Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

NEU: Longlist 4/2024, veröffentlicht am 5. Oktober 2024

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Beethoven: Symphonien 5 & 7

Ludwig van Beethoven: Symphonien Nr. 5 c-moll op. 67 & Nr. 7 A-Dur op. 92. NDR Radiophilharmonie, Andrew Manze. SACD, Pentatone PTC 5186 814 (Naxos)

Programmpsychologisch scharf belegt, entsprechend auch interpretationsgeschichtlich belastet, sind die fünfte und die siebte von Beethovens neun Symphonien eine ganz besondere Herausforderung für die Dirigenten. Andrew Manze trägt sie ohne den leisesten Hauch von Pathos vor: klar, hochdifferenziert, klanglich schlank, ausdrucksstark in jeder Wendung, mit ansteckender Spielfreude. Im Vertrauen auf ein akademisches Kapellmeister-Ethos im besten Sinne »macht« er Musik, als sei die selbstverständlich, überzeugend einfach. Das überwältigt auf eigene Weise. Für die Jury: Hanspeter Krellmann

Orchestermusik und Konzerte

Franz Joseph Clement: Violinkonzerte Nr. 1 & 2

Franz Joseph Clement: Violinkonzerte Nr. 1 D-Dur & Nr. 2 d-moll/D-Dur. Mirijam Contzen, WDR Sinfonieorchester, Reinhard Goebel. Sony Classical 19075929632

Die Idee Reinhard Goebels, vergessene Werke aus dem Umfeld Beethovens wieder zugänglich zu machen, erweist sich als ein »Kollateral-Nutzen« des Beethovenjahres. Den Wiener Geigenvirtuosen Franz Joseph Clement, zum Beispiel, kannte man bisher eigentlich nur durch die launige Widmung des Violinkonzerts op. 61: »par Clemenza pour Clement«. In seinen beiden groß angelegten Violinkonzerten ist der um zehn Jahre jüngere Clement nun als ein ernsthafter Komponist zu entdecken, absolut überzeugend interpretiert durch die großartige Mirijam Contzen und das WDR Sinfonieorchester unter Goebel. Sie nehmen die Musik gebührend ernst, um sie in allen Nuancen auszuleuchten. Für die Jury: Michael Stegemann

Kammermusik

Mendelsohn - Enescu: Oktette

Felix Mendelssohn Bartholdy: Oktett Es-Dur op. 20; George Enescu: Oktett für Streicher C-Dur op. 7. Gringolts Quartet & Meta 4. SACD, Bis Records BIS-2447 (Klassik Center)

Nach einigen diskographischen Anläufen ist es jetzt endlich da, das Streichoktett op. 7 von Georges Enescu. Wie filigran die acht Musiker vom Gringolts und vom Meta4 Quartett diese polyphone Partitur durchleuchten, wie selbstverständlich sie Kantabilität mit Kontrapunkt verbinden und wie hingebungsvoll sie sich den emotionalen Schichten des Werks aussetzen, das überspringt einige Stufen auf der Interpretationsleiter. Das gilt auch für das dazu kombinierte Mendelssohnsche Oktett: Man höre sich nur das Scherzo daraus an, da spukt es tatsächlich, nicht mehr »romantisch«, sondern geräuschhaft, modern. Für die Jury: Lotte Thaler

Kammermusik

A Tribute to Ysaÿ

Werke von Eugène Ysaÿe, Ernest Chausson, Guillaume Lekeu, César Franck und Claude Debussy. Nikita Boriso-Glebsky, Elina Buksha, Renaud Capuçon, Hyeon Jin Jane Cho, Augustin Dumay, Lorenzo Gatto, Yossif Ivanov, Kerson Leong, Vladyslava Luchenko, Maria Milstein, Tedi Papavrami, Júlia Pusker, Miguel da Silva, Hélène Dessaint, Henri Demarquette, Gary Hoffman, Astrig Siranossian, Danilo Squitieri, Jonathan Fournel, Pavel Kolesnikov, Julien Libeer, Jean-Claude Vanden Eynden, Quatuor Hermès, Brussels Philharmonic, Orchestre Philharmonique Royal de Liège, Stéphane Degout, Christian Arming, Jean-Jacques Kantorow, Francois-Xavier Roth. 5 CDs, Fuga Libera FUG 758 (Note 1)

