzierungen innerhalb der komplex geschichteten Akkorde, von kristalliner Klarheit die den Gesang der Vögel imitierenden Rouladen. Aimards Wissen stammt aus erster Hand: Er war einst quasi der Ziehsohn des Komponisten sowie der Pianistin Yvonne Loriod, Ehefrau und erster Interpretin Messiaens. Und macht nun seinen »Eltern« alle Ehre. Für die Jury: Kalle Burmester

Tasteninstrumente

Bach Gulda Clavichord – The Mono Tapes

Bach Gulda Clavichord – The Mono Tapes

Johann Sebastian Bach: Wohltemperiertes Klavier, Bd 2: 6 Präludien und Fugen, Englische Suite Nr. 2, Chromatische Fantasie und Fuge. Friedrich Gulda. Berlin Classics 0301063BC (edel)

Das Clavichord und Friedrich Gulda – das war eine bislang unbekannte Liebesgeschichte. Diese Edition beweist nun auf eine geradezu atemraubende Weise, wie sehr dieses alte, eigentümlich beschränkte Instrument Gulda inspiriert hatte, und umgekehrt. Wer das Clavichord als eher »antivirtuos« einschätzte, findet aus dem Staunen nicht mehr heraus. Gulda überträgt seinen rasant-prägnanten, hochindividuellen Klavierstil auf das Clavichord, er lässt durch feinste Anschlagsnuancierungen inmitten des Klanggetümmels Stimmen nach Belieben leuchten und wieder zurücktreten. Das ist große Kunst! Auch, wenn diese wiederentdeckten Band-Aufnahmen aus dem Jahr 1978 einige irreparable klangtechnische Mängel aufweisen: Sie sind ein bedeutendes Dokument, ein großes Vergnügen. Für die Jury: Michael Gassmann

Oper

Jean-Philippe Rameau: Naïs

Chantal Santon-Jeffery, Reinoud Van Mechelen, Florian Sempey, Thomas Dolié, Manuel Nuñez-Camelino, Daniela Skorka, Philippe-Nicolas Martin, Márton Komáromi, Purcell Choir, Orfeo Orchestra, György Vashegyi. 2 CDs, Glossa GCD 924003 (Note 1)

In gut fünf Wochen konzipiert und fertig gestellt, reflektiert Rameaus heroische Pastorale »Naïs« den Aachener Friedensvertrag zur Beendigung des österreichischen Erbfolgekrieges. Der Erfolg war anno 1749 so groß, dass man das Stück zwölf Wochen en suite durchspielen konnte. Der ungarische Alte-Musik-Dirigent György Vashegyi hat für das spanische Label Glossa eine gute Besetzung zusammengestellt: mit Chantal Santon-Jefferey als perlmuttstimmiger Protagonistin und Reinoud van Mechelen als wasserfestem Neptun, der sich stimmgewandt in die Fluten stürzt. Diese Gesamtaufnahme erinnert daran, was Pionierarbeiten ungarischer Ensembles für die Barockmusik schon früher leisteten – lange bevor westeuropäische Spitzenensembles die Krone an sich rissen. Jetzt mischt man wieder vorne mit. Für die Jury: Kai Luehrs-Kaiser

Oper

Jacques Fromental Halévy: La Reine de Chypre

Véronique Gens, Cyrille Dubois, Étienne Dupuis, Éric Huchet, Christophoros Stamboglis, Orchestre de chambre de Paris, Flemish Radio Choir, Hervé Niquet. 2 CDs, Ediciones Singulares Palazzetto Bru Zane ES 1032 (Note 1)

