Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Mendelssohn: Symphonien Nr. 1 & 3 / Andrew Manze

Felix Mendelssohn Bartholdy: Symphonien Nr.1 c-moll op.11 & Nr.3 a-moll op.56 (»Schottische«). NDR Radiophilharmonie, Andrew Manze. Pentatone PTC 5186 595 (Naxos)

Schon immer beeindruckte Mendelssohns Musik durch ihre schöpferische Frische und den anhaltend romantischen Charme. Beide Pole kommen in dieser Einspielung der frühen c-moll-Symphonie op. 11 und der so genannten »Schottischen« auf faszinierende Weise zum Leuchten – in sommernachtstraumartig energischer wie klangschöner Weise. Dass es heute nicht mehr eines speziell geschulten Ensembles bedarf, um solche charakteristischen Konturen dynamisch differenziert und deutlich phrasiert herauszuarbeiten, zeigt Andrew Manze mit der glänzend disponierten NDR Radiophilharmonie aus Hannover. Eine Produktion, bei der sich unprätentiöses Musizieren mit einer ungewöhnlich fließenden, fast narrativ anmutenden interpretatorischen Vorstellung verbindet. Ein Mendelssohn-Sound, der begeistert und noch mehr erwarten lässt. Für die Jury: Michael Kube

Orchestermusik und Konzerte

Weber: Sämtliche Werke für Klarinette

Carl Maria von Weber: Sämtliche Werke für Klarinette. Sebastian Manz, Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, Antonio Méndez, Martin Klett, Casal Quartett, Lars Olaf Schaper. 2 CDs Berlin Classics BC 0300835 (Edel)

Diese Gesamtaufnahme der Klarinettenwerke von Carl Maria von Weber überzeugt auf der ganzen Linie. Sebastian Manz, Soloklarinettist des Stuttgarter RSO sowie des inzwischen neu formierten SWR Symphonieorchester, lotet seinen Part musikalisch feinsinnig aus und profiliert sich als ein souveräner Meister seines Instruments. Technische Brillanz, Kantabiliät und nuancenreiche Tonschönheit, Spielwitz und kreativer Umgang mit dem Text kommen hier auf beglückende Weise zusammen. Die Musik von Weber scheint für Manz eine Herzensangelegenheit zu sein. So oft er die Klarinettenkonzerte auch gespielt haben mag, von Routine ist in diesen Interpretationen nichts zu spüren. Eine Einspielung wie aus einem Guss, rund und frisch. Für die Jury: Norbert Hornig

Kammermusik

Frühwerke – Youthful Passion / Trio Rafale

Claude Debussy: Trio in G (1880); Dmitri Schostakowitsch: Klaviertrio c-moll op.8; Sergej Rachmaninow: Trio Élégiaque g-moll; Hans Werner Henze: Kammersonate (1948); Jannik Giger: Caprice (2013). Trio Rafale. Coviello COV 91703 (Note 1)

In ersten Werken ist oft eine Wahrhaftigkeit zu spüren, die nie wieder erreicht wird, epigonaler Eierschalen ungeachtet. Das Trio Rafale, gegründet 2008 an der Zürcher Hochschule für Musik, hat jetzt für sein drittes Album Frühestes von Debussy, Rachmaninow, Schostakowitsch und Henze zusammengetragen und so sensibel und klar »aus dem Ei« gepellt, dass das Konzept nicht nur Überschrift bleibt. Ergänzt wird das Programm von einer Komposition Gigers, eigens für das Schweizer Trio geschrieben. Die Werke geraten miteinander in Dialog. So, wie die Pianistin Maki Wiederkehr (Klavier), Daniel Meller (Violine) und Flurin Cuonz (Violoncello) die Stücke beleuchten, zwischen und hinter die Noten schauend und doch ganz im Leben, geht zart die Sonne auf – wie auf dem Bild von Paul Klee, mit dem sich das Cover erfrischend und eigenwillig absetzt vom Üblichen. Für die Jury: Volker Hagedorn