Im vorigen Jahr ehrte die Chapelle Musicale Reine Elisabeth in Brüssel ihren Gründungsvater Eugène Ysaÿe. Diese Jubiläums-Box dokumentiert das außergewöhnliche Festival, das dem hoffnungsvollen Nachwuchs der Akademie einen roten Teppich ausrollte, im gemeinsamen Auftritt mit berühmten Ehemaligen, Lehrern und Alumni. Ergänzend zur Best-Off-Werkschau des großen belgischen Geigers, Komponisten und Musiknetzwerkers spielen sie Schlüsselwerke des Fin-de-Siècle, die ihm gewidmet sind: Ein Zeitalter wird besichtigt, ein Netzwerk der damaligen Avantgarde hörbar, mit eleganten Kantilenen, langem Bogenstrich und vollem Ton, wie es dem Ysaÿeschen Ideal und der französischen Geigenschule entspricht. Für die Jury: Eleonore Büning

Tasteninstrumente

Kaikhosru Shapurji Sorabji: Sequentia Cyclica

Super Dies Irae ex Missa Pro DefunctisJonathan Powell. 7 CDs, Piano Classics PCL10206 (Edel)

Die Dies Irae-Sequenz der Totenmesse hat schon viele Komponisten zu bedeutenden Werken inspiriert. Aber noch keiner schuf ein solches Opus magnum wie der exzentrische britische Komponist, Pianist und Musikkritiker Kaikhosru Shapurji Sorabji. Er schrieb für seine »Sequentia Cyclica« 27 Variationen über diesen Hymnus, die zusammen mehr als acht Stunden dauern. Eine moderne Tonsprache verbindet sich mit barocken Formen, teilweise mediativ-schlicht, dann wieder komplex und hochvirtuos. Jonathan Powell, dem Uraufführungs-Pianisten, ist 2015 diese Ersteinspielung gelungen, in der sich musikalische Größe und Transparenz mit einer gewaltigen Ausdrucksfülle perfekt mischen. Für die Jury: Gregor Willmes

Tasteninstrumente

Organic Creatures. Medieval Organs Composed Decomposed Recomposed

Werke von Hildegard von Bingen, Catalina Vicens, Perotinus Magnus, Gherardello da Firenze, Francesco Landini, Antonio Zacara da Teramo, Adam Ileborgh, Gilles Binchois, Heinrich VIII., John Dunstable, Heinrich Isaac. Catalina Vicens. 2 CDs, Consouling Sounds SOUL0139 (Direktvertrieb)

Als Spezialistin für alte Tasten erkundet Catalina Vicens mittelalterliche Klangwelten. Dazu bespielt sie verschiedene Instrumente, vom Portativ über Rekonstruktionen nach historischen Bildvorlagen bis hin zur ältesten spielbaren Orgel der Welt. Mit den klanglichen und spieltechnischen Möglichkeiten dieses Instrumentariums entwirft Vicens das faszinierende und facettenreiche Klangbild einer lange vergangenen Zeit – in überragender, alte Klangsphären neu eröffnender und ebenso neue Klangwelten erschließender Weise, und schlägt damit zugleich eine spannende Brücke ins 21. Jahrhundert. Herausragend! Für die Jury: Guido Krawinkel

Oper

Georg Friedrich Händel: Agrippina

Joyce DiDonato, Franco Fagioli, Elsa Benoit, Luca Pisaroni, Jakub Józef Orliński, Andrea Mastroni, Carlo Vistoli, Biagio Pizzuti, Marie-Nicole Lemieux, Il Pomo d’Oro, Maxim Emelyanychev. 3 CDs, Erato 0190295336585 (Warner)

Agrippina, Mutter des Kaisers Nero, ist auf jeden Fall ein prachtvolles Biest: Verkörpert von Joyce DiDonato wird sie, ganz nach Machtbedarf, herrisch oder unterwürfig, Einflüsterin, Nymphomanin oder beste Freundin. Verführt dazu hat sie Maxim Emelyanychev, der mit seinem Ensemble Il Pomo d’Oro für Spannung sorgt in diesem Opernpolitthriller. Der Farbenreichtum der Instrumentation blitzt hier ebenso wie der Glanz der Stimmen. Jakub Józef Orliński als ewig schmachtender Ottone, Franco Fagioli als koloraturenschleudernder Nerone, Elsa Benoit als hübsch kokette Poppea: So einen All-Star-Cast können heute nur noch wenige Studioproduktionen zusammentrommeln. Für die Jury: Michael Stallknecht

