Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Weinberg: Symphonie Nr. 17 / Vladimir Lande

Mieczysław Weinberg: Symphonie Nr. 17 op.137 »Memory«, Suite for Orchestra. Siberian State Symphony Orchestra, Vladimir Lande. Naxos 8.573565

Zu seinen Lebzeiten und darüber hinaus war Mieczysław Weinberg, geboren 1919 in Warschau, gestorben 1996 in Moskau, ein nahezu vergessener Komponist. Erst in jüngster Zeit wird sein umfangreiches Œuvre entdeckt, darunter auch die zweiundzwanzig Symphonien. Naxos setzte jetzt einen neuen Markstein in seiner immer wieder erweiterten Reihe der Weinberg-Einspielungen mit Vladimir Lande und dem von ihm geleiteten Siberian State Symphony Orchestra aus dem fernen Krasnojarsk. Sie interpretieren Weinbergs 1984 vollendete siebzehnte Symphonie, die er als Teil einer symphonischen Anti-Kriegs-Trilogie »Erinnerung« nannte. Ein Lamento-Motto von Anna Akhmatova geht dem Werk voraus, die Dies-Irae-Sequenz meldet sich eindrücklich inmitten. In Klang wie Ausdruck ist Lande eine Referenz-Aufnahme dieser eigenwilligen, düsteren Musik geglückt. Für die Jury: Michael Kube

Orchestermusik und Konzerte

Lalo & Manén / Tianwa Yang

Édouard Lalo: Symphonie Espagnole. Joan Manén: Concierto Espagnol. Tianwa Yang, Barcelona Symphony Orchestra, National Orchestra of Catalonia, Darrell Ang. Naxos 8.573067

Seine Symphonie espagnole hatte Lalo einst Pablo de Sarasate in die Finger geschrieben: ein meisterliches Virtuosenkonzert. Tianwa Yang spielt den Solopart mit hinreißendem Elan: Das ist Violinspiel auf höchstem spieltechnischem Niveau, in einer Sphäre völliger gestalterischer Freiheit, leicht, raffiniert, rassig, temperamentvoll! Höchst reizvoll die Ergänzung durch das eher unbekannte Concierto espanol von Joan Manén, der einer der wichtigsten spanischen Violinvirtuosen nach Sarasate war. Sein Fritz Kreisler gewidmetes Konzert ist ein unbedingt hörenswertes Virtuosenstück mit viel spanischem Flair. Tianwa Yang lebt darin, sie trifft den Nerv dieser Musiken. Darrell Ang schafft mit seinem Orchester ein inspirierendes Umfeld für die bravouröse Solistin. Und auch klanglich bleiben bei diesen Referenzaufnahmen keine Wünsche offen. Für die Jury: Norbert Hornig

Kammermusik

Schulhoff: Sämtliche Streichquartette

Erwin Schulhoff: Sämtliche Streichquartette. Alma Quartet. 2 CDs, Gutman Records 161 (Eigenvertrieb/www.gutmanrecords.com)

Schulhoff starb 1942 im Lager Wülzburg an Tuberkulose. Sein Werk geriet, wie es dem vielen jüdischer Komponisten erging, in Vergessenheit. Seit den Neunzigern hat sich das allmählich geändert, und jetzt legte das Alma Quartet, zusammengesetzt aus Musikern des Amsterdamer Concertgebouw Orkest, erstmals eine Gesamtaufnahme seiner Streichquartettmusik vor. Schulhoffs frühe Quartette stehen noch in der klassisch-romantischen Musiktradition. Nach dem ersten Weltkrieg ließ er sich von Dadaismus, Jazz oder Tango Nuevo inspirieren. Durch ein sensibles, strukturell klares Musizieren sowie durch klangliche Homogenität und rhythmische Verve erweisen sich die Musiker des Alma Quartets als wunderbare Anwälte einer durch hintergründigen Witz und Experimentierfreude geprägten Musik. Für die Jury: Elisabeth Richter

