Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

NEU: Longlist 2/2024, veröffentlicht am 5. April 2024

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Dimitri Schostakowitsch: Symphonie Nr. 10

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Mariss Jansons. BR Klassik 900185 (Naxos)

Für den Dirigenten Mariss Jansons waren die Symphonien von Schostakowitsch zeitlebens Herzensangelegenheit und Herausforderung gleichermaßen. Seit dem hundertsten Geburtstag des Komponisten ist er mit einer Gesamteinspielung im Katalog präsent. Auch der jetzt nachgereichte, 2010 entstandene Live-Mitschnitt der Symphonie, ist Teil seines künstlerischen Vermächtnisses: Kein vordergründig-pathetisches Zeitgemälde der Stalin-Diktatur, sondern der souveräne Blick auf den musikalischen Kosmos dieser Musik. Ein ungeheuerer Spannungsbogen hält den disparaten ersten Satz zusammen,das furiose Scherzo ist virtuos musizierte Attacke. Das exzellente BR-Orchester spielt unter seinem langjährigen, jüngst verstorbenen Chef hochdifferenziert in der Klangbalance, kontrastreich in den Temporelationen. Für die Jury: Peter Stieber

Orchestermusik und Konzerte

Ludwig van Beethoven: Die Klavierkonzerte

Ronald Brautigam, Die Kölner Akademie, Michael Alexander Willens. 2 SACDs, BIS Records BIS-2274 (Klassik Center)

Gesamtaufnahmen der Beethovenschen Klavierkonzerte gibt es viele, doch Einspielungen in historisch informierter Aufführungspraxis sind immer noch rar. Hier haben der Pianist Ronald Brautigam und Michael Alexander Willens mit der Kölner Akademie eine neue Marke gesetzt. Allein der charakteristische Klang der beiden verwendeten Hammerflügel verleiht den Interpretationen ein jeweils markantes Profil. Die Musik atmet Leichtigkeit und Frische, der vielzitierte Staub auf den Partituren erscheint wie weggeblasen: ein substantieller Beitrag zum Beethovenjahr 2020. Für die Jury: Norbert Hornig

Kammermusik

Beethoven around the World: Vienna

Streichquartette Nr. 7 & 8 (op.59 Nr. 1 & 2). Quatuor Ébène. Erato 9029539602 (Warner)

Wenn die geplante Weltreise des Quatuor Ébène mit sämtlichen Streichquartetten von Ludwig van Beethoven so weiter geht, wie sie beim Auftakt in Wien begonnen hat, müsste man dem Ensemble eigentlich hinterher reisen. Wer darauf wegen seiner klimapolitischen Schamgefühle lieber verzichtet, kommt wenigstens mit den Live-Mitschnitten der einzelnen Konzerte in den Genuss einer derzeit wohl ultimativen Beethoven-Interpretation. Mit sehr vielen Skrupeln hat das Ébène-Quartett diese Besteigung des Mount Everest vorbereitet, und heraus gekommen ist eine Versenkung in Beethoven, die die Welt um einen herum vergessen lässt. Für die Jury: Lotte Thaler

Kammermusik

Contrasts

Wolfgang Amadeus Mozart: Trio KV 498; Robert Schumann: Märchenerzählungen op.132; Johannes Brahms: Zwei Gesänge op.91; Béla Bartók: Kontraste Sz 111; Ilan Rechtman: Jazzical 2. Sharon Kam, Ori Kam, Matan Porat. Orfeo C 983 191 (Naxos)

Kammermusik ist eine Leidenschaft der großen Soloklarinettistin Sharon Kam. Mit ihrem Bruder Ori Kam, Edelbratscher und Mitglied im Jerusalem Quartet, tritt sie schon seit Kinderzeiten auf. Das schafft eine seltene Vertrautheit im musikalischen Denken, eine fast unheimliche Symbiose, bei aller Verschiedenheit in Stimme, Ausdruck, Farbe oder Phrase. Das Programm ihres neuen Albums haben Kam und Kam gemeinsam mit dem Pianisten Matan Porat mehrfach live aufgeführt, bevor sie ins Studio gingen, es ist gebaut wie ein ideales Konzert: Wandert den Höhenkamm der raren Originalliteratur ab, von Mozart bis Schumann, inklusive jazzverliebter Zugabe. Wechselt für die Herzstücke das Klangkostüm: Die Klarinette singt statt der Menschenstimme bei Brahms. Die dunkle Bratsche wagt sich an den vertrackten Violinpart bei Bartók. Grandios, hinreißend! Für die Jury: Eleonore Büning