Halévy verbindet in »La Reine de Chypre« französische Eleganz mit italienischer Dramatik und dem historischen Pomp der Grand Opéra. In fünf kurzen Akten erzählt das Stück, einst hoch geschätzt sowohl von Hector Berlioz wie auch von Richard Wagner, von einem Beziehungsdreieck vor dem Hintergrund der venezianischen Geschichte des 15. Jahrhunderts. Bis 1858 gab es rund 118 Aufführungen, danach geriet die Oper in Vergessenheit. Sie ist jetzt, dank der mäzenatischen Forschungsarbeit der Stiftung Palazetto Bru Zane, wieder musikalisch zu erleben, schlank und feurig musiziert von Hervé Niquet und dem Orchestre de Chambre de Paris. Véronique Gens singt die Titelpartie. Der beim Mitschnitt der konzertanten Aufführungen kurzfristig eingesprungene Tenor Cyrille Dubois ist eine Entdeckung. Für die Jury: Robert Braunmüller

Chor und Vokalensemble

English Motets – The Gesualdo Six

Werke von William Byrd, William Cornysh, John Dunstaple, Orlando Gibbons, Thomas Morley, Robert Parsons, John Sheppard, Thomas Tallis, John Taverner, Thomas Tomkins und Robert White. The Gesualdo Six, Owain Park. Hyperion CDA68256 (Note 1)

Nicht jedes britische Vokalensemble, das sich der Chorpolyphonie der englischen Renaissance widmet, muss dies auf möglichst vibratoarme und gleichmäßig-lineare Weise tun. Die jungen Herren des Vokalsextetts The Gesualdo Six hebeln diese landläufige Vorstellung mit ihrem Debüt-Album auf erfrischend virtuose Weise aus. Und sie krönen ihren oftmals unpuristisch ausdrucksmutigen Zugriff durch die Tatsache, dass sie eigentlich ein siebenköpfiges Ensemble bilden – denn der bewährte Chorleiter Owain Park, der sie coacht, singt zuweilen mit. Thematisch geht es um Gott und Welt in den ausgewählten Werken aus der erweiterten Tudorzeit. Dabei durchschreiten die Hörer ein auch klangfarblich detailreich durchgestaltetes, vitales, nie konstruiert wirkendes musikalisches Universum. Für die Jury: Susanne Benda

Klassisches Lied und Vokalrecital

Das ewige Rätsel – L’Enigme Eternelle

Lieder von Richard Rudolf Klein, Gustav Mahler, Frank Martin und Maurice Ravel. Johannes Martin Kränzle, Hilko Dumno. Oehms Classics OC 1887 (Naxos)

Der Bariton Johannes Martin Kränzle hat als Sängerschauspieler derzeit nicht seinesgleichen. Ob als Beckmesser alias Hermann Levi in Wagners »Meistersingern«, aktuell in Bayreuth, oder in Janáčeks »Aus einem Totenhaus«, kürzlich in Frankfurt: seine Gestaltung rührt an menschliche Tiefen, er lebt Charaktere mit einzigartiger Sensibilität aus. Sein neues Album widmet sich mit einem Titel aus Ravels »Mélodies hébraïques« Fragen nach menschlicher Endlichkeit. Richard Rudolf Klein hat 1983 eine Auswahl der Textsammlung »Lieder aus dem Ghetto« vertont, die Kränzle in jiddischem Idiom eindringlich gestaltet. Die Doppelbödigkeit von Mahlers »Des Knaben Wunderhorn« gelingt ebenso wie Martins »Jedermann«-Zyklus, bei dem Hilko Dumno am Klavier zeigt, dass die später vom Komponisten erstellte Orchesterfassung durchaus kein Fortschritt ist. Für die Jury: Stephan Mösch

Alte Musik

L’immagine di Corelli

Arcangelo Corelli: 6 Sonate dell’Opera 5 (Nr. 1, 3, 4, 8, 9, 10). Susanne Scholz, Michael Hell. querstand VKJK 1621 (Klassik Center Kassel)