Tasteninstrumente

Transcendental: Trifonov spielt Liszt

Franz Liszt: 12 Études d’exécution transcendante, Études de Concert 1-3, Grand Études de Paganini 1-6. Daniil Trifonov. 2 CDs, Deutsche Grammophon 479 5529 (Universal)

Den TV-Mitschnitt der zwölf großen Etüden aus Lyon in unauslöschlicher Erinnerung, zeigt Daniil Trifonov in seiner Studio-Version erneut, wie man mit Intelligenz, Unerschrockenheit und zuweilen geradezu demütiger Umsicht die Lisztschen Etüdenschöpfungen ins Leben bringen kann, ohne musisch-bildhaft zu werden. Es gelingt vielmehr diesem pianistischen Spürhund, den technisch grenzüberschreitend anspruchsvollen »Über-Etüden« Takt für Takt neue klangliche und farbliche Qualitäten zu sichern. Nach György Cziffra und Lazar Berman handelt es sich hier, da bin ich sicher, um die erste Gesamtaufnahme der »Transcendentalen« in überragender technischer Ungebundenheit und gestalterischer Individualität, bis hin in die wundersamen Etüden-Bezirke von Gnomen- und Waldesrauschenartistik, von Campanella-Mechanik und Seufzer-Vibrationen. Für die Jury: Peter Cossé

Tasteninstrumente

Bach Mirrored / Maurizio Croci

Johann Sebastian Bach: Präludien & Fugen BWV 532 & 543, Fantasie & Fuge BWV 542 & 944, Präludium BWV 545a & 870b, Tokkata BWV 912, Fantasia Chromatica BWV 903. Maurizio Croci. Fra Bernardo fb 1611911 (Note 1)

Um sich in der Fülle der Bach-Einspielungen Gehör zu verschaffen, braucht es einen herausragenden Interpreten und/oder eine ungewöhnliche Programmidee. Der italienische Organist und Cembalist Maurizio Croci ist (und hat) beides. In diesem Recital stellt er ein grundlegendes Schaffensprinzip Bachs in den Fokus: das Phänomen, dass Bach musikalische Ideen zunächst unabhängig von einem Instrument entwarf, um sie dann unterschiedlichen Instrumenten anzuvertrauen, zu transformieren und auszuarbeiten. So spiegeln sich die teils von der Orgel, teils vom Cembalo präsentierten Werke gegenseitig, sie ordnen dasselbe Material dem jeweiligen Idiom unter. Crocis Werkauswahl leuchtet diesen Aspekt Bachscher Kreativität so souverän und vielschichtig aus wie seine interpretatorischen Ansätze als Cembalist und Organist – ein grandioses Konzeptalbum! Für die Jury: Sabine Fallenstein

Oper

Mikhail Glinka: Ruslan and Lyudmila

Albina Shagimuratova, Yuri Minenko, Almas Svilpa, Mikhail Petrenko, Alexandrina Pendatchanska, Charles Workman, Elena Zaremba. Vladimir Ognovenko, Alexandre Polkovnikov. Bolshoi Theatre Orchestra & Chorus, Vladimir Jurowski, Regie Dmitri Tcherniakov. 2 DVDs, Bel Air BAC120 (Naxos)

Glinkas Oper »Ruslan und Lyudmila« von 1842, komponiert nach einem Versepos von Puschkin, ist eine in Russland vielgespielte Nationaloper, aber mit ihrem exotisch-interessanten Sujet und ihrer offenen Stationendramaturgie im Westen immer noch ein zu entdeckendes Werk. In dieser exemplarisch intelligenten und musikalisch mitreißenden Deutung, mit einer Riege kompetenter Sänger, ist sie jetzt endlich auf DVD zugänglich. Zugleich dokumentiert der Film einen historischen Moment: die Wiedereröffnung des renovierten Bolschoi Theaters in Moskau. Vladimir Jurowski dirigiert so prachtvoll wie aufmerksam. Die Regie von Dmitri Tcherniakov spielt virtuos mit Folkloreklischees, die sie elegant entlarvt. Für die Jury: Manuel Brug