Tasteninstrumente

Volodos

Franz Schubert: Klaviersonate D.959, Menuette D.334, D.335, D.600. Arcadi Volodos. Sony Classical 19075868292

Während für alle Welt dieses Jahr ganz im Zeichen Beethovens steht, hat sich Arcadi Volodos entschlossen, seine tiefe Verbundenheit mit der Musik Franz Schuberts zum Ausdruck zu bringen. Wer diesen Pianisten noch immer für einen virtuosen Tastenakrobaten hält, so, wie er seit seinem ersten Auftritt als probater Nachfolger von Vladimir Horowitz gehandelt worden war, der wird hier eines Besseren belehrt. Volodos ist ein ausgewiesener Schubertspezialist, er leuchtet die wechselnden poetischen Perspektiven aus, illuminiert die kühne Harmonik. Mit der späten A-Dur Sonate aus dem Jahr 1827 habe er »jahrelang gelebt«, so Volodos, das hört man. Für die Jury: Christian Kröber

Tasteninstrumente

Wolfgang Rihm und die Orgel

sowie Aufnahmen mit der Originalstimme von Wolfgang Rihm (Künstler im Gespräch Vol. 12). Martin Schmeding, Mirjam Wiesemann, Wolfgang Rihm. Cybele Records 4SACD KiG 012 (Klassik Center)

Nicht selten bedeutet der erste Umgang mit der Königin der Instrumente für einen Musiker den Eintritt in ein reiches und unergründliches, überwältigendes und unendlich komplexes Experimentierfeld der Klänge. Schon viele große Komponisten schätzten die Orgel als unerschöpfliches Klanglabor der Sinne, so auch Wolfgang Rihm – ein großer Musiker unserer Zeit, den man nicht einordnen könne, wie es immer wieder heißt. Diese ungemein wertvolle Produktion begleitet ihn auf einer Spurensuche zu sich selbst. Wolfgang Rihm und Martin Schmeding spielen Rihms gesamtes Orgelwerk und werden dazu interviewt! Einfach großartig! Für die Jury: Martin Hoffmann

Oper

Ludwig van Beethoven: Leonore op.72a

Marlis Petersen, Maximilian Schmitt, Dimitry Ivashchenko, Robin Johannsen, Johannes Weisser, Tareq Nazmi, Johannes Chum, Florian Feth, Julian Popken, Zürcher Sing-Akademie, Freiburger Barockorchester, René Jacobs. 2 CDs, harmonia mundi HMM 902414.15

Die Probleme mit Beethovens einziger Oper sind bekannt. Nun liefert Altmeister René Jacobs mit dem singulären Freiburger Barockorchester, der Zürcher Sing-Akademie und einem sowohl überlegt ausgesuchten wie überzeugend »anderen« Solistenensemble ein fulminantes Plädoyer für die Erstfassung von 1805. Endlich erlebt man Tempi, wie sie einst schon René Leibowitz für die Symphonien vorgelegt hatte. Die von Jacobs akzeptabel modernisierte Sonnleithner-Dialogfassung ergänzt und verbindet die Musik in bestechender Hörspielqualität, sie trägt selbst die Kerkerszene mit. Ergebnis: eine fesselnd-brillante Alternative zu allen »Fidelio«-Aufnahmen. Für die Jury: Wolf-Dieter Peter

Chor und Vokalensemble

Hector Berlioz: Messe solennelle H20

Le Concert Spirituel, Hervé Niquet. Alpha Classics ALPHA 564 (Note 1)

Vollkommen undogmatisch fegt der zwanzigjährige Berlioz durch das Ordinarium, samt Vater, Sohn und heiligem Geist. Obwohl ihm die Uraufführung seiner Messe Solennelle ersten Ruhm einbrachte, war ihm dieser autodidaktische Geniestreich irgendwann peinlich. Er warf (angeblich) das Material in die Flammen, nur die autographe Partitur entging dem selbstkritischen Autodafé. 1992 wurde sie in einer Antwerpener Kirchenbibliothek wiederentdeckt. Hervé Niquet und sein Concert Spirituel rauschen mit vollem Risikoeinsatz über die liturgische Achterbahn, manchmal hart am Entgleisen, aber umso aufregender brodelt die Mélange aus Sakraloper, jugendlicher Leidenschaft und exzentrischer Dramatik. Und die im monarchischen Frankreich übliche Hymne an König und Gottesgnade klingt wie der Sturm auf die Bastille. Famos! Für die Jury: Martin Mezger

