Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

NEU: Longlist 2/2024, veröffentlicht am 5. April 2024

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Haydn 2032 – Vol.6: Lamentatione

Joseph Haydn: Symphonien Nr. 3 G-Dur Hob. I:3, Nr.26 d-moll Hob. I:26 »Lamentatione«, Nr. 30 C-Dur Hob. I:30 »Halleluja« & Nr. 79 Hob. F-Dur I:79 Kammerorchester Basel, Giovanni Antonini. Alpha 678 (Note 1)

Bis zum Haydnjubiläum 2032 will Giovanni Antonini alle 104 bzw. 107 Symphonien des Wiener Meisters einspielen, abwechselnd mit seinem Orchester Il Giardino Armonico und dem Kammerorchester Basel. Er reiht die Werke nicht chronologisch, er geht thematisch vor. »Lamentatione«, nach Symphonie Nr. 26 benannt, ist die sechste CD der Serie und beinhaltet die so genannten Choralsymphonien mit Zitaten aus verschiedenen liturgischen Werken. Nicht alle vier hier versammelten Werke ordnen sich dem Titel unter, das schmälert jedoch nicht die Freude beim Hören. Das Kammerorchester Basel spielt, historisch gut informiert, in Hochform: präzise, transparent, anrührend. Starke musikalische und dynamische Kontraste, zugleich ein wunderbar schlankes Klangbild, machen diese Einspielung zum Ereignis. Für die Jury: Peter Stieber

Orchestermusik und Konzerte

Leonard Bernstein: Symphonie Nr.2 »The Age of Anxiety«

Krystian Zimerman, Berliner Philharmoniker, Simon Rattle. Deutsche Grammophon DG 483 5539 (Universal)

Eine Symphonie, die eigentlich ein Klavierkonzert ist, mit Zwölfton- und Jazz-Einlagen und mit Variationensätzen, die wenig mit üblichen Variationen zu tun haben; nach einem Gedicht, das eher ein episches Drama ist; mit einem Titel, der kein angsterfülltes Erdzeitalter, sondern innere Vereinsamung von vier Individuen überschreibt: Bernsteins 1948/49 komponiertes Werk Age of Anxiety bricht alle Konvention. Zum hundertsten Geburtstag des Musik-Weltbürgers Bernstein fanden sich der scheidende britische Chefdirigent und sein deutsches Orchester mit dem polnischen Pianisten zusammen, um eine bis ins Detail durchdachte und doch teilweise wie frisch improvisiert klingende Version einzuspielen. Auch Versionen mit dem Komponisten am Pult erreichen nicht diese geschärfte Präzision. Swingend und zwingend. Für die Jury: Lothar Brandt

Kammermusik

Boulanger Trio – Tschaikowsky / Juon

Paul Juon: Litaniae op.70; Peter Tschaikowsky: Klaviertrio op.50. Boulanger Trio. CAvi 8553401 (harmonia mundi)

Was für das kapitale Klaviertrio a-moll Tschaikowskys gilt, charakterisiert auch die Litaniae des russisch-schweizerischen Komponisten Paul Juon: Es sind Einblicke in eine leidende, ringende Seele, Zeugnisse tiefer Verzweiflung und Not. Dass Juon für diese Extremlage ganz eigene rhythmische und harmonische, oft chromatische Wege geht, unterstreicht das Boulanger Trio packend und transparent. Die Kombination beider Werke ist ideal, nahezu ideal auch der Interpretationsansatz dieser ungemein homogenen Trio-Formation. Das Primat hat hier stets eine elegant-flüssige Kantabilität, die bis in die zartesten Nuancen entfaltet wird. Ohne Schwere, eher leichtfüßig, ein wenig spielerisch, wird die Fuge in das Variationengefüge integriert. So bleibt das Steigerungspotential in durchdachter Dramaturgie bis zum Schluss erhalten: ein erschütternder Absturz vom »con fuoco« ins »lugubre« auf einem bis zum Zerreißen gespannten Quartsextakkord, der das Ende vergebens hinausschiebt. Für die Jury: Lotte Thaler