Tasteninstrumente

Fantaisies / Piotr Anderszewski

Wolfgang Amadeus Mozart: Fantasie c-moll KV 475, Klaviersonate Nr.14 c-moll KV 457; Robert Schumann: Fantasie C-Dur op.17, Thema mit Variationen Es-Dur WoO 24. Piotr Anderszewski. Warner Classics 9029588855

Der Titel dieser Mozart-Schumann-CD legt eine falsche Spur aus: Wer ein rhapsodisch freies Herumschweifen erwartet, den stimmt der Pianist Piotr Anderszewski nachhaltig um. Er präsentiert ungeheuer stringente, im großen Bogen wie auch im Detail verführerisch klar durchgestaltete Inszenierungen der Werke. Anderszewski überrumpelt nicht, er kraftmeiert nicht. Er nimmt den Hörer mit, spinnt ihn in die jeweilige musikalische Logik ein, lässt ihn mitschwimmen im so subtil wie zwingend austarierten energetischen Fluss der Klänge und Motive. Wenn denn für das Programm dieses Recitals unbedingt ein verkaufsfördernder Titel sein muss, wäre vielleicht treffender: »Mozart und Schumann ohne Filter, intravenös«. Und wenn es einen Sonderpreis für defensiven Gebrauch des rechten Pedals gäbe, Anderszewksi hätte ihn verdient! Für die Jury: Kalle Burmester

Tasteninstrumente

Fortuna Desperata / Daniel Beilschmidt

Orgelmusik aus Gotik und Renaissance. Werke unter anderem von Guillaume de Machaut, Philippe de Vitry, Adam Ileborgh von Stendal, Alexander Agricola, Antoine Busnois, Leonard Kleber, Paul Hofhaimer, Heinrich Isaac, Johannes Buchner und Sethus Calvisius. Daniel Beilschmidt, Veit Heller, Christine Mothes. Genuin GEN 17453 (Note 1)

An der außergewöhnlichen neuen Metzler-Orgel der Leipziger Universitätskirche St. Pauli, die in mehreren Ausbaustufen vollendet wird und zur Zeit – mit sieben Registern – das Klangbild einer Orgel um 1450 annähernd wiedergibt, erweckt Daniel Beilschmidt diese sperrigen, selten gespielten Stücke aus diversen Orgelbüchern des vierzehnten bis sechzehnten Jahrhunderts höchst gekonnt zum Leben. Unter Einbeziehung der Sopranistin Christine Mothes und der von Veit Heller gespielten Glocken gelingt ihm eine lebendige Klangerzählung, die über die bloße Präsentation des historischen Repertoires weit hinausgeht und einen attraktiven Zugang zu jener fernen Musik eröffnet. Für die Jury: Michael Gassmann

Oper

Jean-Baptiste Lully: Persée 1770

Mathias Vidal, Hélène Guilmette, Katherine Watson, Cyrille Dubois, Le Concert Spirituel. Hervé Niquet. 2CDs Alpha ALP967 (Outhere/Note 1)

Mit der Oper »Persée« hat Lully ein prachtvolles Werk für den französischen Königshof geschrieben, das eine Vielzahl heroischer Figuren aufweist. Jede dieser Partien hat ihren ganz eigenen Charakter, eine Herausforderung für die Interpreten. Hervé Niquet wird dem wunderbar gerecht, dank seines hinreißenden Ensembles »Le Concert Spirituel« und einer bestens präparierten Sängerriege. Herausragend: der Tenor Mathias Vidal in der Titelpartie, die bezirzende Sopranistin Hélène Guilmette als Andromède. Als Bösewichte glänzen die Katherine Watson als Mérope sowie der koloraturgeläufige Bariton Tassis Christoyannis als Phinée. Mit eloquenter Dramatik, fantasievoller Gestaltungswille und einer plastischen Diktion: Diese Darbietung lässt keine Wünsche offen! Für die Jury: Bjørn Woll