Vermutlich konnte, wer in den fünfzig Jahren nach Veröffentlichung der Sonaten op. 5 von Arcangelo Corelli anno 1700 quer durch das damalige Europa reiste, dieses epochemachende, rasch zum Klassiker avancierende Werk in einer immensen Vielfalt von Aufführungstraditionen erleben. In ihrer lebendig-inspirierten Einspielung machen Susanne Scholz und Michael Hell nicht nur dieses große Ausdrucksspektrum wieder erlebbar. Mit Hilfe von Martin Lindes kluger Aufnahmeregie und einer vorbildlichen Dokumentation im Beiheft eröffnen sie ihren Hörern zugleich das Vergnügen, die klanglichen wie interpretatorischen Auswirkungen selbst von Nuancen in der Haltung von Instrument und Bogen im direkten Vergleich zu erfassen. Für die Jury: Carsten Niemann

Zeitgenössische Musik

Open Your Ears. Wege zur Neuen Musik

Gerd Albrecht dirigiert und erklärt. Werke von Krzystof Penderecki, Hans Werner Henze, György Ligeti, Mauricio Kagel, Isang Yun und Jörg Widmann. Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Gerd Albrecht. 6 DVDs mit Buch, Arthaus Musik 109085

Das waren noch Zeiten, in denen sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen für die zeitgenössische Musik einsetzte! Unter dem Titel »Wege zur Neuen Musik« veranstaltete der Sender Freies Berlin (SFB) von 1986 bis 1995 eine Reihe von Gesprächskonzerten mit dem RSO Berlin (später umbenannt in DSO Berlin), die von Gerd Albrecht moderiert und dirigiert wurden. Immer war der Komponist, um dessen Stück es ging, mit auf der Bühne, wenn Albrecht Ausschnitte spielen ließ. Im Anschluss an die Erläuterungen wurde das Werk komplett aufgeführt. 2011/12 hat das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin diese Serie nochmals aufgelegt. Sechs der fernsehgerecht aufgearbeiteten Konzerte gibt es nun in einer DVD-Box, mit unübersehbar historischen Charme präsentieren sie Klassiker der Moderne. Für die Jury: Marita Emigholz

Historische Aufnahmen

Sir Thomas Beecham

Werke von Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms, Luigi Boccherini, Felix Mendelssohn Bartholdy, Richard Wagner und Franz Liszt. A BBC recording. Alexander Young, Beecham Choral Society, Royal Philharmonic Orchestra, Thomas Beecham. 4 CDs, ICA Classics ICAC 5148 (Naxos)

Thomas Beecham, aus reichem Industriellen-Elternhaus stammend, erregte schon als Kind mit musikalischer Hochbegabung Aufsehen, blieb aber Autodidakt. Diese Live-Mitschnitte mit dem Royal Philharmonic Orchestra, darunter auch Erstveröffentlichungen, repräsentieren seine letzte Schaffensperiode ab 1954. Zwar lassen sich in dieser hervorragend tönenden Box nicht alle Beecham-Spezialitäten unterbringen. Doch das Repertoire, welches vorgelegt wird, zeigt exemplarisch, welche außergewöhnlichen Klangbilder und Feinheiten Beecham seinen Musikern entlocken konnte. Wer heutigen Trends folgend einen im Studio digital perfektionierten, ausgedünnt- historisierenden Sound vorzieht, der mag sich hier eines Besseren belehren lassen. Kein Werk liegt der tiefgründig dämonischen Ausstrahlung Beechams besser als die »Faust«-Symphonie von Liszt. Für die Jury: Stephan Bultmann

Grenzgänge

Franui: Ständchen der Dinge

»Geht es immer so weiter?«. col legno WWE 1CD 20440 (harmonia mundi)