Tasteninstrumente

Claude Debussy: Préludes du 2ieme Livre, La Mer

Alexander Melnikov, Olga Pashchenko. harmonia mundi HMM 902302

Debussy auf einem Érard-Flügel, das ist an sich nichts Neues. Wenn einer dabei aber so fantasievoll in der Auffächerung der Klangfarben, so entschlossen im Aufbau der dramaturgischen Bögen, so geschmeidig in der Gestaltung kleinster Phrasierungen und so knackig in der Umsetzung der agilen Rhythmik agiert wie Alexander Melnikov, kommt der Hörer aus dem Staunen nicht heraus. Melnikov spielt den zweiten Band der Préludes ungemein präzise, eng am Notentext und trotzdem nicht akademisch, vielmehr spontan, frei und fließend. Auch in Debussys eigener Bearbeitung von La Mer bieten Melnikov und seine Partnerin Olga Pashchenko vierhändig an einem Klavier ein Kaleidoskop an changierenden Klangfarben. Mehr noch: Die beiden versorgen das Stück mit einem faszinierend vitalen Innenleben, das so auch in der brillantesten Orchester-Aufnahme nicht zu erleben ist. Für die Jury: Kalle Burmester

Tasteninstrumente

César Franck: The Organ Works

Ben van Oosten. 4 CDs, Dabringhaus & Grimm MDG 316 2080-2 (Naxos)

Ben van Oosten hat lange gewartet mit seiner Franck-Einspielung. Zuvor hatte er die großen Orgelkomponisten der französischen Romantik aufgenommen, dazu ihren modernen Abkömmling Marcel Dupré, stets mit entwaffnender Musikalität. Doch die eine vollkommene Balance von Technik, Klangsinn und Poesie gibt es bei César Franck nicht – ihn zu spielen, ist immer ein Wagnis. Konzentriert und mit Besonnenheit spürt van Oosten der Franckschen Musik in all ihren Dimensionen nach – dem Klang, dem Puls, der harmonischen Wandelbarkeit, der Formdramaturgie. An der herrlichen Cavaillé-Coll-Orgel in Rouen und mithilfe des exzellenten MDG-Aufnahmeteams spannt er sie auf zwischen Entrücktheit und kontrollierter Dramatik. Vor allem aber legt er ihre alles durchdringende Kantabilität frei. Für die Jury: Friedrich Sprondel

Oper

Antonio Salieri: Les Horaces

Judith van Wanroij, Cyrille Dubois, Julien Dran, Jean-Sébastien Bou, Philippe-Nicolas Martin, Andrew Foster-Williams, Les Chantres du Centre de musique baroque de Versailles, Les Talens Lyriques, Christophe Rousset. 2 CDs, Aparté AP185 (harmonia mundi)

Von den gut vierzig Opern Antonio Salieris kennt man kaum noch mehr als Falstaff und Les Danaïdes. Dabei hatte deren Triumph zur Folge, dass sich der Komponist 1786 erneut an der französischen Oper versuchte. Das Ergebnis, die Corneille-Oper Les Horaces, geriet Beaumarchais zufolge »ein bisschen zu düster für Paris«. Dem zeremoniösen, leicht pomphaften Repräsentationsstil verleiht Christophe Rousset einen Anflug von Entspannung, Flair und Laissez-faire. Vom weich prickelnden Klangbild heben sich die kühlen Stimmen farbig ab, unter anderem die des fabelhaften Tenors Cyrille Dubois, der sich mit lyrisch weicher, empfindsam auftrumpfender Stimme in den Kampf zwischen Rom und dem antiken Alba Longa (Castel Gandolfo) stürzt. Spannend zu hören, wie Salieri die Tragédie-lyrique um einige italienische Grade erhitzt! Für die Jury: Kai Luehrs-Kaiser

Oper

John Adams: Doctor Atomic

Gerald Finley, Julia Bullock, Brindley Sherratt, Samuel Sakker, Andrew Staples, Jennifer Johnston, Aubrey Allicock, BBC Singers, BBC Symphony Orchestra, John Adams. 2 CDs, Nonesuch 7559 79310 7 (Warner)