Oper

Étienne-Nicolas Méhul: Uthal

Karine Deshayes, Yann Beuron, Jean-Sébastien Bou, Sébastien Droy, Philippe-Nicolas Martin, Reinoud van Mechelen, Artavazd Sargsyan, Jacques-Greg Belobo, Chœur de Chambre de Namur, Les Talens Lyriques, Christophe Rousset. Palazzetto Bru Zane ES 1026 (Note 1)

Von diesem Komponisten kennt man heute allenfalls noch die Revolutionsmusiken, sein Chant du départ ist so populär wie die Marseillaise. Doch war Étienne-Nicolas Méhul nicht nur eingebunden in die politischen Umbrüche von 1789 bis in die Restaurationszeit, er probierte in seinen Bühnenwerken musikalisch Innovatives bis Revolutionäres aus. Um die verhangen düstere Stimmung von Ossians Handlungsvorlage in »Uthal« zu beschwören, orchestrierte er in dunklen Farben, ohne Violinen, nur für Viola und Celli, mit betonter Partie der Hörner. Wie an der Opéra-Comique üblich verbinden hochdramatische Dialoge die Musiknummern. Zwar durften nach Napoleons Kaiserkrönung allgemein wieder Könige auf der Bühne stehen. Doch auch hier bietet das Stück Besonderes: ein alter Herrscher und ein junger Usurpator werden am Ende von einer liebenden Frau versöhnt. All das haben Rousset und sein Ensemble stilgerecht umgesetzt: eine Entdeckung. Für die Jury: Wolf-Dieter Peter

Chor und Vokalensemble

Finland / SWR Vokalensemble, Marcus Creed

Jean Sibelius: Rakastava (1898/1912), Finlandia op.26,7; Einojuhani Rautavaara: Canticum Mariae Virginis, Canción de nuestro tiempo, Orpheus singt; Kaija Saariaho: Nuits Adieux; Jukka Linkola: Mieliteko; Riikka Talvitie: Kuun Kirje. SWR Vokalensemble, Marcus Creed. SWR Classic 19031CD (Naxos)

Der Schlagschatten von Jean Sibelius, dem »Tyrannosaurus Rex« der finnischen Musik, fällt sowohl vom ersten wie auch vom letzten Stück dieses Chor-Recitals schwer auf alle anderen Werke. Aber sie behaupten sich doch! Ja, tatsächlich, die finnische Moderne war eine einzige Emanzipationsbewegung, das ist der Musik von Einojuhani Rautavaara ebenso deutlich anzuhören wie den ausgewählten Werken von Jukka Linkola und Kaija Saarihao. Eine Entdeckung: die 1970 geborene Riikka Talvitie mit ihrem expressiven »Mondlied« (»Kuun Kirja«). Das SWR Vokalensemble unter Chefdirigent Marcus Creed stellt erneut seine bewundernswerte Kompetenz unter Beweis, bei großer stilistischer Bandbreite. Für die Jury: Wolfram Goertz

Chor und Vokalensemble

Johann Sebastian Bach: Johannes-Passion BWV 245

Maximilian Schmitt, Tareq Nazmi, Christina Landshamer, Anke Vondung, Tilman Lichdi, Krešimir Stražanac, Chor des Bayerischen Rundfunks, Concerto Köln, Peter Dijkstra. DVD, BR Klassik 900 515 (Naxos)

Dass Peter Dijkstra mit seiner Umsetzung der Bachschen Johannes-Passion besondere Aufmerksamkeit weckt, hat mehrere Gründe. Zum einen kreiert er durch die halbszenische Aufführung eine eigene Dramaturgie, die neue Akzente setzt und vermeintlich statischen Figuren Charakter verleiht. Zum anderen vermitteln die hervorragenden Gesangssolisten eine Nahbarkeit und Intimität, wie sie beim gewohnten Frontal-Abmusizieren dieser Kostbarkeit der protestantischen Sakralmusik selten entsteht. Nicht zuletzt die Leistungen des hell und makellos homogen klingenden BR-Chors und der begleitenden Musiker von Concerto Köln machen diese Aufführung zu einem eindrücklichen, tief berührenden Erlebnis. Für die Jury: Wolf-Christian Fink