Trauermärsche spielen eine tragende Rolle auf dem Jubiläums-Album der Musikbanda Franui, die schon einmal, 2005, auf der Bestenliste stand. Weinen und Lachen gehen ineinander über in den Arrangements dieses zehnköpfigen Ensembles aus Ost-Tirol, auch Tradition und Moderne, Volksnähe und Volksferne. Vom Friedhof zieht die Dorfkapelle zum Tanzboden, spielend und singend verwischt Franui seit fünfundzwanzig Jahren sämtliche Grenzen auf der Skala der hintergründig-ironischen Mehrdeutigkeit. Gastweise ist auch der Schauspieler Peter Simonischek mit dabei in dem Geburtstagsprogramm aus Novitäten und vergriffene älteren Stücken, an dem man sich nicht satthören mag. Auch der kunstfertige Pfeifer und Puppenspieler Nikolaus Habjan macht mit, auch der Dichter Hans Magnus Enzensberger. Dass das künftig »immer so weiter« geht, ergänzen die Musiker freilich um ein Fragezeichen: Nichts bleibt, wie es war. Für die Jury: Heinz Zietsch

Musikfilm

Birgit Nilsson – A League Of Her Own

A Documentary by Thomas Voigt and Wolfgang Wunderlich. DVD/Blu-ray, C-Major 800104 (Naxos)

Birgit Nilsson trug das Herz auf der Zunge. Über ihre Arbeit mit Herbert von Karajan zog die schwedische Sängerin in einer Talkshow nonchalant das unverblümte Fazit: »Ein großer Künstler, aber ein kleiner Mensch. Was kann man machen?« In dieser liebevoll edierten Dokumentation, die aus Anlaß ihres hundertsten Geburtstags herauskam, gelingt es Thomas Voigt und Wolfgang Wunderlich, nicht nur den künstlerischen Ausnahmerang der Nilsson deutlich zu machen, auch ihre Warmherzigkeit, Furchtlosigkeit und ihr schlagfertiger Witz werden wieder lebendig. Dass auch Freunde und Kollegen wie Plácido Domingo, Otto Schenk, Christa Ludwig oder Marilyn Horne zu Wort kommen, macht dieses von der Birgit Nilsson Foundation koproduzierte Porträt zu einem Zeitzeugnis von unschätzbarem Wert. Für die Jury: Bernhard Hartmann

Jazz

Brad Mehldau Trio: Seymour Reads The Constitution!

Nonesuch 7559-79344-3 (Warner)

Mit Unisonopassagen, parallelen Bewegungen oder mit einander überlappenden Frage-Antwort-Passagen präsentieren sich der Pianist Brad Mehldau, der Kontrabassist Larry Grenadier und der Schlagzeuger Jeff Ballard als das homogenste, ausgebuffteste und konzentrierteste Jazztrio der Gegenwart. Gut, dass Seymour die Verfassung liest! Immerhin enthält sie Grundgedanken, die Voraussetzung für ein zivilisiertes Leben definieren. Wohl deshalb hält das Trio im Titelstück des Albums das Hauptmotiv stets präsent: Es gibt Punkte, die sind nicht verhandelbar. Zwei Popnummern, Brian Wilsons »Friends« und Paul McCartneys »Great Day«, stehen gleichberechtigt neben selten gespielten Jazzklassikern und neuen Mehldau-Kompositionen. Wie die drei ihr Spiel ineinander verschränken, ist einfach meisterlich. Für die Jury: Werner Stiefele

Jazz

Cecil Taylor: Conversations with Tony Oxley

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Zeitlebens vertrat Cecil Taylor eine perkussive Auffassung vom Piano: »Die Tasten des Klaviers sind für mich 88 gestimmte Trommeln.« Vielleicht traktierte er deshalb die Tastatur oft bis zum Äußersten. Immer wieder hat er dabei auch das Zwiegespräch mit präzisen Drummern gesucht, zuletzt mit dem britischen Schlagzeuger Tony Oxley. Im Februar 2008 gab Taylor im Kammermusiksaal der Philharmonie Berlin mit ihm gemeinsam eines seiner letzten Konzerte, das jetzt, als Live-Dokument, veröffentlicht wurde. Ein fast telepathisches Zusammenspiel: Brachiale Klaviercluster münden in beinahe zärtliche Klassik-Zitate und Bebop-Anspielungen, aus lautmalerischem Trommelspiel entstehen feinnervige Improvisationen, die alle Free Jazz-Klischees weit hinter sich lassen. Für die Jury: Peter Kemper