Oper

Jacques Offenbach: Maître Péronilla

Véronique Gens, Éric Huchet, Antoinette Dennefeld, Chantal Santon-Jeffery, Anaïs Constans, Tassis Christoyannis, Orchestre National de France, Chœur de Radio France, Markus Poschner. 2 CDs, Bru Zane BZ 1039 (Note 1)

Zum Offenbach-Jubiläum ein Spätwerk von 1878, live mitgeschnitten aus dem Théâtre des Champs-Élysées – das scheint den Dirigenten Markus Poschner in Champagnerklanglaune versetzt zu haben. Das imaginäre Spanien funkelt, es blitzt und kastagnettenknallt rund um den juristisch-amourös-intriganten Skandal, dass die hübsche Manoëla im Halbdunkel der Kirche vermeintlich den Heiratskontrakt mit dem reichen alten Guardona signiert, am Altar aber den geliebten jungen Alvarès vorfindet… Turbulenzen genug für die fünfundzwanzig bestens besetzten Partien, darunter Antoinette Dennefeld, die in der Hosenrolle als Notarsgehilfe Frimouskino alle überstrahlt. Für die Jury: Wolf-Dieter Peter

Chor und Vokalensemble

Luciano Berio: Coro; Cries of London

Norwegian Soloists’ Choir, Norwegian Radio Orchestra, Grete Pedersen. SACD, Bis Records BIS-2391 (Klassik Center)

»Coro« nannte Luciano Berio sein Werk Mitte der Siebziger, da war er am besten. Sein damals entstandenes Großwerk ist so knapp, wie der Ansatz dieses abstrakten Oratoriums allumfassend: Was Gesang irgendwo auf der Welt an Affekten zwischen Wahn und Wonne abzubilden vermag, Berio rief es ab. Und der Norwegian Soloists’ Choir mit den je einem der 40 Sänger zugeordneten Instrumentalisten reicht es unter Grete Pedersen bereitwillig weiter. Ein Hauptwerk der chorsymphonischen Moderne, ganz unprätentiös und sinnlich ausmusiziert – und für BIS fabelhaft produziert. Für die Jury: Peter Korfmacher

Alte Musik

Marc-Antoine Charpentier: Orphée aux enfers

Marc-Antoine Charpentier: Orphée descendant aux enfers, H471; La descente d’Orphée aux enfers, H488. Déborah Cachet, Reinoud van Mechelen, Zsuzsi Tóth, Clara Coutouly, Victoria Cassano, Raphael Höhn, Philippe Froeliger, Geoffroy Buffière, Vox Luminis, A Nocte Temporis, Lionel Meunier. Alpha Classics ALPHA 566 (Note 1)

Weil ihm die Bühne durch das Opern-Monopol Jean-Baptiste Lullys verwehrt war, hat Charpentier dieses klein besetzte Werk für das Privatkonzert einer adligen Mäzenin komponiert. Die Mini-Oper erzählt vom Abstieg des mythischen Sängers Orpheus in die Unterwelt, wo er mit seinem Gesang die Qualen der schuldbeladenen Verdammten mildert. Sie bezaubert durch eine berückende Musik, deren instrumentaler wie vokaler Farbenreichtum in dieser Neuaufnahme geradezu magisch zum Klingen gebracht wird. Überragend Renaud van Mechelen als Orphée, der mit der elegisch-herben Süße seiner Klagen selbst das harte Herz des Unterweltgottes Pluto bezwingt. Eine CD für die einsame Insel! Für die Jury: Uwe Schweikert

Zeitgenössische Musik

Luciano Berio: Chemins

Luciano Berio: Chemins I, II, IIb, IIc, III, IV, V, Kol od (VI), Récit (VII). WDR Sinfonieorchester, Christophe Desjardins, Pablo Márquez, Andreas Mildner, Andreas Langenbuch, Maarten Dekkers, Martin Griebl, Lutz Koppetsch, Peter Eötvös, Emilio Pomàrico, Mariano Chiacchiarini, Bas Wiegers, Manuel Nawri, Jean-Michaël Lavoie, Brad Lubman. 2 CDs, bastille musique bm011 (rudi mentaire distribution)