Klassisches Lied und Vokalrecital

Verismo / Krassimira Stoyanova

Arien aus Opern von Giacomo Puccini, Andrea Cilea, Pietro Mascagni, Alfredo Catalani, Umberto Giordano. Krassimira Stoyanova, Münchner Rundfunkorchester, Pavel Baleff. Orfeo C 899 171 A (Naxos)

Was für ein Missverständnis: als ob der italienische Verismo etwa zu tun hätte mit Entäußerung, Stimmbandraubbau oder aufgedrängter Emotion! Krassimira Stoyanova beweist das Gegenteil in ihrem Recital, sorgsam sekundiert vom Münchner Rundfunkorchester unter Pavel Baleff. Gerade weil ihr Sopran im Lyrischen wurzelt und gerade weil sie sich dank ihrer hervorragenden Technik nicht ins Hyperdramatische flüchten muss, findet die Stoyanova zu einer nach innen gerichteten, stilsicheren Expressivität. Ob bei Puccini, Mascagni oder Catalani, jede Rolle erhält ein eigenes Vokalporträt, das aus dem Verlauf der musikalischen Phrase erfühlt und aus der Reflexion des Textes entwickelt ist. Mit diesem Album setzt sich Krassimira Stoyanova klar von aktuellen Fachkolleginnen ab. Für die Jury: Markus Thiel

Alte Musik

Dieterich Buxtehude: Sonates en trio

Dieterich Buxtehude et.al.: Triosonaten. La Rêveuse. Stéphane Dudermel, Florence Bolton, Benjamin Perrot, Emily Audoin, Carsten Lohff, Sébastien Wonner. Mirare MIR 303 (harmonia mundi)

Der Lübecker Marienkantor Dieterich Buxtehude wird gemeinhin mit virtuoser Orgelmusik in Verbindung gebracht. Jetzt ermöglicht das französische Kammermusikensemble La Rêveuse eine echte Entdeckung, in zweifacher Hinsicht. Es legt eine Einspielung von drei Triosonaten aus den bisher unveröffentlichten Manuskripten von Uppsala vor, kombiniert mit einer weiteren Buxtehude-Sonate sowie zwei Kompositionen aus Buxtehudes räumlichen Umfeld, komponiert von einem Anonymus sowie Dietrich Becker. Beispielhaft zeigt dies, wie sehr es Buxtehude daran gelegen war, seine Hörer nicht nur mit Virtuosität, sondern auch mit flexiblen Besetzungen zu unterhalten. Diese Farbigkeit der Klänge ist auch heute noch überraschend! Jenseits aller musikologischen Aspekte besticht die Aufnahme durch eine feine Balance zwischen Präzision und Entspanntheit, bei enormer Sogwirkung. Für die Jury: Thomas Ahnert

Zeitgenössische Musik

Salvatore Sciarrino: Un’immagine di Arpocrate

Giorno velato presso il lago nero. Tamara Stefanovich, Carolin Widmann, Chorwerk Ruhr, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Susanna Mälkki, Jonathan Nott. Neos 11626 (harmonia mundi)

Eine soghafte Anziehungskraft haben diese beiden Stücke aus der Feder Salvatore Sciarrinos: das Konzert für Klavier, Chor und Orchester mit dem Titel »Un’ immagine di Arpocrate« nach Texten von Wittgenstein und Goethe sowie das Violinkonzert »Giorno velato presso il lago nero«, welches hier als Ersteinspielung zu hören ist. Es handelt sich um zwei Mitschnitte der glänzend kuratierten Reihe Musica Viva des Bayerischen Rundfunks. Sie führen uns in die Welt des Kindgottes Harpokrates, Herr des Schweigens, und an den schwarzen See eines zeitgenössischen Gemäldes: eine äußerst beredte Sphärenmusik, die unsere Ohren für das Geschehen im Dunkeln weit öffnet und eine nächtliche Welt voller Magie offenbart. Für die Jury: Marita Emigholz