Weltmusik

Arat Kilo, Mamani Keïta, Mike Ladd: Visions of Selam

Accords Croisés AC 172 (harmonia mundi)

Gelungene weltmusikalische Fusionprojekte sind selten. Doch dieses Album bildet eine der wenigen wirklich geglückten Ausnahmen: Arat Kilo, »Ethio-Beat«-Truppe mit Hang zum Jazz aus Paris tat sich zusammen mit der Sängerin Mamani Keïta aus Mali mit ihrer hellen, manchmal schneidenden Stimme sowie mit Slampoet Mike Ladd aus Boston – und gemeinsam haben sie die richtige Alchemie gefunden! Grooves, Hooklines und Non-Nonsense Lyrics verbinden sich zu einer tanzbaren Melange, Dynamik prägt die Stimmen, die sich zwischen den Bläsern offenkundig wohl fühlen, dazu kommen satte Arrangements: Einmal mehr hat der Musikschmelztiegel Paris einen echten Diamanten hervorgebracht. Für die Jury: Jodok W. Kobelt

Traditionelle Ethnische Musik

I’m Not Here To Hunt Rabbits

Sibongile Kgaila, Solly Sebotso, Western, Batlaadira Radipitse, Ronnie Moipolai, Oteng Piet, Annafiki Ditau, Babsi Barolong. LP, Piranha Records PIR3165-LP (Indigo)

Botswana spielte in der afrikanischen traditionellen Musik bisher eine eher kleinere Rolle. Und nur durch Zufall, nämlich über You-Tube-Videos des niederländischen Musikverrückten Johannes Vollebregt, hat der Chef von Vital Record, David Aglow, diese unorthodoxen Gitarrenkünstler überhaupt entdeckt. Ihre verblüffende Spielweise, die Bespannung des Gitarrenkorpus mit nur vier Saiten und eine auf den Kopf gestellte Grifftechnik ist eine musikethnologische »Insel« jenseits aller akademischen Regeln. Der botswanische Countryblues von Sibongile Kgaila, Ronnie Moipolai und ihren sechs Kollegen, hier erstmalig vorgestellt auf CD und LP, beweist zweierlei: Auch im Jahr 2018 sind noch weiße Flecken auf der Klanglandkarte zu finden, außerdem kann Feldforschung heutzutage auch via Internet stattfinden. Für die Jury: Stefan Franzen

Liedermacher

Christina Lux: Leise Bilder

India 471232-2 (Rough Trade)

Mit ihrer aktuellen CD ist der Gitarristin und Sängerin Christina Lux ein kleines Meisterwerk gelungen. Ihre Texte liefern Gedankenüberschüsse von fast philosophischer Art, geschult an Jazz und Soul transportiert sie tiefsinnige Inhalte auf musikalisch höchstem Niveau. Wobei alles unangestrengt, fast schwebend daherkommt, sie artikuliert weich und swingend – Worte und Klänge harmonieren perfekt miteinander. Die alte These, dass die deutsche Sprache nicht popgeeignet sei, ist zwar schon spätestens seit Udo Lindenberg und Stoppok eindrucksvoll wiederlegt, die Lux beglaubigt dies einmal mehr. Joo Kraus, Stoppok, Dennis Hormes, Markus Segschneider, Laith Al-Deen und vor allem Oliver George haben wesentlich zur überragenden Qualität dieses Albums beigetragen. Christina Lux ist und bleibt eine Ausnahmeerscheinung unter den deutschsprachigen Singer-Songwritern. Für die Jury: Kai Engelke

Folk und Singer/Songwriter

WÖR: SSSHT

Steeplejack Music SJCD019 (Neil Grant Music Production)