Chor und Vokalensemble

The Mirror Of Claudio Monteverdi

Claudio Monteverdi: Missa in illo tempore. Madrigale von Nicola Vicentino, Cesare Trudino, Glaches de Wert, Luca Marenzio. Huelgas Ensemble, Paul van Nevel. deutsche harmonia mundi dhm 88875143482 (Sony)

Monteverdi war der herausragende, aber keineswegs der einzig bedeutende Komponist seiner Zeit: auch seine hohe Kunst wurde von genialen Kollegen vorbereitet. Paul van Nevel stellt mit seinem Huelgas Ensemble den einzelnen Sätzen aus Monteverdis berühmter Missa in illo tempore mit ihrem extrem verdichteten Kontrapunkt alter Schule und ihrer innovativen Gewichtung der Harmonie jeweils ein Madrigal alten Stils gegenüber, das, jedes für sich, ebenfalls die Konventionen kunstvoll sprengte. So verweist diese Aufnahme über den genuin musikalischen Ansatz und die perfekte Darbietung hinaus auf das geistige Spektrum und Niveau einer Zeit, das man in all seinen Facetten kaum begreifen kann und hier schlicht zu bestaunen lernt. Für die Jury: Helmut Mauró

Klassisches Lied und Vokalrecital

Mozart: Arien / Regula Mühlemann

Wolfgang Amadeus Mozart: Opernarien. Regula Mühlemann, Kammerorchester Basel, Umberto Benedetti Michelangeli. Sony 8898 5337582

Mozart-Recitals gibt es viele auf dem Markt, zumal im Sopranfach. Aber selten ist das Programm so klug gewählt, jede Nummer in Ton, Farbe, Stil, Gehalt so genau getroffen wie bei diesem Solo-CD-Debüt von Regula Mühlemann. Sie bringt das Kunststück fertig, umstandslos vom Seria-Idiom des frühen »Lucio Silla« oder späten »Tito« aufs Singspiel-Flair der »Entführung« umzuschalten, sich aus Lamento-Tiefen (»Vorrei spiegarvi, oh Dio«) zu koloraturgespickten Bravour-Gipfeln aufzuschwingen (»Exsultate, jubilate«), ohne je die warm strömende, bronzen leuchtende Stimme um ihrer selbst willen auszustellen. Technisch souverän, frei von Manierismen sucht hier eine Sängerin, die ganz bei sich ist, die komplexe Wahrheit Mozarts in den Irrungen und Wirrungen der verkörperten Figuren. Eine reife Leistung, vom Orchester unter Michelangeli klangsinnlich umspielt. Für die Jury: Albrecht Thiemann

Alte Musik

François Couperin / Les Talens Lyriques, Christophe Rousset

François Couperin: Ariane Consolée par Bacchus, Concert instrumental sous le titre d’apothéose composé à la mémoire de l’incomarable Monsieur de Lully, Le Parnasse ou l’Apothéose de Corelli. Stéphane Degout, Les Talens Lyriques, Christophe Rousset. Aparté AP130 (harmonia mundi)

Mit seinen musikalischen Apotheosen der Kollegen Corelli und Lully setzte François Couperin anno 1724/25 dem Streit zwischen den Anhängern des französischen und denen des italienischen Stils humorvoll und zugleich weise ein Ende, indem er den Weg zu einer Stilsynthese nachzeichnete. An guten Aufnahmen dieser Programmmusiken herrscht zwar kein Mangel. Doch Christophe Rousset und seine Talens Lyriques bringen mehr Charme und Eleganz als andere mit ins Spiel, und hinsichtlich der von Couperin nur angedeuteten Instrumentierung noch mehr Farbe. Zur Komplettierung des Albums holte Rousset den Bariton Stéphane Degout ins Team, für die Arianen-Kantate. Für die Jury: Matthias Hengelbrock