Historische Aufnahmen

Tatjana Nikolajewa – Prag Recordings 1951-1954

Tschechiche Philharmoniker, Konstantin Iwanov. 2 CDs, Supraphon SU 4216 (Note 1)

Die russische Pianistin und Musikpädagogin Tatjana Nikolajewa, Jahrgang 1924, bewies mit diesen ihren frühen Aufnahmen, die sie sechsundzwanzigjährig ab 1951 in Prag eingespielt hat, dass sie neben Swjatoslaw Richter und Emil Gilels zu den charismatischen Ausnahmetalenten im Musikleben der Sowjetunion zählt. Ob mit der fünften Französischen Suite BWV 816 oder der Chromatischen Fantasie und Fuge BWV 903 von Johann Sebastian Bach, ob mit Sergej Prokofjews dritter Sonate, dem zweiten Klavierkonzert Rachmaninows oder den Präludien und Fugen op.87 von Schostakowitsch, ergänzt durch drei von ihr selbst komponierte, originelle Konzertetüden: Das bestechend ausdrucksstarke Klavierspiel der Nikolajewa und ihre freie musikalische Phantasie machen dieses Studio-Aufnahmen zu Kostbarkeiten der Interpretationsgeschichte. Für die Jury: Wolfgang Schreiber

Grenzgänge

Theo Bleckmann: Elegy

Ben Monder, Shai Maestro, Chris Tordini, John Hollenbeck. ECM 2512 ( Universal)

Er ist ein Meister des Atmosphärischen! Der Wahl-New Yorker Sänger und Komponist Theo Bleckmann gestaltet mit »Elegy« Räume, die die Zuhörenden auf magische Weise in sich hinein ziehen. Der Begriff »ambient« bekommt hier eine andere, tiefere Bedeutung, als Absage an die Beliebigkeit wabernder Sounds. So wird die Umgebung zu einem Bezugsfeld innerer Auseinandersetzungen. Mit seiner charismatisch klaren und zugleich wandlungsfähigen Gesangsstimme widmet sich Bleckmann existentiellen Fragestellungen, er reflektiert Tod und Hinübergleiten, ohne einen Anflug düsterer Sentimentalität. Sparsame Textvertonungen und von Vokalisen durchzogene Instrumentalstücke fügen sich zu einem leuchtenden Zyklus, den er mit einem kleinen Ensemble Gleichgesinnter realisiert. Wie in einem Zen-Gedicht werden Fragen zu Antworten, weitergetragen auf den Wellen des Klanges. Für die Jury: Bert Noglik

Jazz

Richard Galliano

New Jazz Musette. Sylvain Luc, André Ceccarelli, Philippe Aerts. 2CDs Ponderosa CD 133 (Q-rious)

Lange wurde es belächelt. Wenn das Akkordeon heute im Jazz ernst genommen wird, dann liegt das nicht zuletzt daran, dass der Franzose Richard Galliano seine Finger im Spiel hat. Sie entlocken dem Instrument einen klanglichen Nuancenreichtum, der an große Bläser, Organisten oder Sänger erinnert. Mit »New Jazz Musette« knüpft Galliano an das Album »New Musette« von 1991 an, dem er seinen Durchbruch verdankte. Hier verschmilzt er wieder Elemente urfranzösischer Caféhausmusik und des modernen Jazz, nicht nur in Musettewalzern, sondern auch in Blues, Tangos und chansonesken Balladen. Den Eindruck von Frische und Gelöstheit unterstreicht die Begleitung des Bassisten Philippe Aerts und des Drummers André Ceccarelli, während der Gitarrist Sylvain Luc zur zweiten Solostimme wird, in der das Erbe Django Reinhardts weiterlebt. Für die Jury: Marcus A. Woelfle

Jazz

David Murray & Aki Takase

Cherry – Sakura. Intakt CD 278 (harmonia mundi)