Luciano Berio komponierte insgesamt neun Stücke mit dem Titel »Chemins«, die sich alle auf jeweils eine seiner berühmten »Sequenze« beziehen – jene Solostücke, die zwischen 1958 und 2002 entstanden sind. Die »Chemins« fügen den Soloparts ein orchestrales Ensemble hinzu und verwandeln sie damit in kleine und äußerst hörenswerte Konzertstücke. Zwar sind sie nicht als ein Zyklus von Berio angelegt. Doch dem WDR Sinfonieorchester ist jetzt das wirklich verwegene Projekt gelungen, erstmalig alle neun »Chemins« auf einer Doppel-CD zu veröffentlichen. Eine editorische Sensation! Chapeau vor allen Beteiligten! Für die Jury: Marita Emigholz

Historische Aufnahmen

Dinu Lipatti plays Piano Concertos Vol. 3

Edvard Grieg: Konzert a-moll op. 16; Franz Liszt: Konzert Nr. 1 Es-Dur S.1247; Béla Bartók: Konzert Nr. 3 Sz.119; Dinu Lipatti: Concertino en style classique op. 3. Dinu Lipatti; Philharmonia Orchestra, Alceo Galliera; Orchestre de la Suisse Romande, Ernest Ansermet; Orchester des Südwestdeutschen Rundfunks, Paul Sacher. Stream / DL, archiphon ARC-WU 247 (Direktvertrieb)

Das Label Archiphon aus Kehl am Rhein setzt sich, inspiriert und angeführt von Werner Unger, seit Jahrzehnten vorbildlich ein für Erhalt und Restaurierung alter Tonaufnahmen – seit 2012 auch verbreitet über Onlineformate. Das besondere Verdienst der Dinu-Lipatti-Serie ist es, diskografisch aufzuräumen mit den Mythen, die diesen früh verstorbenen Ausnahme-Pianisten umgeben. Das dritte Album präsentiert neben klanglich aufbereiteten Wiederveröffentlichungen (Liszt/Grieg) auch die 1990 von Archiphon erstveröffentlichten Raritäten, die Lipatti als Interpret zeitgenössischer bzw. eigener Werke (Bartók/Lipatti) zeigen, rekonstruiert nach einem Magnetton-Tape bzw. Testpressungen aus Privatbesitz. Für die Jury: Stephan Bultmann

Grenzgänge

Giorgi Mikadze: Georgian Microjamz

RareNoise Records RNR116 (Cargo)

Georgien kann nicht nur Buchmesse – zwischen Schwarzmeer und Kaukasus brodelt eine der ältesten, klangreichsten Musikkulturen. Jazzpianist Giorgi Mikadse beschwört mit seiner CD alle Epochen gleichzeitig herauf. Er verwebt mikrotonale Intervalle mit Freistil-Folklore und schrägen Keyboardklängen zu schrillbunten Klangteppichen, die er »Mikrojamz« nennt. Nana Walischwili steuert eine Totenklage aus dem russisch-georgischen Konflikt von 2008 bei. Obertöne liefert das Basiani-Chorensemble. Für die globalisierende Perspektive sorgen Schlagzeuger Sean Wright sowie E-Gitarrist David »Fuze« Fiuczynski und Bassist Panagiotis Andreou – Wechselbäder der Polyphonie aus einem Land klimatischer Extreme! Für die Jury: Nikolaus Gatter

Filmmusik

Thomas Newman: 1917

Original Motion Picture Soundtrack. Sony Classical 19439702762

Wie muss ein Soundtrack für einen zweistündigen Kriegsfilm klingen, in dem es keinen klar sichtbaren Schnitt gibt? Wie reagiert man auf das Tempo, wie ummantelt man den kunstvoll konstruierten Spannungsbogen? Sam Mendes hat sich mit »1917« auf das sehr spezielle Kino-Risiko eingelassen, Thomas Newman fand dafür den genau richtigen Tonfall. Sein Soundtrack macht einen weiten Bogen um das Action-Gedröhne, das dieses Genre so oft konventionell beschallt. Stattdessen lieferte Newman Atmosphäre und Reibung, Kontraste und Kommentare. Für die Jury: Joachim Mischke