Kein anderer zeitgenössischer Komponist liefert zeitlos gültigere Beiträge zur politischen Oper als der US-Amerikaner John Adams. Seine 2005 in San Francisco uraufgeführte Oper Doctor Atomic erzählt vom »Vater der Atombombe«, J. Robert Oppenheimer, und verhandelt auf beklemmend intensive Weise brandaktuelle Fragen nach Fortschrittsgläubigkeit, Moral und gesellschaftlicher Verantwortung von Wissenschaft, Politik – und letztlich auch Kunst. Die klanglich brillante BBC-Studioproduktion unter der Leitung des Komponisten, sängerisch angeführt von Gerald Finley, entwickelt exemplarische Sogwirkung: dringlich, deutlich, imaginativ, dabei in jedem Moment packend dramatisch, plastisch und transparent ausgeleuchtet – ein Idealfall aktuellen Musiktheaters auch auf der Hörbühne. Für die Jury: Karl Harb

Chor und Vokalensemble

Luca Marenzio: L’Amoroso & Crudo Stile

Ensemble Rossoporpora, Walter Testolin. Arcana A449 (Note 1)

Diese vortreffliche Aufnahme mit Madrigalen aus dem Gesamtschaffen Luca Marenzios ist das künstlerische Protokoll der Verfinsterung des Gemüts. Weniger geht es um eine klingende Biographie, vielmehr um die melancholische Kehrseite des »stile amoroso«, für den Marenzio im sechzehnten Jahrhundert berühmt wurde. Diese Sphäre arkadischer Anmut öffnet sich zum Gegenpol, zum »stile crudo«, oft vermittelt über die Reflexion der Begrenztheit poetischer Mittel, etwa in den vertonten Petrarca-Versen. Der Ausdruck des Ausdruckslosen bis hin zum Tod markiert für den Dichter die Grenze des Sagbaren, den Musiker führt er zu schwebend-instabiler Chromatik, schmuckloser Intensität, halluzinatorischen Vokalharmonien. Tiefenscharf wird das ausgelotet vom Ensemble Rossoporpora und Walter Testolin, mit subtiler Grazie. Noblesse des Expressiven vereint sich mit delikatem Klangsinn und stilistischer Präzision. Für die Jury: Martin Mezger

Klassisches Lied und Vokalrecital

Debussy: Harmonie Du Soir

Claude Debussy: Mélodies. Sophie Karthäuser, Stéphane Degout, Eugene Asti, Alain Planès. 2 CDs, harmonia mundi HMM 902306.07

Rechtzeitig zum hundertsten Todestag haben die belgische Sopranistin Sophie Karthäuser und der französische Bariton Stéphane Degout 44 Lieder Claude Debussys auf einer Doppel CD eingespielt. Diese Liedeinspielungen bilden einen repräsentativen Querschnitt durch das Schaffen Debussys, der circa hundert Lieder komponiert hat. Sophie Karthäusers Sopran glänzt durch subtile Stimmführung und ein ideales Legato. Text und Klang verbinden sich zu einer gleichwertigen Mischung, die ein ausgewogenes Ganzes bilden. Ebenbürtig begleitet wird die Sängerin am Klavier von Eugene Asti. Direkter im Zugang begegnet Stéphane Degout den Werken Debussys. Es ist ihm anzumerken, dass er als erfolgreicher Opernsänger dramatisch strukturiert die Feinheiten dieser Kammermusikperlen hervorheben will. Alain Planès, der Liedbegleiter Degouts, komplettiert das Team dieser beispielhaften Einspielung. Für die Jury: Christian Kröber

Alte Musik

Buxtehude: Abendmusiken

Dietrich Buxtehude: Kantaten BuxWV 10, 34, 41, 60 und 62; Triosonaten BuxWV 255, 267, 272. Ensemble Masques, Vox Luminis, Lionel Meunier. Alpha 287 (Note 1)