Klassisches Lied und Vokalrecital

Edith Mathis

Lieder von Wolfgang Amadeus Mozart, Béla Bartók, Johannes Brahms, Robert Schumann, Richard Strauss und Hugo Wolf (Lucerne Festival 1975). Edith Mathis, Karl Engel. Audite 95.647 (Note 1)

Anmut – dieser Begriff kommt einem sofort in den Sinn, wenn man den historischen Live-Mitschnitt eines Liederabends von Edith Mathis hört. Anmut hat mit Poesie zu tun, mit Natürlichkeit und einer kunstvollen Schlichtheit. Anmut kann aber auch pragmatische Aspekte beinhalten: Edith Mathis, damals, 1975, im Zenit ihres Könnens, hatte sich stets an die Möglichkeiten ihrer Stimme gehalten. Sie ist sich selbst treu geblieben, um als Interpretin vielseitig sein zu können. So trifft sie Schumanns lyrische Innerlichkeit ebenso wie die Drastik der »Dorfszenen« von Bartók, die schwärmerische Gefasstheit von Mozarts »Abendempfindung« ebenso wie die Pointen bei Richard Strauss. Man spürt die Konzentration der Zuhörer. Und teilt ihre Begeisterung. Für die Jury: Stephan Mösch

Alte Musik

Johannes Ockeghem: Complete Songs, Volume 1

Blue Heron, Scott Metcalfe. Blue Heron BHCD 1010 (Klassik Center)

Mit dieser Einspielung, Teil eines groß angelegten Ockeghem-Projekts, wirft das Vokalensemble Blue Heron aus Boston ein neues Licht auf einen der einflussreichsten Komponisten des fünfzehnten Jahrhunderts. Anders als in der geistlichen Musik Ockeghems sind seine weltlichen Lieder auf Dreistimmigkeit beschränkt, bisweilen farblich angereichert durch den subtilen Einsatz von Harfe und Fidel. Gelassen und doch sinnlich interpretiert, plastisch und transparent zugleich gestaltet gewinnen diese vernachlässigten Chansons eine bisher ungeahnte Ausstrahlung, die Herz und Geist gleichermaßen erreicht. Für die Jury: Carsten Niemann

Zeitgenössische Musik

Flock

Werke von Carola Bauckholt, Jan Martin Smørdal, Henrik Strindberg, Malin Bång und Natasha Barrett. Karin Hellqvist. Lawo Classics LWC1179 (Klassik Center)

Die schwedische Geigerin Karin Hellqvist zählt zu den aktivsten Spezialistinnen für zeitgenössische Musik im Norden. Neben ihrer solistischen Tätigkeit ist sie in diversen Ensembles aktiv, darunter Cikada, Oslo Sinfonietta, Ensemble neoN. Auf ihrer neuen Solo-CD versammelt sie Werke, die das »Werkzeug« Violine befragen zu Klangfarbenchangierungen und präludierender Virtuosität. Es geht allemal um feine Details, sei es klangfarblicher, dynamischer oder rhythmischer Natur. »Zuhören als Methode«, schreibt dazu treffend Hild Borchgrevink, die Autorin der Linernotes. Karin Hellqvist spielt mit hoher Genauigkeit, Leichtigkeit und Zartheit. Einige Kompositionen integrieren Elektronik oder Zuspielungen, die Hellqvist organisch mit ihren Violinklängen in Interaktion bringt. Für die Jury: Nina Polaschegg

Historische Aufnahmen

Moura Lympany. The Decca Legacy

Werke von Rachmaninow, Chopin, Mendelssohn, Liszt, Schumann, Grieg u.v.a.. National Symphony Orchestra, London Symphony Orchestra, BBC Symphony Orchestra, London Philharmonic Orchestra, New Symphony Orchestra, Boyd Neel, Royalton Kisch, Sidney Beer, Warwick Braithwaite, Anatole Fistoulari, Adrian Boult u.a. 7 CDs, Eloquence/Decca 482 9404 (Klassik Center)