Ihre Musik schöpft aus der Liebe zu Fats Waller und Thelonious Monk: kein Ton zu viel, eine Ästhetik des Widerständigen, eine klare Haltung zur Kunst. Vor über zwanzig Jahren nahm die Pianistin Aki Takase schon einmal ein Duo-Album mit dem amerikanischen Saxophonisten David Murray auf, das macht dieses neue Werk umso reizvoller. Denn bei Takase und Murray wird eine künstlerische Haltung greifbar, die für die zeitgenössische Musik heute wichtig ist: Diese Menschen haben ihr Leben der Improvisation gewidmet. Das kurzweilig Implodierende der Musik nimmt atemraubende Züge an – es gehe nicht um Kunststückchen, auch nicht um Besserwisserei; der Sound müsse von innen wachsen, sagt die japanische Wahlberlinerin Takase. Und das ist unbedingt Jazz. Grandios und wuchtig. Für die Jury: Christian Broecking

Weltmusik

Aurelio

Darandi. Stonetree/Real World CDRW216 (pias/Rough Trade)

In den sonnigen Klängen von Aurelio Martinez steckt eine lange Erfahrung kultureller Selbstbehauptung: Der spanischen Versklavung entkommene Schiffbrüchige aus Westafrika verbanden sich im 17. Jahrhundert mit indianischen Volksgruppen der Karibikinsel St. Vincent, wurden von Engländern auf andere Inseln deportiert und besiedelten schließlich die Küsten Zentralamerikas. Die heutige Musik dieses verstreut lebenden Garifuna-Volkes führt westafrikanische und karibische Traditionslinien eigenständig weiter, Aurelio Martinez ist der derzeit wichtigste Botschafter dieser Kultur und des Paranda-Stils. Sein Album »Darandi« bietet vor allem hinreißend frische Interpretationen von Klassikern, das schön gemachte CD-Büchlein erzählt ausführlich die Geschichte dazu. Für die Jury: Jürgen Frey

Traditionelle Ethnische Musik

Nishtiman Project: Kobane

Kurdistan (Iran-Irak-Turquie) Hussein Zahawy, Sohrab Pournazeri, Ertan Tekin, Donya Kamali, Mayar Toreihi, Robin Vassy. Accords croisés AC 164 (harmonia mundi)

Im Pressetext des Nishtiman Projekts rund um den Komponisten Sohrab Pournazeri heißt es: »Der Klang dieses Brückenschlags übertönt den Lärm der Waffen.« Es geht um das Heimatland der Kurden mit dem geistigen Zentrum Kobane, jetzt eine Trümmerstadt an der syrisch-türkischen Grenze. Mit dieser CD öffnet sich eine musikalische Welt sondergleichen, ein Konnex lebensprühender Tanzmelodien und erschütternder Klagelieder, eine Essenz des Nahen Ostens. Niemand wird den heiseren Klang der Balaban-Oboe und die Stimme der Sängerin Donya Kamali vergessen können. Für die Jury: Jan Reichow

Liedermacher

Johan Meijer

Dazumal – Europeana. Nederossi NOP 170106/6006393 (www.nederossi.com)

Nach »Zeitenwechsel«, »Raum + Zeit«, »Haut nah« und »Tilsit« ist »Dazumal« bereits die fünfte Veröffentlichung innerhalb des hoch ambitionierten Europeana-Projekts von Johan Meijers. Das aktuelle Werk dieser gleichermaßen aufwändig wie informativ produzierten Reihe präsentiert Lieder aus Polen, Ungarn, Tschechien, Russland, Ost- und West-Deutschland, Italien, Frankreich und den Niederlanden. Völlig uneitel nimmt Meijer sich selbst weitgehend zurück und stellt gleichzeitig seine Kunst voll und ganz in den Dienst eines geeinten Kontinents. Ein vorbildlicher Europäer! Für die Jury: Kai Engelke

Folk und Singer/Songwriter

Seth Lakeman

Ballads Of The Broken Few. Cooking Vinyl. COOKCD644 (Sony)