Fünf Kantaten sehr unterschiedlicher Besetzung, Struktur und Länge geben auf dieser CD einen exemplarischen Einblick in die Vielfalt von Dieterich Buxtehudes Vokalwerk. Gemeinsam ist ihnen eine ganz eigentümliche Kombination aus norddeutsch-protestantischer Strenge und italienischer Sinnlichkeit. Genau dies kommt in der Interpretation des belgischen Vokalensembles Vox Luminis und des kanadischen Instrumentalensembles Masques vorbildlich zur Geltung: Auf der einen Seite sind hier Glaubensstärke, Demut und Heilsgewissheit keine leeren Floskeln, sondern Ausdruck echter Seelsorge, auf der anderen Seite laben die Musiker sich an einem intensiven Klang, und wo es die Musik erfordert, lassen sie es auch nicht an instrumentaler oder vokaler Virtuosität missen. Für die Jury: Matthias Hengelbrock

Zeitgenössische Musik

Malin Bång: Structures of Light and Spruce

Curious Chamber Players, Ume Duo, Karin Hellqvist. Neos 11817 (harmonia mundi)

Die schwedische Komponistin Malin Bång schafft in den fünf Stücken dieser CD eine Musik, in der Alltagsgeräusche – ein Automotor, Schritte und ein Rollkoffer, das Feilen, Raspeln und Sägen eines Geigenbauers oder das Klappern einer mechanischen Schreibmaschine – zusammen mit Instrumentalklängen eine faszinierende Symbiose eingehen. Bei der Verwandlung konkreter Klänge in instrumentale Aktionen benutzt sie spezielle Mikrophone, die im Inneren der Instrumente den Klang verstärken oder als Kontaktmikrophone an der Holz- oder Metalloberfläche befestigt werden. »Strukturen von Licht und Fichtenholz« ist der passende Name des Albums, das Ensemble Curious Chamber Players der ideale Partner für Malin Bång. Fünf Hörstücke von zugleich animalischer und poetischer Schönheit! Für die Jury: Marita Emigholz

Historische Aufnahmen

Quartett Rosé

Werke von Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy, Ludwig van Beethoven, Luigi Boccherini, Johannes Brahms, Luigi Cherubini, Frédéric Chopin, Karl Goldmark, Joseph Haydn, Pietro Nardini, David Popper, Pablo de Sarasate, Achille Simonetti, Richard Strauss. Arnold Rosé, Rosé-Quartett, Wiener Philharmoniker, Karl Alwin. Podium Legenda POL-1011 (Klassik Center)

Das Label Podium widmet sich vor allem historischen Geigenaufnahmen. Vor gut zwei Jahren veröffentlicht es die posthume Uraufführung des Schumannschen Violinkonzerts mit Georg Kulenkampff und den Berliner Philharmonikern, von 1937; doch handelte es sich hier nicht um die bekannte plattenoffizielle Studioeinspielung unter Hans Schmidt-Isserstedt, vielmehr um den Premierenlivemitschnitt unter Karl Böhm, welcher bis dato als verschollen galt. Die neueste Edition gilt dem Geiger und Musikpädagogen Arnold Rosé, 1863 geboren und 1946 im Londoner Exil gestorben. Er war erfolgreich als Solist wie auch als lebenslanger Primarius eines nach ihm benannten Streichquartetts, welches unter anderem Schönbergs »Verklärte Nacht« aus der Taufe hob. In beiden Funktionen ist Rosé in einer Kollektion ausnehmend rarer Einspielungen zwischen 1902 und 1931 zu hören. Das Booklet ist üppig. Für die Jury: Christoph Zimmermann

Grenzgänge

Victoria Hanna: VH

Greedy for Best Music GBM 004 (Indigo)