Die musikalischen Wurzeln Moura Lympanis reichen über ihre Lehrerin Mathilde Verne bis zu Clara Schumann zurück. Sie erwarb sich einen hervorragenden Ruf für das russische Repertoire: Insgesamt hat Lympany die hier zweimal vorliegenden Rachmaninow-Preludes dreimal eingespielt, ihr Khachaturian-Konzert war eine der ersten Studioaufnahmen des Werkes überhaupt. Mendelssohn, Schumann und Grieg vertreten die Romantiker in dieser Edition, Konzerte und Sonaten von Liszt, Chopin und Saint-Saëns sind weitere pianistische Glanzlichter. Mit den erstmalig veröffentlichten BBC-Mitschnitten von Werken Barbers und Rawsthornes kommt die angelsächsische Moderne zur Geltung. Für die Jury: Stephan Bultmann

Grenzgänge

Synesthetic4: Pickedem

Peter Rom, Manuel Mayr, Andreas Lettner, Vincent Pongrácz. JazzWerkstatt Records JWR 03/19 (Lotus)

Dolphy, Zappa, Tony Williams? Große Namen stellen sich sofort ein zum Vergleich, doch erweist sich der Sound des Quartetts Synesthetic4 als eine unverwechselbar eigene, herausfordernde Mischung. Ausgefeilte Bläsersätze, akrobatische Gitarrenriffs, eine irre Bühnenshow mit Masken- und Lichteffekten sowie punktgenaue Rap-Texte à la Chaplin in einer selbsterfundenen, klanggerechten Sprache: Der Wiener Klarinettist und Komponist Vincent Pongrácz legt mit »Pickedem« ein furioses, noch dazu tanzbares Abenteuer vor. Nicht allein im CD-Schubfach zu genießen, aber dort erst recht! Für die Jury: Nikolaus Gatter

Filmmusik

Hildur Guðnadóttir: Joker

(Original Motion Picture Soundtrack). The Hollywood Studio Symphony Orchestra. CD / DL, Watertower Music 9404320322 (Warner)

Mit der dröhnenden Gewissheit der Superhelden-Kino-Kracher haben die Soundtracks der Isländerin Hildur Guðnadóttir gar nichts gemein. Was sie neben ihrer ebenso beeindruckenden Arbeit für die HBO-Miniserie »Chernobyl« als Atmosphären-Verdichtung für den Film »Joker« von Todd Phillips komponiert hat, lässt die konventionelle Bild-Beschallung weit hinter sich. Ihre Musik greift ein in den Film. Teile von »Joker« wurden überhaupt erst nach der von ihr vorgelegten Filmmusik gedreht, etwa die stärkste, schlimmste Szene: das Ein-Mann-Ballett von Joaquin Phoenix zu einem finsteren Cello-Lamento, nach seiner Verwandlung in eine Bestie. So spielt Guðnadóttirs Komposition, verzweifelt und verstörend, eine unsichtbare, unvergessliche Hauptrolle in diesem Psychodrama. Für die Jury: Joachim Mischke

Musikfilm

The Brahms Code

A music documentary by Christian Berger; Johannes Brahms: The Complete Symphonies. Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, Paavo Järvi. Blu-ray C-Major 735004 / DVD C-Major 734908 (Naxos)

Der Titel klingt wie ein Thriller. Und in der Tat steckt hinter dieser Film-Dokumentation eine spannende, zugleich luzide Werkeinführung. Der Regisseur Christian Berger begleitet die Bremer Kammerphilharmonie und ihren Dirigenten Paavo Järvi bei der Arbeit an der Aufnahme der Brahms-Symphonien. Wie sie diese Werke erforschen und jede Orchesterstimme besondere Bedeutung gewinnt auf dem Weg in die Vielstimmigkeit, auf diesen Prozess baut Berger seine Filmmontage auf. Proben- und Konzertausschnitte werden ergänzt durch Einzelinterviews mit Musikern zu Werkdetails und Notenauszügen. Brahms wird so visuell nach-komponiert. Das Auge hört förmlich mit. Kurzum: Eine brillante filmische Begleitung auf dem Weg zum verstehenden Hören. Für die Jury: Thorsten Lorenz

Jazz

Jacky Terrasson: 53

Blue Note 080819 6 (Universal)