Zeitgenössische Musik

Luxus / LUX:NM

Werke von Paul Frick, Gordon Kampe, Steingrimur Rohloff, Maximilian Marcoll, Sarah Nemtsov. Ensemble LUX:NM. Genuin GEN 16443 (Note 1)

»Wir erlauben uns Luxus«, so steht es im Booklet dieser achtenswerten CD zu lesen, die stolz fünf Ersteinspielungen neu komponierter Werke präsentiert. Das seit 2010 bestehende Ensemble LUX:NM, ansässig in Berlin, setzt auf intensive Zusammenarbeit mit Musikern und Komponisten und beweist mit seinem Debut-Album, dass das enge Zusammenspiel von Komposition und Interpretation wunderbare Früchte tragen kann. Vier dieser fünf durchwegs aussagekräftigen Stücke sind eigens für dieses Projekt entstanden, sie alle profitieren von der spielerischen Kompetenz des Ensembles: purer Luxus! Für die Jury: Marita Emigholz

Historische Aufnahmen

Ginette Neveu – Beethoven / Brahms

Ludwig van Beethoven: Konzert für Violine & Orchester D-Dur op.61. Johannes Brahms: Konzert für Violine & Orchester D-Dur op.77. Ginette Neveu, Sinfonieorchester des SWF Baden-Baden, Hans Rosbaud; Orchestre National de la Radiodiffusion-Télévision Française, Roger Désormière. 2 CDs, SWR music 19018 (Naxos)

Nicht alle Legenden haben ein langes Leben – die Pariser Geigenvirtuosin Ginette Neveu jedoch gehört mit besten Gründen dazu. Das Zusammen- und Ineinanderwirken ihres intensiven, ausdrucksstarken, sprachnahen und organischen Spiels verleiht den Werken, die sie interpretiert, greifbar scheinende Wirkungs-Gestalt – geradezu ein »Lehrstück«, im Vergleich zu manch heutigem »Leerstück«! Das Beethovenkonzert unter Rosbaud, aufgenommen im September 1949, gehört zu Neveus letzten Auftritten, bevor sie im Oktober desselben Jahres durch einen Flugzeugabsturz allzu jung aus der Karriere gerissen wurde. Die Aufnahme wurde mehrfach veröffentlicht, hier erstmals gekoppelt mit dem Brahmskonzert unter Desormière, entstanden gut eineinhalb Jahre vorher, ebenfalls als Rundfunkmitschnitt des Südwestfunks Baden-Baden. Für die Jury: Wolfgang Wendel

Grenzgänge

Federspiel: Smaragd

»…eng verbunden mit essen, trinken, küssen, atmen, leben«. Ensemble Federspiel. col legno WWE 20435 (harmonia mundi)

Massiv und dennoch äußerst beweglich, mehr noch: spritzig-elegant – das Wachauer Blechbläser-Ensemble Federspiel ist hochvirtuos. Aufgetischt wird hier mit viel Humor und feiner Ironie alpenländische Volksmusik, vermischt mit Weltmusik und altösterreichischen Klängen im Ländler- und Walzertakt. Zither und Spieluhr ergänzen die Bläsertöne, während der Synthesizer frischen Wind zufächert. Das Septett versprüht förmlich überbordende Fantasie, Experimentierfreude und Spiellaune. Da wird gebrummt, gegrummelt, gesäuselt, gejodelt und gesungen bis in die höchsten Sphären hinauf. Das alles geht runter, als wär’s ein guter Wein: wie der Smaragd genannte Edel-Tropfen von der Wachau. Für die Jury: Heinz Zietsch

Federspiel ist auch Gewinner in der Jury Traditionelle ethnische Musik.