Ihr Vater war ein aus Kairo nach Israel eingewanderter Rabbi, die Mutter Iranerin, und mit ihrem Künstlernamen ehrt Victoria Hanna ihre ungleichen zwangsverheirateten Großmütter: orthodox und pflichtergeben die eine, rebellische Außenseiterin die andere. Beide Seelen ringen in ihrer Brust – und in der Kehle: Seit Kindheitstagen stotternd, macht Victoria Hanna Sprach- und Stimmbarrieren zur Kraftquelle der Kreativität. Sie spielt mit Lauten, überdehnt Vokale, knetet Silben, lässt sich von Kinderchören, Geigen, Trommeln oder elektrischer Oud begleiten. Was sie Cabbalistic Rap oder aramäischen Hiphop nennt, hat mit dem öden Böse-Buben-Getue, das die Rapperszene prägt, nichts zu tun. Ihre Texte zitieren heilige Schriften aus der Bibliothek ihres Vaters. Die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets, von Aleph über Gimmel bis Taw, inspirierten sie zu ihrer schönsten poetisch-surrealen Collage. Für die Jury: Nikolaus Gatter

Musikfilm

Leonard Bernstein at Schleswig-Holstein Music Festival 1988

Teaching, Performing, Lectures and Master Course. Wiener Philharmoniker, Justus Frantz, Leonard Bernstein. DVD/Blu-ray CMajor 746608/746704 (Naxos)

Diese Dokumentation ist ein singuläres Zeugnis für die Arbeit des außerordentlichen Dirigenten Leonard Bernstein. Zunächst bildet sich aus einer bunt zusammengesetzten Truppe von Musikern aus vielen Ländern ein Kollektiv (Teil I). Dann erlebt man, wie sich dieses bereits gut vorbereitete Ensemble unter Bernsteins inspirierender Leitung in ein veritables Orchester verwandelt und Strawinskys »Le sacre du printemps« erarbeitet (Teil II). Bernstein probt höchst konzentriert, er versteht sich bestens mitzuteilen. In der Arbeit mit elf jungen Dirigenten/innen schließlich, die jeweils nur fünfzehn Minuten mit dem Orchester Werke von Beethoven bis Schostakowitsch probieren (Teil III), wird deutlich, dass es beim Dirigieren zwar auch um technische Fertigkeiten und die Idee einer Interpretation geht, mehr aber doch darum, zu verstehen, wie Musiker »ticken«, wie sie animiert werden können. Für die Jury: Helge Grünewald

Musikfilm

Open Land – Meeting John Abercrombie

A film by Arno Oehri & Oliver Primus. John & Lisa Abercrombie, Adam Nussbaum, Gary Versace, Ric McCurdy. DVD, ECM 602567511366 (Universal)

Die Filmemacher Arno Oehri und Oliver Primus haben den Jazzgitarristen John Abercrombie, der im August letzten Jahres zweiundsiebzigjährig starb, in Konzertausschnitten und Gesprächen porträtiert, ergänzt durch stimmungsvolle Bilder zur Musik seiner Plattenaufnahmen. Abercrombies Erzählungen und Kommentare anderer Musiker sowie seiner Ehefrau Lisa streifen wesentliche Momente seiner Karriere vom Rock’n’Roll-Fan bis zum Jazzvirtuosen und machen die Entwicklung zu seinem persönlichen, von Offenheit, Formgefühl und Improvisationslust geprägten Stil nachvollziehbar. Aus Anekdoten und Erinnerungen an andere Musiker, Situationen und Verhaltensweisen entsteht ein Eindruck einer auch menschlich beeindruckenden Persönlichkeit. Die ruhigen Kameraeinstellungen, das dezent gesetzte Licht entsprechen der feinsinnigen Spielweise Abercrombies. Für die Jury: Werner Stiefele

Jazz

Erroll Garner: Nightconcert

Mack Avenue Mac 1142 (in-akustik)

Wie nur wenige Pianisten besaß Erroll Garner die Gabe, Lebensfreude zu verbreiten. Tempomäßig schienen sich seine beiden Hände nach dem Bibelmotto zu richten: »Lass deine Linke nicht wissen, was deine Rechte tut«. Seine »hinkende« Linke schlug die Akkorde in Gitarren-Manier an, vier Schläge pro Takt. Die Improvisationen seiner rechten Hand bewegten sich zum Metrum ungewöhnlich frei. Der Kontrast zwischen verzögernden und vorwärtstreibenden Elementen erzeugte einen unwiderstehlichen Swing. Ausgedehnte Einleitungen, die sich verschroben ins Niemandsland zu bewegen schienen, machten das Erraten des folgenden Standards zum humorvollen, spannenden Quiz. All das geriet ihm 1964 im »Nightconcert« aus dem Amsterdamer Concertgebouw mit Eddie Calhoun und Kelly Martin besonders inspiriert. Die Aufnahmequalität ist bescheiden, doch darüber hört man gebannt weg wie bei seinem berühmten »Concert By The Sea«. Für die Jury: Marcus A. Woelfle