Der Titel des Albums spielt auf das Alter des Pianisten an: Zum Zeitpunkt der Aufnahme war Jacky Terrasson dreiundfünfzig Jahre alt. So gelassen, wie er damit umgeht, so klingen auch die sechzehn Stücke. Fünfzehn davon hat er selbst komponiert. Das sechzehnte, »Lacrimosa«, stammt aus Mozarts Requiem. Ein großartiger Melodiker ist Terrasson, ein Meister der Zwischenräume, in denen seine wechselnden Triopartner auf Kontra- oder Elektrobass und Schlagzeug die Melodien fortführen oder beantworten. Er beherrscht die Kunst, auf hohem musikalischem Niveau äußerst angenehm zu unterhalten. Für die Jury: Werner Stiefele

Jazz

Shake Stew: Gris Gris

2 CDs, Traumton Records TT 4678-2 (Indigo)

Brillante Bläser bahnen sich den Weg durch brodelnde Rhythmen. Das Schlagzeug ist doppelt besetzt, der Bass ebenfalls. Der Trompeter und die beiden Saxophonisten jubilieren. Die Geschichte des Jazz klingt an, Afrikanisches, Futuristisches. Verortet ist das rasante Spiel des österreichisch-deutschen Septetts um den Bassisten Lukas Kranzelbinder unüberhörbar im Hier und Jetzt. Die Musik schreit heraus und sie reflektiert zugleich, auch ohne verbale Verlautbarung spürt man die Dringlichkeit der Mitteilung. Die unausgesprochenen Zauberworte heißen Magie und Energie. Dazu braucht es ein Doppelalbum, mindestens. Shake Stew bringt etwas Kultisches in den aktuellen Jazz, eine Bereicherung. Für die Jury: Bert Noglik

Weltmusik

La Repetition (Orchestra senza confini): Mondo!

CD / DL, Finisterre FT80 (Direktvertrieb)

Es geht um »Die Welt!« Mit Rufzeichen! Diesem Appell wird das Album gerecht. Hier ist Welt-Musik im besten Sinn entstanden – aus der Begegnung von Musikschaffenden im süditalienischen Salento, und zwar von einheimischen mit solchen, die es aus dem nicht allzu weit entfernten Afrika hierher an den Absatz des Stiefels verschlagen hat. »Wir sind gleich«, heißt es im programmatischen ersten Stück. Das Ergebnis klingt erfreulich wenig nach moralischem Imperativ, sprüht vielmehr vor Spiel- und Lebensfreude, rhythmisch und melodiös mal mehr in Westafrika, mal mehr in Apulien zu Hause: dies- und jenseits des gemeinsamen Meeres. Für die Jury: Johann Kneihs

Traditionelle Ethnische Musik

Misagh Joolaee (mit Sebastian Flaig): Ferne

CD / DL, Pilgrims of Sound 4260187722201 (Direktvertrieb)

Mit ihrem winzigen Resonanzkörper erzeugt die persische Stachelgeige Kamancheh einen einzigartigen Klang, aus rauschhaften Obertönen, filigran, wispernd, schmerzlich. Der in Deutschland lebende Virtuose Misagh Joolaee hat ihr Spektrum auf spannende Weise erweitert: Begleitet von der frischen Schlagwerkkunst Sebastian Flaigs experimentiert er mit verblüffend neuen Zupf- und Streichtechniken, er erweitert den Ausdrucksmittel durch ungewöhnliche Intervalle und Doppelgriffe. Und über das pure Handwerk hinaus ist »Ferne« zugleich auch immer ein berührender, wortloser Spiegel der intensiven Seelenzustände eines Exilanten. Für die Jury: Stefan Franzen

Liedermacher

Felix Meyer & project île: Die im Dunkeln hoert man doch

2 CDs, SPV Recordings 288190 2CD (SPV)

Felix Meyer hat viele Jahre auf den Straßen Europas Musik gemacht, jetzt lebt er wieder in Berlin. Er macht Lieder – insofern kann er mit dem Begriff »Liedermacher« leben. Sein fünftes Album hat er in Anspielung auf Bertolt Brechts berühmten Mackie-Messer-Song benannt. Ein höchst kreativer Umgang mit Worten ist Seins, auch das Nachdenken über die Welt. Er besingt Europa, und behauptet in dem Stück »Steh auf«: »Wenn man etwas denken kann, kann man es auch bewegen.« Das klinge zwar gut, so sagt Meyer selbst: »Stimmt aber nicht. Aber: Es ist eine schöne Utopie.« Stilistisch sind seine Songs, die er mit Band interpretiert, zwischen Chanson, Folk, Pop und etwas Jazz angesiedelt. Seine kraftvolle Stimme ist unverkennbar. Für die Jury: Petra Schwarz