Filmmusik

Ennio Morricone — 60 Years Of Music

Susanna Rigacci, Czech National Symphony Orchestra, Ennio Morricone. Decca 570007 (Universal)

Auch mit achtundachtzig Jahren denkt Morricone offenbar nicht ans Aufhören, er geht noch einmal wieder auf Konzerttour. Dieses Album ist entstanden im Rahmen von Live-Konzerten, die er gemeinsam mit dem Tschechischen Nationalorchester gab. Es war dies nicht nur eine retrospektive Erinnerungstournee, nicht nur eine Kompilation aus früheren, berühmt gewordenen Soundtracks. Vielmehr dokumentiert diese Edition den späten Morricone, der mit teilweise überarbeiteten Versionen seiner markantesten Themen das tut, was er selbst eigentlich lange Zeit zum Tabu erklärt hatte: Filmmusik auf dem Konzertpodium zu feiern. Für die Jury: Matthias Keller

Musikfilm

Philo Bregstein: Otto Klemperer’s Long Journey Through His Times

& Klemperer – The Last Concert. New Philharmonia Orchestra, Daniel Adni. 2 DVDs + 2 CDs, Arthaus 109289 (Naxos)

Zeit- und Kulturgeschichte verschränken sich in dieser eindrucksvollen und spannenden Dokumentation. Philo Bregstein zeichnet das bewegte Leben des Dirigenten Otto Klemperer nach – von den jungen Jahren in Berlin über das amerikanische Exil bis zu seiner Rückkehr nach Europa und der langjährigen, fruchtbaren Arbeit mit dem Philharmonia Orchestra London. In O-Tönen kommen außer Klemperer selbst Zeitzeugen zu Wort, darunter der Philosoph Ernst Bloch und der Regisseur und Publizist Hans Curjel. Für die Jury: Helge Grünewald

Musikfilm

Sami Yaffa: Sound Tracker – Explore The World In Music

Dokumentation von Otso Tiainen. 12 DVDs Monarda Arts/Arthaus Musik 109 295-306 (Naxos)

Wie fängt man den Klang eines Landes ein? Wie kommt man Musikern nahe und erfährt etwas über die Hintergründe ihrer Kunst? Ganz einfach: hinfahren und zuhören. An dieses scheinbar simple, aber im Detail hochdifferenzierte Rezept hielt sich der finnische Rockmusiker Sami Yaffa in seiner legendären TV-Serie. Die faszinierenden Ergebnisse gibt es nun auch auf DVD. Gemeinsam mit dem Regisseur Otso Tiainen hat Sami Yaffa ein Dutzend Länder bereist und ist in ihr Musikleben eingetaucht, von den USA über Brasilien, Argentinien und Jamaica bis nach Spanien, Serbien und die Türkei, vom Senegal über Äthiopien bis nach Java, Bali und Indien. Für die Jury: Juan Martin Koch

Jazz

Daniel Erdmann’s Velvet Revolution

A Short Moment Of Zero G. Daniel Erdmann, Théo Ceccaldi, Jim Hart. Budapest Music Center BMC CD239 (Note 1)

Bei aller Lust am gemeinsamen Schweben wird das Spiel dieses Trios von prägnanten melodischen Statements durchzogen und das im Laboratorium der Klänge frei gesetzte Material mit gestaltbildender Kraft ausgeformt. Der neuen Band des Tenorsaxophonisten Daniel Erdmann mit dem französischen Bratscher bzw. Violinisten Théo Ceccaldi sowie dem Engländer Jim Hart am Vibraphon gelingt eine vom Geist der Improvisation durchpulste interaktive Kammermusik, die in ihrem filigranen Charakter zugleich die Stärke emotionaler Mitteilung offenbart. Der Gestus ist erzählend und dringlich, nie illustrierend oder agitatorisch. Diese Musik will Bezug nehmen zu dem, was ringsum in der Welt geschieht. Und sie begibt sich dabei selbst auf den Weg einer sanften, aber konsequent vorangetriebenen Veränderung. Für die Jury: Bert Noglik