Jazz

Günter Baby Sommer: Baby’s Party

Guest: Till Brönner. Intakt CD303 (harmonia mundi)

Anlass der Party war der fünfundsiebzigste Geburtstag von Schlagzeuger Günter Baby Sommer. Dass er nur einen Gast ins Studio geladen hatte, gleicht einem irritierenden, letztlich faszinierenden Paukenschlag. Oberflächlich betrachtet, sind die beiden ein ungleiches Paar: der Trommler, dem von Deutschland Ost der Aufbruch in die internationale Welt des freien Jazz gelang, und der um Jahrzehnte jüngere Trompeter, der vom westdeutschen Viersen aus in die Komfortzonen des Jazz emporgestiegen war. Im Duo durchkreuzen sie alle Klischeevorstellungen, indem sie sich souverän auf die Jazztradition beziehen und zugleich ihrer Phantasie freien Lauf lassen. Sommer schafft vielschichtige klangrhythmische Zusammenhänge und lockt Brönner auf die Abenteuerspielplätze des Improvisierens, auf denen die beiden dialogisierend brillieren – spielerisch, vergnüglich und mit überbordendem Einfallsreichtum. Für die Jury: Bert Noglik

Traditionelle Ethnische Musik

Sokratis Sinopoulos: Under the Rose Tree

Tunes from the Greek Musical Traditions. Saphrane S 62619 (Galileo)

in Streichinstrument, kaum länger als ein Unterarm, ein Bogen, nur drei Saiten: Die griechische Lyra hat sich seit der Antike kaum verändert, und passt dennoch in viele zeitgenössische Musikstile. Sokratis Sinopoulis spielt sie auf sehr traditionelle Weise – die Fingernägel flach an die Saiten gelegt, so dass ein rauer, näselnder Ton entsteht, der Zuhörer und Mit-Musiker fasziniert: Synthetisch oder menschlich empfindsam? Eine Klage, ein Tanz? Musik aus der Hafenkneipe, aus der abendlichen Unterhaltung im Dorf? Für ein Konzert in Amsterdam hat Sinopoulos seine Lieblingsstücke zusammengetragen und damit die verschiedenen Facetten seiner musikalischen Herkunft dokumentiert. Mit Perkussion und der Laute Oud unterstreicht sein Quartett die Bezüge zu den südöstlichen Nachbarn, während der Pianist Yann Keerim die Tür zum Jazz weit öffnet. Für die Jury: Hanni Bode

Liedermacher

Alexander Scheer & Band: Gundermann – Die Musik zum Film

BuschFunk 00672

Alexander Scheer ist Theater- und Filmschauspieler, mit musikalischen Wurzeln. Lange wusste er nichts von Gundermann, der wie er aus dem Osten Deutschlands kommt: »Dass ich einen der größten deutschen Songschreiber aller Zeiten verpasst habe, ist mir jetzt erst bewusst geworden« – so Scheer im Deutschlandfunk Kultur im August 2018. Als »Gundermann« hat der grandios spielende Scheer im gleichnamigen Film von Andreas Dresen in diesem Sommer Furore gemacht. Der Soundtrack dazu enthält fünfzehn Gundermann-Songs, die Scheer nach Art Gundermanns und doch irgendwie auf eigene Weise interpretiert. Gundermann sei ein Charaktersänger, sagt Scheer, keiner, der »durch Virtuosität« besticht, sondern einer, der »das auf der Zunge hat, was er im Herzen trägt«. Könnte man auch über ihn selbst sagen. Für die Jury: Petra Schwarz

Folk und Singer/Songwriter

Les Poules À Colin: Morose

Steeplejack Music SJCD020 (in-akustik)