Folk und Singer/Songwriter

Unterbiberger Hofmusik: Dahoam und Retour

CD + DVD, Himpsl Records HPS1901 (Galileo)

Es dauert keine Minute, dann ist es vorbei mit der bayerischen Blasmusik herkömmlicher Prägung. Die Unterbiberger Hofmusik hat sich noch nie damit zufrieden gegeben, was im Alpenland an Tönen zu finden ist. Das erweiterte Familienunternehmen Himpsl verspricht Dicke-Backen-Musik mit ordentlich Drive. War es früher vor allem der Jazz, so mischen sich heute auch Klänge aus der arabischen Welt in die traditionellen Sätze. Was die Unterbiberger an Musik von ihren Reisen in andere Ländern mitbringen, kann alle überraschen: das heimische und das auswärtige Publikum. Insofern ist der Titel Dahoam und Retour gut gewählt für diesen köstlichen Konzertmitschnitt aus Taufkirchen. Und wer’s hört, der mag’s vielleicht auch sehen. Eine DVD liefert die Bilder dazu. Für die Jury: Imke Turner

Pop

Nick Cave and The Bad Seeds: Ghosteen

2 CDs, Ghosteen Ltd BS016CD (Rough Trade)

Ein zutiefst menschliches Album: Ein Vater erzählt vom Verlust seines fünfzehn Jahre alten Sohnes, der bei einem Unfall starb. Nick Cave unterteilt das Doppelalbum in eine Kinder- und eine Erwachsenen-Seite. Er gestaltet mit seinem Kompagnon Warren Ellis einen eigenen, mitunter paradiesischen Kosmos. Erstmals singt Cave im Falsett, dazu erklingen Flöte und Geige. Chöre gospeln im Background, Synthesizer flirren. Die bisweilen meditative, überweltliche Atmosphäre wirkt tröstlich. In diesen Songs ist der »Ghosteen« zu spüren, der Geist eines Teenagers, dessen Andenken die Musik aufbewahrt. Für die Jury: Philipp Holstein

Hard und Heavy

Avatarium: The Fire I Long for

Nuclear Blast 2736146750 (Warner)

Avatarium um Sängerin Jennie-Ann Smith kann etwas, das den meisten Bands heute abgeht: Atmosphäre erzeugen. »Voices« ist großes schwarzes Black-Sabbath-Kino. »Rubicon« verbreitetet eine wohlige Uriah-Heep-Lagerfeuer-vor-der-Zauberhöhle-Wärme und »Porcelain Skull« gehört zum heavysten, was Hauptsongwriter Leif Edling je aus der Gruft gelassen hat. Das flotte »Shake That Demon« ist der booty shaker für die nächste Walpurgisnacht. Doch bleibt es nicht beim Schwelgen in der goldenen Ära des Rock: Mit »Lay Me Down« geht Avatarium über die Genre-Grenzen des Doom Metal hinaus. Vielleicht klappt es ja doch noch mit dem großen Durchbruch. Baphomet würde es freuen… Für die Jury: Felix Mescoli

Alternative

FKA twigs: Magdalene

Young Turks 05181782 (Indigo)

Das Wirken von Tahliah Barnett als FKA twigs darf man getrost mit dem viel strapazierten Wort Gesamtkunstwerk bezeichnen. Videos, Performance und Tanz sind die Mittel, mit denen sie ihre Musik veredelt. Nötig wäre das allerdings nicht, denn wie schon ihr hervorragendes Debütalbum »LP1« von 2014 ist auch »Magdalene« zu einem musikalischen Glanzstück geraten. Geschickt entzieht sich die junge Britin mit ihrem Alternative-R’n‘B allen Genreklassifizierungen. Ihre neun Songs sprühen nur so vor Einfällen, über den oft sphärischen Tracks erhebt sich glasklar ihre fragile Singstimme. Für die Jury: Jan Ulrich Welke

Blues

Toronzo Cannon and The Chicago Way: The Preacher, The Politician or The Pimp

Alligator ALCD 4995 (in-akustik)