Weltmusik

Gaye Su Akyol

Hologram Ĭmparatorluğu. Glitterbeat CD 132162 (Indigo)

In der Mitte zwischen abendländischem Postpunk und enthemmten Klangstrudeln Südasiens kreiert Gaye Su Akyol in Istanbul gekonnt ein psychedelisch ausladendes Bosporus-Geschmachte. Orientalisch-übliche Unisono-Streicher schiebt der Bass über akzentuierte Rhythmen unter anatolisch und griechisch gewirkten Liedern hindurch. Oud, Surf-Sound, orientalische Skalen, reichlich verzierte und schluchzend-wehmütige Melodien. Die Tochter eines berühmten Malers meldet sich aus ihrem abgedunkelten Concon geheimnisvoller Irritationen. Zweifellos eine starke Persönlichkeit. Und die Frage: »Wäre es von Bedeutung, wenn ich ein blauer Apfel wäre?« – wohl kaum. Für die Jury: Johannes Theurer

Liedermacher

Stoppok

Operation 17. Grundsound 131182 (Indigo)

Der Mann wurde 60. Keine Angst! Von Ermüdungserscheinungen ist nichts zu spüren. Im Gegenteil, mit seiner vorzüglichen Band bedient er musikalisch von erdigem Blues bis sanfter Ballade fulminant die ganze Bandbreite. Stoppok zeigt sich wieder als genauer Beobachter des Zeitgeschehens und scharfzüngiger Chronist, aber auch als humorvoller Wortakrobat, wobei seine Texte nie aufgesetzt wirken, sondern geradezu wie improvisiert. »Operation 17« ist tatsächlich schon das 17. Studioalbum und von geradliniger Frische. Um Stoppok zu zitieren: »Besser du hältst die Augen auf, es lohnt sich ganz genau hinzusehen, die Dinge zu beleuchten und sich vor nix wegzudrehen«. Der Mann versöhnt mit so mancher Betroffenheitslyrik, die derzeit von den Radiosendern rauf und runter gedudelt wird. Für die Jury: Hans Reul

Folk und Singer/Songwriter

Faustus

Death And Other Animals. Westpark 87323 (Indigo)

Eine Mischung aus Hirsch, Hase und Wolf hängt als Trophäe an der Wand, an der Schnittkante rinnt noch Blut. Das Trüffelschwein fehlt in dieser Mixtur, um das Spektrum komplett zu machen, das die britische Band Faustus auf seinem dritten Album aufblättert. »Death and other animals« entstand nach ausgiebigen Recherchen in Halsway Manor, dem »National Centre for the Folk Arts«. Höchst lebendig kommen vergessene Songs und Tänze daher, schließlich haben sich die Mannen von Faustus die Bezeichnung »bloke folk« verdient. Folk für ganze Kerle, die mit handfesten Rhythmen umgehen können, ihre Instrumente Fiddle, Harmonika und Gitarren virtuos beherrschen und im schönsten Harmoniegesang sogar dem Tod trotzen, der am Ende zum merry dance auffordert. Großartig! Für die Jury: Imke Turner

Pop

Solange Knowles

A Seat At The Table. Columbia 889853874620 (Sony)

Ob sie schon ahnte, wer ihr nächster Präsident wird? Explizit fordert Solange Knowles auf der lange vor dem politischen und moralischen Zeitenwechsel in Amerika eingespielten CD für ihresgleichen einen Platz am Tisch, Respekt und gesellschaftliche Teilhabe: Dinge, die nicht nur für schwarze Amerikaner inzwischen immer weniger zur Selbstverständlichkeit werden. Doch nicht femininer Furor macht ihr drittes Soloalbum zum Ereignis, sondern die Sanftheit und Würde, mit der Solange hier auftritt. Ruhig, aber nachdrücklich bringt sie den Soulfunk der 70er Jahre auf eine Wellenlänge mit R&B-Klängen neueren Datums, die sie freilich von allem überkandidelten Zierrat befreit – und erzeugt so eine Tonlage, die gerade in ihrer Wärme und Gelassenheit ungemein unter die Haut geht. Für die Jury: Christof Hammer

Der Titel gewann auch in der Jury R&B, Soul, HipHop.