Sarah, Béatrix, Eléonore, Marie und Colin kannten sich bereits als Kinder, lange bevor sie Bandkollegen und beste Freunde wurden. Noch als Teenager haben sie vor zehn Jahren »Les Poules à Colin« gegründet. Das Interesse an Folkmusik brachten sie aus dem Elternhaus mit, wo sie bereits gemeinsam viel Zeit auf Küchenpartys, Familienkonzerten oder backstage bei Folk Festivals verbracht hatten. Der Sound ihrer Band lässt sich beschreiben als eine Mischung aus kanadischem Folk, nordamerikanischem Old Time und Jazz. Dieser besondere, musikalisch moderne Blick auf die traditionelle Kultur Québecs fußt zum einen auf ihrer Jugend und zum anderen auf ihren großartigen vokalen und instrumentalen Fähigkeiten. Für die Jury: Jo Meyer

Hard und Heavy

Mantar: The Modern Art of Setting Ablaze

Nuclear Blast NB 4466-0 (Warner)

Die Zwei-Mann-Malträtierungs-Maschine Mantar macht ihrem Ruf alle Ehre: Einen so dröhnenden und drückenden Sound kriegen andere Bands mit doppelter Mitgliederzahl nicht hin. Zugleich verlieren Hanno Klänhardt und Erinç Sakarya nie die nötige Mindestmenge Melodie aus dem Blick. So gelingt ihnen auf ihrem dritten Album die perfekte Melange aus der rohen Wucht des Debüts »Death by burning« und des zugänglicheren »Ode to the flame«. »The Modern art of setting Ablaze« ist dank Songs wie »Age Of The Absurd«, »Seek + Forget« und »Anti Eternia« ein polterndes, riffendes Mahnmal für die Macht des Death Metal, des Doom Metal – und von Mantar! Nicht zuletzt das Coverartwork (»Der Lichtbringer« von Bernhard Hoetger, 1936) unterstreicht, dass das Duo mit seine heftigen Klängen für etwas steht und etwas zu sagen hat. Für die Jury: Sebastian Kessler

Alternative

Anna Calvi: Hunter

Domino Records WIGCD354 (Goodtogo)

Das tollste, klügste und erotischste Album, das man in diesem Jahr bislang zu hören bekommen hat, stammt von der Londoner Sängerin und Gitarristin Anna Calvi. »Hunter« ist ein queeres Manifest, es handelt von dem Wunsch nach sexueller Metamorphose und abwechslungsreichem Geschlechtsverkehr, und ist Calvis konzeptuell schlüssigstes und gerade auch in musikalischer Hinsicht bisher bestes Werk. Es beschenkt uns mit kräftigem Krach und flottem Feedbackgefiepe ebenso wie mit dramatisch schillerndem Technicolor-Pop. Zu kräftig aus der Gitarre herausgekraulten Soli fordert Calvi die Männer auf, die weibliche Seite in sich zu entdecken – sie selber versteht sich hingegen als Alpha-Wesen, das über den Niederungen des Geschlechterdualismus thront. Für die Jury: Jens Balzer

Electronic und Experimental

Helena Hauff: Qualm

Ninja Tune ZENCD253 (Rough Trade)

Do not adjust your stereo! Die Sounds, die auf dem Album der Hamburger Producerin Helena Hauff den Lautsprecher zum Qualmen zu bringen drohen, sind nichts für sensible audiophile Gemüter. Schroffe Beats und Bassläufe aus Old-School-Gerätschaften, schrille perkussive Klänge, zerrende Synthesizerfiguren und allerlei Störgeräusche werden durch Verstärker gejagt und extrem übersteuert, bis sie tief im roten Bereich ineinander übergehen. Hörgewohnheiten bricht Hauff ebenso bewusst wie jegliche Konventionen der Techno-Dancefloortauglichkeit. Gerade in dieser, entfernt an die frühen Neubauten erinnernden Radikalität gewinnt »Qualm« eine ebenso irritierende wie faszinierende Poesie der Gebrochenheit. Man möchte aber dem Sturm nicht ausgesetzt sein, dem diese »Ruhe« vorausgeht – so man die englische Lesart des Titels wählt. Für die Jury: Guido Halfmann