Wenn ein weithin anerkanntes Blueslabel wie Alligator Records einen Semiprofi unter Vertrag nimmt, der im Hauptberuf als Busfahrer in Chicago arbeitet, dann könnte dies auf den ersten Blick durchaus verwundern. Dagegen hilft allerdings schon das erste Hören dieses Albums: Toronzo Cannon erweist sich nicht nur als virtuoser Gitarrist und emphatisch ausdrucksstarker Sänger. Er ist, darüber hinaus, ein kreativer Songschreiber, der es fantastisch versteht, Elemente des traditionellen Chicago Blues mit modernen, rockinspirierten Sounds zu einem neuen harmonischen Klanggefüge zu verschmelzen. Für die Jury: Michael Seiz

R&B, Soul und Hip-Hop

Terri Lyne Carrington & Social Science: Waiting game

2 CDs, Motéma 39147222 (Rough Trade)

Das von Motéma Music, New York, vorgelegte Zweigangmenü »Waiting Game« von Grammy-Gewinnerin und Schlagzeugerin, Komponistin sowie Sängerin Terri Lyne Carrington aus Boston ist ambitioniert, anspruchsvoll und anstrengend. Fastfoodisches Nebenbei-Snacken unmöglich! Vor allem die improvisierte 42 Minuten dauernde Jazz-Suite im Nachgang der elf Song-Tracks verlangt volle Hingabe an den Genuss. Die Songs, welche Carrington mit ihrer Band Social Science auftischt, machen es sich bequem zwischen Jazz, Soul, Inspirational Music, Spoken-Word und HipHop. Zugleich sind sie ein in groovige Klangvielfalt gegossenes politisches Statement – gegen Polizeigewalt, Homophobie und Diskriminierung; für Toleranz, Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Für die Jury: Torsten Fuchs

Wortkunst

Christopher Isherwood: Leb wohl, Berlin

Hörspiel mit Mathieu Carrière, Laura Maire, Barbara Philipp, Matthias Bundschuh, Bernhard Schütz, Timo Weisschnur, Udo Kroschwald, Felix von Manteuffel, Friedhelm Ptok, Martin Engler, Wanja Mues, Christopher Nell, Regie: Leonhard Koppelmann, Bearbeitung: Heinz Sommer, Musik: Jörg Achim Keller. 4 CDs, Der Hörverlag ISBN 978-3-8445-3631-7

Die Zeit geht aus den Fugen, und schon nach Sekunden ist man mittendrin. Leonhard Koppelmann und Heinz Sommer haben mit ihrer Adaption von Isherwoods berühmtem Gesellschaftsporträt lebendiges Hörkino vom Allerfeinsten geschaffen. Hier passt wirklich alles: Atmosphäre, Stimmen, O-Töne, Musik. Letztere stammt von Jörg Achim Keller, der erfreulicherweise auf einer Extra-CD viel wunderbares, tanzbares Bonusmaterial beisteuert. Eine blitzgescheite Dramaturgie, rasche Szenenwechsel und überraschende Effekte sorgen für atemloses Zuhören, Mitfühlen, Mitfiebern. Für die Jury: Jörn Florian Fuchs

Kinder- und Jugendaufnahmen

Gwen Lowe: Kicheritis – Anstecken erlaubt!

Das Hörspiel. Victoria Schaay, Hermann Beyer; Regie: Robert Schoen; Musik: Henrik Albrecht. Der Audio Verlag ISBN 978-3-7424-1166-2

Ordnung, Sauberkeit und Hygiene sind die Gebote der neuen Politik. Kinder, die dagegen verstoßen, kommen in Umerziehungsheime, wo alles verboten ist, was Spaß macht. Doch Alice, Hauptfigur in diesem Hörspiel, hat das gefährliche Positiv-Virus – kurz: »Pirus« genannt – , das kindliches Chaos und gute Laune verbreitet. Eine wilde Verfolgungsjagd der Gesundheitsfanatiker nach ihr beginnt. Selbstverständlich siegen am Ende die einfallsreichen Kinder. Robert Schoen inszeniert akustisch detailreich und absolut liebevoll. Die Handlung ist hinreißend absurd, kurzweilig und witzig, alle Rollen – Kinder wie Erwachsene – sind perfekt besetzt, und unverzichtbar ist die kongenial unterstützende Musik von Henrik Albrecht. Für die Jury: Carola Benninghoven

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