Lakeman entwickelt immer neue Ideen, nimmt in stillgelegten Schächten auf oder, wie diesmal, in einem alten, jakobinischen Herrenhaus, was sich deutlich auf den warmen Klang des Albums auswirkt. Das gilt auch für die Arbeit des Produzenten Ethan Johns, der die Erfahrung von Produktionen zum Beispiel mit Paul McCartney oder den Kings of Leon einfühlsam in diesen rein akustischen Zusammenhang bringt. Der Geniestreich schlechthin jedoch ist die Kooperation mit dem weiblichen Gesangstrio Wildwood Kin. Die Songs sind für diese Stimmkombination wie geschaffen, mehr als einmal ist man überzeugt, hier allerbeste Gospelmusik zu hören, abgrundtief englische Gospelmusik wohlgemerkt. Einfach eine großartige CD. Für die Jury: Mike Kamp

Hard und Heavy

Kreator

Gods Of Violence. Nuclear Blast NB 3725-2 (Warner)

Kreator demonstrieren auf »Gods Of Violence« wie kaum eine zweite Band, was Thrash Metal 2017 alles sein kann: modern, ohne seine Achtziger-Wurzeln zu verleugnen, melodisch, ohne auf Brutalität zu verzichten und politisch, ohne textliche Schärfe einzubüßen. Die Band um Miland »Mille« Petrozza und Sami Yli-Sirniö gehen musikalisch hochversiert zu Werke und schütteln ohne Unterlass Metal-Hymnen wie »World War Now«, »Hail To The Hordes« und »Satan Is Real« aus dem Ärmel. Ein monumentales Album einer monumentalen Band. Für die Jury: Sebastian Kessler

Alternative

Candelilla

Camping. Trocadero 136232 (Indigo)

Auf ihrem dritten Studioalbum »Camping« setzen die vier Musikerinnen von Candelilla das Experimentieren mit Gegensätzen fort. Zu treibendem Schlagzeug und stoischem Basslauf zählen sie teilnahmslos, wie in Trance, menschliche Empfindungen und körperliche Bestandteile auf. Hysterische Dissonanzen und zarte Melodielinien von Gitarre und Klavier blitzen zwar gelegentlich auf, setzen dem Vorwärtsdrang der Songs aber nichts entgegen. Candelilla gönnen ihren Hörern keinen Höhepunkt und keine Entladung. Die Spannung scheint sich ins Unermessliche auszudehnen. Konzentriert und gnadenlos halten sie die Ruhe vor dem Sturm in der Schwebe. Für die Jury: Jumoke Olusanmi

Electronic und Experimental

Sampha

Process. XL/Beggars Group 134102 (Indigo)

Dass von der Debüt-EP »Sundanza« des Londoner Sängers, Komponisten und Produzenten Sampha bis zum ersten Album sieben Jahre vergingen, hatte mit seiner Arbeit mit und für SBTRKT, Kanye West, Solange und Frank Ocean zu tun – aber auch mit dem Krebsleiden und dem Tod seiner Mutter. Das Album »Process« ist nicht zuletzt Resultat des Prozesses, diese tragischen Erlebnisse zu verarbeiten. Düstere Stimmungen dominieren die zehn Songs, die auch textlich von Trauer und Schmerz erzählen und immer wieder die Form zu verlieren scheinen. Die Soundästhetik bringt naturalistisches Pianospiel mit hypermodernen Grime- und R&B-Klängen zusammen. Und die markante, sanfte Stimme von Sampha zeugt emotional eindringlich von der zutiefst menschlichen Fähigkeit, inneren Schmerz in Schönheit zu verwandeln. Für die Jury: Guido Halfmann

Blues

Big Daddy Wilson

Neckbone Stew. Ruf Records RUF 1236 (in-akustik)