Musikfilm

Lucas Debargue – To Music

A Film by Martin Mirabel. Lucas Debargue, Rena Shereshevskaya, David & Alexandre Castro-Balbi. Naxos DVD 2110639 / Naxos Blu-ray NBD0101V

Dieser Film zeigt einen ernsten, offenen und reflektierenden Musiker, der mit knapp dreißig Jahren noch nicht sicher ist, wohin seine Karriere gehen soll. Erfolgreich als Solist und Kammermusiker, gilt die große Leidenschaft Lucas Debargues dem Komponieren. Er bezeichnet sich selbst bescheiden als »Instrument der Musik«, sucht in den Musikstücken »den Kern der Seele eines Komponisten«, dabei riskiert er auch Irrtümer. Martin Mirabel, der Lucas Debargue seit Jahren kennt, porträtiert den Pianistenfreund subtil, in aller Vielseitigkeit und Kreativität, aber auch mit seinen Zweifeln und Ungewissheiten. Für die Jury: Helge Grünewald

Jazz

Christoph Grab: Reflections (Live at Haberhaus)

Lamento Records 003 (Direktvertrieb)

Die Tradition lebt weiter in der Moderne, jedenfalls für den Schweizer Saxophonisten Christoph Grab: Der Jazz-Visionär Thelonious Monk gilt ihm auch heute noch als einer der aktuellsten, originellsten und inspirierendsten Komponisten des Jazz. So wird das »Play your own thing« des Pianisten zum Motiv für den Saxophonisten für einen kritisch-kreativen Dialog. Monks Kompositionen werden nicht nachgespielt, aber sie bleiben erkennbar in den Improvisationen des dreiköpfigen Bläsersatzes mit Saxophon, Trompete und Posaune plus Bass und Schlagzeug: Momente des Neuerfindens und Interagierens, in prächtiger Konzert-Atmosphäre. Für die Jury: Lothar Jänichen

Jazz

Jim Black Trio: Reckon

Jim Black, Elias Stemeseder, Thomas Morgan. Intakt Records CD 334 (harmonia mundi)

Das ist die Neuerfindung des Klaviertrios aus dem Geiste des Instant Composing. Störrische HipHop-Rhythmen, klapperndes Schlagwerk, dann wieder metronomische Präzision: Die Trommeln Jim Blacks öffnen Räume der Imagination. Der Pianist Elias Stemeseder entpuppt sich als ein Multistilist, er surft durch Romantik, Minimalismus oder Bebop-Anleihen , und selbst in freien Passagen schafft er eine Atmosphäre kommunikativer Vertrautheit. Wo andere mit ihrem Bass nur Lücken füllen würden, legt Thomas Morgan einen roten Faden für die Improvisation aus. Aus bloßen Versuchsanordnungen entstehen so integrale Kostbarkeiten. Für die Jury: Peter Kemper

Weltmusik

Lina_ Raül Refree

CD / LP, Glitterbeat GBCD/LP 085 (Indigo)

Fado neu zu formen, ist ein Gewaltakt oder aber Sakrileg. Die Sängerin Lina, bestens bewandert im klassischen Repertoire der Ikone Amália Rodrigues, wagt es, indem sie den Klang verändert. Für ihre Inszenierung holte sie den Produzenten Raül Refree mit ins Boot. Der hüllt die Melodien in dunkle, stehende Synthesizer-Klangwolken und getragene Piano-Arpeggios, kaum hört man Gitarrenklänge. Und nie tönt Linas Stimme mit der sonst so typischen, alles verzehrenden Inbrunst, sie singt zurückhaltend, manchmal wirkt es zerbrechlich: eine überzeugende, neue Klangwelt für ein altes Liederbuch. Für die Jury: Jodok W. Kobelt

Liedermacher

Stoppok: Jubel

Grundsound GS0039 (Indigo)