Rock

The Rolling Stones

Blue & Lonesome. Universal 572 383-3

Die Rolling Stones wollten neue Stücke einspielen, aber nichts gelang im Studio. Zum Aufwärmen intonierten sie »Blue And Lonesome«, eine alte Bluesnummer von Little Walter. Zum Glück drückte jemand auf den Aufnahmeknopf. Das Stück, in einem Take aufgenommen, war so lebendig, spannungsgeladen und intensiv, dass es sich als Auslöser und Titelstück für das lange herbeigewünschte Bluesalbum der Band anbot. Auch die anderen elf Nummern aus der Zeit des Chicago Blues von Little Walter, Howlin’ Wolf und Willie Dixon wurden live eingespielt – keine Overdubs, keine Korrekturen oder Zaubereien am Mischpult bis auf den leicht übersteuerten, verwaschenen Vintage Sound. Ein Album mit Seele, für das die alte Gebrauchsanweisung gilt: »This record has to be played loud!« Für die Jury: Fritz W. Haver

Hard und Heavy

High Spirits

Motivator. High Roller HRR 500 (Soulfood)

»Another Night« von 2011 bleibt unerreicht, das etwas ungeliebte »You Are Here« von 2014 dürfte in den Ohren vieler Hörer aber locker übertroffen werden: Diese Gitarren! Diese Leads! Diese Energie! Diese Melodien! Ein bisschen fühlt sich der Rezipient beim Hören von »Motivator«, als hörte er eine 78er-Version von Iron Maidens »The Book Of Souls« – nur mit besseren Hooklines. Die ersten 40 Sekunden der CD sind ein Intro, der Abschluss »Thank You« hält die Gesamtqualität nicht ganz, die sieben Lieder dazwischen platzieren die amerikanische Band mit ihrem Signature-Sound zwischen US-Metal, flotterem Hardrock und vor allem feinstem New-Wave-Of-British-Heavy-Metal-Destillat aber einmal mehr da, wo sie hingehört: ganz oben, wo die Freiheit wohl grenzenlos ist. Für die Jury: Boris Kaiser

Alternative

Radian

On Dark Silent Off. Thrill Jockey 424 (Good to Go)

»Rusty Machines, Dusty Carpets« – der Titel des letzten Tracks als Metapher für das sechste Album des Wiener Trios. Originelle Visionäre an der Kreuzung von Feedback-verliebtem Art-Rock, Kraut-Electronica, minimalistischem Industrial, cineastisch anmutendem Postrock, perkussive Elemente und im Stile eines Jaki Liebezeit gespielte Grooves. Es sind die nebensächlichen Samples von Sounds der Instrumente, z.b. Kabelanschlüsse, Verzerrungen, Saiten, die Radian in mikroskopischer Arbeit in editierter Form aus früheren Live-Improvisationen destilliert haben, Mittelpunkt ihres instrumentalen Kopfkinos, das seine Brillanz aus dem extremen Spiel der Gegensätze zieht, von Fluß und abruptem Instrumente- und Samplesound-Einsatz, von Ruhe und Unruhe, von Improvisation und Konstruktion. Für die Jury: Götz Adler

Electronic und Experimental

Kate Tempest

Let Them Eat Chaos. Caroline LP CHAOS23, CD CHAOS24 (Universal)