Ein Neckbone Stew kann eine kulinarische Delikatesse für Augen, Nase und Gaumen sein, wobei es freilich immer auf die Zutaten und das richtige Mischungsverhältnis ankommt. Mit Big Daddy Wilsons Album »Neckbone Stew« kann man nun auch seinen Ohren etwas Gutes tun, denn der hat für sein akustisches Süppchen exakt die passenden Ingredienzien ausgewählt und auch noch derart raffiniert gewürzt, dass man ihnen bereits nach der ersten Kostprobe regelrecht verfällt. Blues, Gospel, Roots, Soul, Funk und Reggae verbinden sich zu einer unwiderstehlichen akustischen Melange, von der man sich nach dem letzten Löffelchen augenblicklich einen Nachschlag wünscht. So hört sich das Gourmet-Menü eines Sternekochs an. Für die Jury: Karl Leitner

R&B, Soul und Hip-Hop

Omar

Love In Beats. Peppermint Jam / Freestyle Records PJCD026 (SPV)

Er orientierte sich noch nie an kurzzeitigen Trends. Omar Lye-Fook bleibt sich treu, ohne jemals Retro zu klingen. Auch auf »Love In Beats« ist erneut diese spezielle Mischung aus Jazz, Soul, Funk und Latin zu hören, die schon immer seinen ganz eigenen Sound definiert hat. Angereichert um HipHop-Elemente, die sein Bruder Scratch Professor beigesteuert hat. Einer der speziellen Momente des Albums ist »Girls Talk«, hier gibt es ein Wiederhören mit seinen mittlerweile neun Jahre alten Zwillingstöchtern, die schon kurz auf »The Man« zu hören gewesen waren. Omar hat zum Thema Familie an sich mit den beiden sicherlich ein neues Kapitel aufgeschlagen, an dem er den Hörer teilnehmen lässt: positive Energie, ausgestrahlt durch Musik, umgesetzt in seelenvolle Songs. Für die Jury: Michael Rütten

Wortkunst

Fjodor Dostojewski: Verbrechen und Strafe

Walter Adler, Sylvester Groth, Swetlana Geier, 3CDs Der Audio Verlag ISBN 978-3-7424-0050-5

Der Roman von Fjodor Dostojewskij über den Studenten Raskolnikow, der zwei Morde verübte, da er sich als »großer« Mensch dazu berechtigt fühlt, dann aber an der auf sich geladenen Schuld zu zerbrechen droht, gehört zur Weltliteratur. Hier liegt er vor in der wunderbar stimmigen Übersetzung von Swetlana Geier. Dazu kommen die Regieleistung durch Walter Adler und die Sprecherkunst von Sylvester Groth. Bei jedem Satz, in jeder Betonung ist spürbar, wie präzise die Psyche der handelnden Personen ausgelotet wurden. Auch das ausführliche Booklet sei erwähnt, mit einem Essay des Literaturwissenschaftlers Thomas Grob zu Hintergründen der Entstehung des Romans. Ein Gesamtkunstwerk, dem man viele Hörer wünscht. Für die Jury: Dorothee Meyer-Kahrweg

Kinder- und Jugendaufnahmen

Michelle Cuevas: Kasimir Karton – mein Leben als unsichtbarer Freund

Ulrich Noethen, Anke Kuhl, Uwe-Michael Gutzschahn. 3 CDs Der Audio Verlag ISBN 978-3-7424-0002-4

Sie gehören zur Kindheit wie Spielzeug und Geheimverstecke: die unsichtbaren Freunde. Einer von ihnen, Kasimir Karton, erzählt hier seine Geschichte, vom Leben als Fleurs Zwillingsbruder, vom Schock, als er von seiner Unsichtbarkeit erfährt, von der Begegnung mit den »Anonymen Eingebildeten« und schließlich von der Suche nach neuen Kindern, die einen wie ihn brauchen. Ulrich Noethen liest Michelle Cuevas Geschichte vom unsichtbaren Freund Kasimir hinreißend und mit viel Empathie. Jeder Figur verleiht er eine so unverwechselbare Stimme, dass sie allesamt äußerst lebendig erscheinen. Ein bewegendes Hörbuch für die ganze Familie – zum Schmunzeln, Nachdenken und Mitfiebern! Für die Jury: Juliane Spatz

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