Blues

Henrik Freischlader Band: Hands On The Puzzle

Cable Car CCR 0311-51

Nach Trio-, Quartett- und zuletzt sogar einer kurzlebigen Oktettbesetzung präsentiert sich die neu formierte Henrik Freischlader Band auf diesem Album nun erstmals im Quintettformat. Das vornehmlich relaxt groovend dargebotene Songmaterial stammt dabei einmal mehr komplett aus der Feder des Bandleaders und reflektiert eine deutliche Akzentverschiebung weg vom eher rockbetonten Ansatz vergangener Tage, wobei zugleich das Klangspektrum durch Keyboards und Saxophon eine stimmige Erweiterung erfährt. Performance, Arrangements, Produktion, Soundqualität und nicht zuletzt die an der maximalen Speicherkapazität von Audio-CDs kratzende Gesamtspieldauer von gut dreiundsiebzig Minuten sind rundum überzeugend. Für die Jury: Michael Seiz

Wortkunst

Norbert C. Kaser: meine floete trinkt musik

Tobias Moretti, Otto Lechner, Peter Rosmanith, Linda Wolfsgruber. Klangbuch mit 1 CD, Mandelbaum Verlag ISBN 978-3-85476-568-4

Als »verlogen, verkitscht und kraftlos«, so hat Norbert Conrad Kaser in seiner berüchtigten »Brixener Rede« von 1969 die Literatur Südtirols abgekanzelt. Dem abzuhelfen, hat er selbst in seinem kurzen, durch den Alkohol tragisch verkürztem Leben versucht. Seine Gedichte sind stilistisch und motivisch in seinem Land verwurzelt, aber auch eine eigene, wunderbare Mischung aus doppelbödiger Poesie und der rebellischen Frechheit der Achtundsechziger. Tobias Moretti liest die Texte süffig und mit unaufgeregter Intensität. Ihre Wirkung wird durch die volkstümlich beeinflusste Musik von Lechner und Rosmanith unterstrichen. Das bibliophile Booklet umfasst die Erstveröffentlichung von Kasers zehn »scherzi« im Faksimile sowie zauberhafte Zeichnungen von Linda Wolfsgruber, die Teile der Lesung in einem Animationsfilm interpretiert hat, wie auf der Website des Verlags zu sehen. Für die Jury: Michael Struck-Schloen

Kinder- und Jugendaufnahmen

Kirsten Boie: Thabo – Detektiv & Gentleman. Der Nashorn-Fall.

Ein Hörspiel von Angela Gerrits mit Musik von Jan-Peter Pflug. Mit Alma Bahr, Julia Bareither, Lientje Fischold, Julian Greis, Peter Kaempfe, Felix Lengenfelder, Katharina Matz, Jonathan Ohlrogge, Marko Pauli, Uli Pleßmann, Martin Seifert, Uta Stammer, Jürgen Uter, Benjamin Utzerath. Jumbo ISBN 978-3-8337-3947-7

Thabo lebt mit seinem Onkel Vusi in Hlatikulu in Afrika. Sein großer Plan ist es, einmal Detektiv und Gentleman zu werden. Als ein Nashorn tot aufgefunden wird, dem sein wertvolles Horn fehlt, und dann auch noch Onkel Vusi verdächtigt wird, der Wilderer zu sein, ist seine Stunde gekommen. Mit seinen Freunden macht sich Thabo an die Aufklärung des Verbrechens. Endlich zahlt es sich aus, dass er sämtliche Agatha-Christie-Filme gesehen hat. Kirsten Boie gelingt es, auf spannende und unterhaltsame Weise das Thema Wilderei in Afrika in eine kindgerechte Geschichte zu verpacken, die ohne erhobenen Zeigefinger für das Problem sensibilisiert. Und der NDR hat das Buch in ein lebendiges, rundum hörenswertes Hörspiel für kleine und große Zuhörer verwandelt, das überdies eine Menge Gesprächsstoff bietet. Für die Jury: Margit Hähner

Open