Dichterin, Autorin, Spoken-Word-Poetin, Rapperin, Sängerin: Kate Tempest ist der Inbegriff des genresprengenden Multitalents. Sie schafft es, mit Spoken-Word-Poetry auf ansonsten lärmigen Festivals Zehntausende zum Schweigen und Zuhören zu bringen – um im nächsten Moment ein radikales Sound-Inferno zu entfachen und die Meute zu entfesseln. Diesen Wechsel der Stimmungen pflegt sie auch auf ihrem zweiten Album »Let Them Eat Chaos«. In den Texten zeichnet sie intensive Porträts von sieben schlaflosen Menschen, die versuchen, ihren Weg im Chaos des urbanen Dschungels zu finden. Musikalisch verarbeitet sie Einflüsse etwa aus Grime und HipHop zu einem ungemein intensiven, oft düsteren Sound, in dem aber doch immer die Hoffnung auf ein besseres Leben durchschimmert. Für die Jury: Guido Halfmann

Blues

Joe Bonamassa

Live At The Greek Theatre. 2CDs Mascot / Provogue PRD75072 (Die 4MA)

Joe Bonamassa lockt seit Jahren den Blues heraus aus seinem Nischendasein und erschließt ihm ein neues Publikum. Er verbeugt sich tief vor den Urvätern des Genres, hat für sich dennoch einen ureigenen Sound gefunden, ist unermüdlich auf Tour und hinterlässt regelmäßig ein begeistertes Auditorium. Das alles kann man nachhören auf diesem Paradebeispiel eines gelungenen Konzertmitschnitts. Die 22 Songs der Doppel-CD verströmen eine Intensität, der man sich nicht entziehen kann. Im Gegenteil: Die Musik Bonamassas und seiner exzellent besetzten Band springt den Hörer regelrecht an. Ach, wäre man doch live dabei gewesen! Für die Jury: Karl Leitner

Wortkunst

Wolf Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten!

Burghart Klaußner. 10 CDs, HörbucHHamburg ISBN 978-3-95713-063-1

Dieses Hörerlebnis ist außerordentlich in Inhalt und Rezeption. Es fördert Zeitgeschichte zutage, die mancher gerne vergessen machen möchte. Diesen Gefallen tut der an der fatalen Wirklichkeit der DDR-Diktatur nicht zerbrochene Dichter und Liedermacher Wolf Biermann seinen Widersachern nicht. Noch immer fordert er sie mit unverbrauchter Sprachkraft und unerschrockener Offenheit heraus. So auch mit diesem authentischen Tondokument, das der Buch-Version gegenüber den Vorteil nutzt, historisches Material, Lieder und Gedichte, einzubeziehen. Damit bleibt er der Nachwelt als Chronist des persönlichen Widerstands gegen den Unrechts-Staat im Gedächtnis. Dem Sog, den seine fulminante CD-Autobiographie auch dank des phänomenalen Sprechers Burghart Klaußner auslöst, kann sich kein Hörer entziehen. Für die Jury: Peter Fuhrmann

Kinder- und Jugendaufnahmen

Unter meinem Bett 2

Songs für Kinder von den besten deutschen Bands und Songwritern. Laing, Das Bo & Co, Erdmöbel, Lisa Bassenge, Enno Bunger, Die Höchste Eisenbahn, Bela B, Cäthe, Locas In Love, Deniz Jaspersen, Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen, Erobique & Jacques Palminger, Albrecht Schrader, Dota. 1LP + 1CD, Oetinger Audio ISBN 426-0-17378-827-3

Wie schon die Vorgänger-CD mit dem gleichen Titel versammelt der Nachfolger »Unter meinem Bett 2« die im Moment wohl coolsten Songs für Kids. Die Lieder passen jedoch auch für alle anderen – im positiven Sinn – »Kindsköpfe«, die Sprachwitz , schrägen Gedankengängen, aber auch großen Emotionen etwas abgewinnen können. Die 14 stilistisch vielfältigen Songs stammen von unterschiedlichen MusikerInnen, und es wäre unfair, einzelne KünstlerInnen hervorzuheben. Einige von ihnen sind im »Erwachsenen«-Bereich erfolgreich und vielleicht ist es das, was die CD so besonders macht: Kinder werden ernst genommen, ohne erhobenen Zeigefinger – textlich und musikalisch. Für die Jury: Regina Himmelbauer

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