Stefan Stoppok bringt es in dem Lied »Lass sie rein« auf den Punkt: »Lass sie rein, die Zukunft funktioniert nicht allein, sei ein Mensch und lerne zu teil’n.« Schon dafür hat er wieder einmal die Auszeichnung mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik verdient! Wie auch in jedem der elf weiteren Lieder dieses Albums changiert das musikalisch kongenial zwischen Blues, Pop, Rock und balladeskem Songwriting. Stoppok singt in »Pack mit an« ruhig lakonisch gegen Kriege und kapitalistischem Egoismus. Er nimmt in »100 Mio Follower« die Scheinwelt der (ach so) sozialen Netzwerke aufs Korn. Ein Appell an die Menschlichkeit, mit viel hintergründigen Humor und Witz. Für die Jury: Hans Reul

Folk und Singer/Songwriter

James Yorkston, Jon Thorne & Suhail Yusuf Khan: Navarasa – Nine Emotions

Domino Records WIGCD439 (GoodToGo)

Es gibt nicht viele Fusionsprojekte aus dem Bereich Folk, Jazz und Weltmusik, die tatsächlich überzeugend funktionieren, und noch seltener kommt es vor, dass eine Gruppe mit der Mixtur dieser drei Genres einen so absolut eigenständigen, schlüssigen Sound erschafft: Musik, die es vorher noch nicht gab. Den drei Herren Yorkston, Thorne und Khan (Gitarre, Bass, Sarangi) war genau dies mit ihrem Debutalbum »Everything Is Sacred« gelungen. Ein Zufallstreffer, könnte man meinen. Jetzt beweisen sie mit »Navarasa – Nine Emotions« genau das Gegenteil: noch tiefer, noch ausgereifter und durchdachter wirkt die Musik, zugleich emotionaler als zuvor. Für die Jury: Mike Kamp

Pop

Grimes: Miss Anthropocene

CD / LP, 4AD 05184512 (Indigo)

Konzeptalben sind im Pop selten geworden. Auf ihrem fünften Album umkreist Grimes mehr oder weniger konsequent die Geschichte der göttlichen Superheldin »Miss Anthropocene«, die gegen den Klimawandel und das Artensterben kämpft. Musikalisch findet sie dabei die goldene Mitte zwischen dem verhuschten DIY-Spirit ihres Durchbruchalbums »Visions« und dem hochglänzenden Futurismus der Vorgänger-CD »Art Angels«. Ein ambitionierter Entwurf, der die inzwischen einunddreißigjährige Sängerin aus Vancouver zum Popchamäleon der Stunde macht: Niemand sonst passt sich so vielschillernd dem Zeitgeist an wie sie. Für die Jury: Fabian Peltsch

Rock

William Prince: Reliever

CD / LP, Glassnote Music GLS-0274-02 (Rough Trade)

Dieses Album ist ein starker Anwärter für die einsame Insel. Es entfaltet auf Anhieb große Anziehungskraft und wird mit jedem Hören attraktiver. William Prince stammt aus der kanadischen Provinz Manitoba, er selbst bezeichnet seine Musik als »Singer/Songwriter und Country-Folk mit einem Touch von Gospel«. Man darf ergänzen, dass er zusammen mit einer Begleittruppe auch mal kräftig rockt. Vor allem aber fasziniert seine sonore Stimme à la Johnny Cash, als sanfter Riese spricht er die Emotionen des Hörers an, mit sensiblen Texten, facettenreichen Arrangements, und stiftet seelischen Frieden. »Reliever« ist also ein echter Helfer. Nicht nur für die Insel, auch in anderen Lebenslagen. Für die Jury: Manfred Gillig-Degrave

Hard und Heavy

Psychotic Waltz: The God-Shaped Void

CD / LP / DL, Sony Music 19439716932

Wenn eine Band nach vierundzwanzig Jahren Studioabstinenz wiederkehrt und ein Album wie dieses vorlegt, muss sie etwas Besonderes sein. Psychotic Waltz aus Kalifornien untermauern auf ihrem neuen Werk diesen ihren Sonderstatus. Sie verweben wie eh und je anspruchsvolle Songstrukturen mit Gänsehautmelodien, gekrönt von der einzigartigen Stimme Buddy Lackeys. Stücke wie das heftige »Back in Black«, das balladesk-hymnische »The Fallen« oder der Ohrwurm »Sisters of the Dawn« machen deutlich, wie sehr diese Band gefehlt hat. Für die Jury: Marc Halupczok

Blues

Thorbjørn Risager & The Black Tornado: Come On In

Ruf Records RUF 1271 (in-akustik)