»Wör« sind fünf Herren aus Flandern, deren Liebe der traditionellen Musik ihres Landes gehört. Um die zu neuen Höhen zu führen, gehen sie weit zurück, zu Sammlungen von Spielmannsmusiken aus dem 18. Jahrhundert, die in Gent, Löwen und Antwerpen entstanden sind. Sackpfeifen und Akkordeon sorgen für flandrischen Klang, das Tenorsaxophon dagegen erinnert daran, dass es Musik von heute ist. Einige Titel weisen auf religiöse Bezüge hin, wie »Bethlehem«, andere bleiben geheimnisvoll, wie »VB 71 bis« – doch immer wird unsere Phantasie aktiviert. Interessant, wie manche Melodien offenbar seit Jahrhunderten durch Europa wandern und immer neue Gestalt annehmen! Wer hätte, zum Beispiel, erwartet, »Warum weinst du, holde Gärtnersfrau« in dieser Umgebung zu begegnen? Ein wunderbares Album, nicht nur für Belgienfans. Für die Jury: Gabriele Haefs

Rock

The National Reserve: Motel La Grange

Ramseur Records RR778899

Hier erlebt das goldene Rock-Zeitalter der Siebziger eine kraftvolle Wiedergeburt. Das Quintett um den Gitarristen, Sänger und Songwriter Sean Walsh jongliert mit den Archetypen des Americana-Almanachs: mit bodenständigem Southern Rock und whiskygetränktem Roll, gewürzt mit stiernackigem R’n’B, Laurel-Canyon-Lyrik und fettem New-Orleans-Funk. Und es wird markig mit dem alten Rezept aus zwei Gitarren, Bass, Orgel und Drums gekocht. The National Reserve servieren ihr traditionelles und jedweder Anbiederung an zeitgeistige Trends abholdes Menü schon seit Jahren in einer Bar in Brooklyn, New York, und zwar live, an jedem Freitagabend. Und jetzt auch auf ihrem Album. Darauf einen Southern Comfort! Für die Jury: Manfred Gillig-Degrave

Blues

Philipp Fankhauser: I’ll Be Around

The Malaco Session, produced by Dennis Walker & Wolf Stephenson. Funk House Blues 92117000002 (Membran)

Dieses Album, aufgenommen in den legendären Malaco Studios in Jackson, Mississippi, sei für ihn die Erfüllung eines lang gehegten Traums, schreibt Philipp Fankhauser in seinen Linernotes. Dazu muss man wissen, dass es Veröffentlichungen des studioeigenen Malaco-Labels wie Bobby »Blue« Blands LP »Members Only« waren, die den Schweizer Sänger und Gitarristen vor rund dreißig Jahren zu jenem Stilmix aus elektrischem Blues und bläsergesättigtem Soul inspirierten, wie er auch für diese Produktion wieder prägend ist. Seine Reise in die USA hat sich hörbar gelohnt: Es stimmt einfach alles, von der überzeugenden Performance sämtlicher Beteiligter über Arrangements und Soundqualität bis hin zum ansprechend gestalteten Ecopak samt umfangreichem Booklet. Für die Jury: Michael Seiz

Club und Dance

DJ Koze: Knock Knock

Pampa CD013 (Rough Trade)

Knock Knock ist das erste Album von DJ Koze seit Amygdala vor fünf Jahren und sein bislang bester Pop-Wurf. Die sechzehn Titel rufen eine Vielfalt an Gefühlen hervor – zwischen Herzschmerz und Glückseligkeit, Sehnsucht und Euphorie. Mit sicherer Hand wechselt Stefan Kozalla zwischen Stimmungen und Tempi –und anders, als es die Vielzahl an Gästen vermuten lässt, ergibt sich ein großes, abwechslungsreiches Ganzes. Nebenbei kommt DJ Koze ganz ohne Refrains aus, er baut nämlich Stücke an der Grenze von Lied und Track. Mal klingt es abwegig, mal eingängig, zusammengehalten wird dieser Singer-Songwriter-House durch verspielte und irgendwie gedämpfte Beats und Rhythmen. Mag der Rhythmus noch so schräg durchgewirbelt werden: Das sitzt. Für die Jury: Heiko Hoffmann (Club & Dance) & Martin Böttcher (Electronic & Experimental)