Zuletzt wurden Thorbjørn Risager & The Black Tornado mit einem Jahrespreis ausgezeichnet. Diesmal schaffen es der Mann mit der großartigen Stimme und seine Band zum wiederholten Mal auf die Bestenliste. Auf absolut souveräne Weise gelingt ihnen der Spagat zwischen erdverbundenem Roots-Blues und vornehmer Eleganz. Diese beiden Faktoren gehen normalerweise nur ganz schwer zusammen, hier allerdings tun sie es. Das Album entführt den Hörer in eine verqualmte Spelunke im Delta, wobei die Musiker auf der Bühne das rustikale Südstaaten-Outfit immer wieder durch Smoking und Fliege ersetzen. Ein Album, das von der ersten bis zur letzten Minute unglaublich Spaß macht. Für die Jury: Karl Leitner

R&B, Soul und Hip-Hop

Gil Scott-Heron: We’re New Again

A Reimagining by Makaya McCraven. CD / LP, XL Records XL1006CD (Indigo)

Eine wunderbare Hommage an den 2011 gestorbenen Souljazz-Sänger und Protorap-Dichter Gil Scott-Heron! Makaya McCraven, aufregend abenteuerlustiger Produzent und Drummer aus dem jüngeren US-Jazz, hat Scott-Herons letztes Album »I’m New Here« – ein Comeback, nach längerer drogen- und gefängnisbedingter Pause –, bis auf den knorrigen Bariton auseinandergenommen und diesen mit Chicagoer Jazzkollegen neu bespielt, um das Ergebnis mit viel Freiheit und Samples am Computer zu bearbeiten. So führt sein »Re-Imagining« Scott-Herons sozial wachen, schmerzvollen Soul mit liebevollem Respekt und größter Eleganz durch die afroamerikanische Musik, von den Sechzigern in die Jetztzeit. Für die Jury: Markus Schneider

Wortkunst

Arthur Schnitzler: Reigen

Hilde Sochor, Helmut Qualtinger, Elfriede Ott, Peter Weck, Eva Kerbler, Hans Jaray, Christiane Hörbiger, Helmut Lohner, Blanche Aubry, Robert Lindner; Regie: Gustav Manker, Ton und Schnitt: Jürgen E. Schmidt, Hans Peter Strobel (Ungekürzte Lesung 1966). 2 CDs, Der Audio Verlag ISBN 978-3-7424-1398-7

Anfangs rief dieses Stück das hervor, was wir heute einen Shitstorm nennen. Die Anfeindungen gegen den Autor waren so infam, dass Arthur Schnitzler jede weitere Theateraufführung verbot. Doch 1966 wurde dieser Bann durch eine inszenierte Lesung mit Geschick umgangen. Wunderbare, hochkarätige Schauspieler ließen sich auf dieses Reigenspiel um wechselnde Sexualpartner ein, voller Lust und Hingabe, aber auch derb und zotig. Schnitzler geißelte damit gekonnt die Doppelmoral der damaligen Zeit. Mehr als fünfzig Jahre ist das Stück alt, doch aufregend und taufrisch, wie am ersten Tag. Unbedingt hörenswert! Für die Jury: Dorothee Meyer-Kahrweg

Kinder- und Jugendaufnahmen

Onjali Q. Raúf: Der Junge aus der letzten Reihe

Birte Schnöink. 4 CDs, Hörcompany ISBN 978-3-96632-010-8

Kaum vorstellbar, wie es der literarischen New-Comerin Onjali Q. Raúf gelingt, die Geschichte einer Flucht (aus Syrien) und Ankunft in einem fremden Land (England) so ernsthaft und vergnüglich zugleich zu erzählen. Eine Freundesclique begibt sich auf die abenteuerliche Suche nach den »verlorenen« Eltern ihres neuen, fremden Mitschülers. Ihre kindliche Hilfsbereitschaft wie auch die Rettungspläne sind voller Fantasie und Naivität; das Ende ist hoffnungsvoll. Dennoch wird die gesellschaftliche und politische Realität nie ausgeblendet. Die warme Stimme Birte Schnöinks lässt uns in jedem Moment glaubhaft an den Gefühlen und Gedanken der neunjährigen Erzählerin teilhaben. Für die Jury: Carola Benninghoven

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