R&B, Soul und Hip-Hop

Dabrye: Three/Three

Ghostly International GI-303 (Secretly Distribution)

Völlig unbeeindruckt von Events, die neuerdings das HipHop-Genre betreffen, kommt Dabrye mit einem fettgedruckten Statement daher. Jamaikanische Sound-Clash-Energie trifft hier auf exzellentes HipHop-Sampling. Eine Mischung aus britischer und amerikanischer Dance-Musik sowie von Soul und Jazz inspirierte Techniken runden den Sound der etwas härteren Klänge ab. Vom kopfnickenden »Tunnel Vision« über den minimalen Brutalismus-Funk des viel zu kurzen Instrumentals »Electrocutor«, vom Zeitlupen-Elektro »The Appetite« bis hin zum Jazz Funk von »Sunset« und dem supersexy swingenden »Stranded« mit dem markant zurückgelehnten Rap von Fatt Father reicht die Bandbreite der Höhepunkte. Oldschool oder Newschool, diese Begriffe sind für Dabrye uninteressant. Er spielt in seiner eigenen Liga. Für die Jury: Michael Rütten

Wortkunst

Michail Sostschenko: Wie mit Gabeln aufs Wasser geschrieben

Erzählungen. Boris Mattèrn, Regie: Walter Adler. mp3-CD, hörkultur ISBN 978-3-9524678-4-8

Michail Sostschenko, 1958 verstorben, war ein beliebter und vielgelesener Autor in der UdSSR. Er beschrieb kleinkarierte, einfältige, aber auch schlitzohrige Menschen, die versuchen, mit einschüchternder Bürokratie und anderen Unzulänglichkeiten klar zu kommen. Seine kleinen satirischen Geschichten hatten große Wirkung, was zu zeitweiligem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband führte (Begründung: »Verleumdung der sowjetischen Wirklichkeit«). Thomas Reschke hat eine exzellente Auswahl der tragikomischen Erzählungen Sostschenkos getroffen und übersetzt. Und der Schweizer Theaterschauspieler Boris Mattèrn liest diese dreißig wunderbaren Texte, die es verdienen, vor dem drohenden Vergessen bewahrt zu werden, engagiert, bisweilen verspielt, mit hörbarer Freude. Für die Jury: Friedel Bott

Kinder- und Jugendaufnahmen

Otfried Preußler: Krabat

Die ungekürzte Lesung. Felix von Manteuffel. 6 CDs, Der Audio Verlag ISBN 978-3-7424-0501-2

Es dauert keine zwei Minuten, schon ist man dieser Story vom Waisenjungen Krabat, der auf der Mühle von Schwarzkollm sein Glück sucht, verfallen. Krabat, der im Leben nichts zu verlieren hat, geht nichtsahnend einen schwarzen Pakt mit dem Müllermeister ein, wie andere Jungens auch. Doch jedes Jahr stirbt einer von ihnen auf unerklärliche Weise… Es geht also um Macht und Gewalt, um die Faszination des Bösen, aber auch um Freundschaft und Vertrauen, und am Ende hilft wieder nur die Liebe eines Mädchens. Felix von Manteuffel hat diese erstmals ungekürzte Lesung von ‚Krabat’ bewerkstelligt, meisterhaft in der Intonation, im Setzen von Pausen, geprägt von der Sprachmacht Preußlers. Unterstützt wird er von der emotional eindringlichen Musik von Tobias B. Deutung, die sanft in die Vergangenheit führt und eigene Räume und Bilder schafft. Eine magische Geschichte – für alle Generationen! Für die Jury: Carola Benninghoven

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