Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Michail Jurowski in Gohrisch – Internationale Schostakowitsch Tage

Dmitri Schostakowitsch: Kammersymphonie c-moll op.110a, Aus jiddischer Volkspoesie op.79a; Arvo Pärt: Cantus in memoriam Benjamin Britten; Mieczysław Weinberg: Rhapsodie über moldawische Themen op.47,1. Evelina Dobračeva, Marina Prudenskaya, Vsevolod Grivnov, Staatskapelle Dresden, Michail Jurowski. Berlin Classics 0300935BC (edel)

Auch wer vom Luftkurort Gohrisch in der sächsischen Schweiz noch nie etwas gehört hat, der sollte hier zuhören. Seit 2010 erinnert die Staatskapelle Dresden mit einem kleinen Festival vor Ort engagiert an Dmitri Schostakowitsch, der hier sein intensives achtes Streichquartett komponiert hatte. Rudolf Barschai hat es instrumentiert, er sollte es ursprünglich auch bei den ersten Schostakowitsch-Tagen dirigieren. Für den erkrankten Doyen sprang Michail Jurowski ein und demonstrierte, wie man Empathie und Emphase kombiniert: eindringlich und intensiv. Ergänzend dazu gibt es Pärts »Cantus« sowie kunstfertig Folkloristisches von Schostakowitsch und seinem Freund Mieczysław Weinberg – eine symphonische Entdeckungsreise. Für die Jury: Rainer Wagner

Orchestermusik und Konzerte

Medtner, Rachmaninow / Marc-André Hamelin

Nikolai Medtner: Klavierkonzert Nr. 2 c-moll op.50; Sergej Rachmaninow: Klavierkonzert Nr. 3 d-moll op.30. Marc-André Hamelin, London Philharmonic Orchestra, Vladimir Jurowski. Hyperion CDA68145 (Note 1)

Wer könnte dem russischen Komponisten Nikolai Medtner ein besserer Anwalt sein als der fingerfertige Marc-André Hamelin? Seit seinen Anfängen setzte er sich für dessen Œuvre ein, seine Einspielung sämtlicher Sonaten Medtners gilt als Referenz. Hier kombiniert Hamelin das zweite Klavierkonzert c-moll Op. 50 mit dem dritten des ungleich bekannteren Sergej Rachmaninow. Medtner hatte nämlich sein wuchtig-mitreißendes Werk, das 1927 uraufgeführt wurde, eben diesem Freunde gewidmet: eine zwingende Gegenüberstellung, die Licht auf ästhetische Gemeinsamkeiten wirft. Kraftvoll begleitet von Vladimir Jurowski und dem London Philharmonic Orchestra bewegt sich Hamelin mit atemraubender Sicherheit durch den gnadenlos kniffligen, unablässig fordernden Solopart – so nachdrücklich wie einfühlsam und kontrolliert, bis in den letzten Rausch und Bogen. Für die Jury: Wiebke Roloff

Kammermusik

Chausson, Franck / Salagon Quartet

Ernest Chausson: Konzert für Klavier, Violine und Streichquartett D-Dur op.21; César Franck: Sonate für Klavier und Violine A-Dur. Isabelle Faust, Alexander Melnikov, Salagon Quartet. Harmonia Mundi HMM 902254 (hm)

Unter den verschiedenen Arten, die Violine zu spielen, gibt es zweie, die hier interessant sind: erstens das glatte, elegante, aber auch nuancenreiche »für den Salon« und zweitens das schlackenreiche, weniger ausgezirkelte, aber leidenschaftliche, das Isabelle Faust sonst eigentlich pflegt. Umso schöner, dass sie beides in diesem Fall einander annähert: das Salonstück (Chausson) der Leidenschaft, das leidenschaftliche (Franck) dem Salon; und sie hat, zu ihrem wie immer hervorragenden Begleiter (Melnikov) auch noch ein Quartett (Salagon) gefunden, das ihr (bei Chausson) ein ganzes Orchester ersetzt: zwei Versuche, in die damals eher Symphonie- und Grand-Opéra-hörige Musikszene Frankreichs wieder Kammermusik einzuschmuggeln. Während die Physiognomie des Lehrers (Franck) durch die des Schülers (Chausson) hindurchschimmert, auch umgekehrt, ereignet sich »Interpretation«, die über das anmutige Spielen von Noten weit hinausgeht. Für die Jury: Thomas Rübenacker

Tasteninstrumente

Volodos play Brahms

Johannes Brahms: Intermezzi op.117 Nr.1-3, Klavierstücke op.118 Nr.1-6, Klavierstücke op.76 Nr.1-4. Arcadi Volodos. Sony 88875130192

Die späten Klavierstücke von Brahms sind nicht leicht zu spielen, gerade weil sie sich jeder vordergründigen Virtuosität verweigern. Andante und Adagio sind die vorherrschenden Tempobezeichnungen. Arcadi Volodos unterstreicht dies durch die Wahl seiner zumeist sehr langsamen eigenen Tempi. Dunkel und schwer klingt Brahms bei diesem Pianisten, der vor zwanzig Jahren als ein Supervirtuose bekannt geworden war, auch energisch und kraftvoll, wo dies gefordert wird. Bewundernswürdig seine reiche Klangkultur: So kantabel, so pianissimo-zart und mit so feinen, delikaten, im Diskant leuchtenden Farbtönen tönt diese Lesart, dass Brahms wie ein wehmütiger Melancholiker höchsten Grades erscheint. Hinreißend! Für die Jury: Gregor Willmes

Tasteninstrumente

Mallorca Edition Historische Orgeln

Werke von Antonio Soler, Domenico Scarlatti, José Lidón, Sebastián Aguilera de Heredia, Pablo Bruna. Martin Schmeding. 6 SACD Cybele CYB001404 (Klassik Center)

Gerade erst hat Martin Schmeding mit der Aufnahme des gesamten Orgelwerks von Max Reger Maßstäbe im romantischen Repertoire gesetzt, da tut er nun gleiches mit hispanischer Musik des 16. bis 19. Jahrhunderts. Und das Gesamtpaket stimmt auch hier: Auf drei Mallorquinischen Orgeln spielt Schmeding mit nie nachlassender Eloquenz dazu passendes Repertoire. Abgerundet wird die ebenso begeisternde wie instruktive Aufnahme durch eine umfangreiche Dokumentation, zu der auch Gespräche mit dem Interpreten und dem Orgelbauer Gerhard Grenzing gehören, der die Instrumente betreut. Ein Projekt mit Referenzcharakter. Für die Jury: Guido Krawinkel

Oper

Stravaganza d’Amore!

The Birth of Opera at the Medici Court 1589-1608. Werke von Lorenzo Allegri, Antonio Brunelli, Giovanni Battista Buonamente, Giulio Caccini, Emilio de Cavalieri, Girolamo Fantini, Marco da Gagliano, Cristofano Malvezzi, Luca Marenzio, Alessandro Orologio, Jacopo Peri, Alessandro Striggio. Pygmalion, Raphaël Pichon. 2 CDs HMM 902286.87 Harmonia Mundi France (hm)

Eine Oper, die es so nie gab: Raphaël Pichon hat Arien, Szenen und Zwischenspiele aus sogenannten Intermedien, wie sie um 1600 in Florenz aufgeführt wurden, zusammengestellt zu einem durchgängigen Werk, um einen klingenden Eindruck von der Geburt der Oper am Hofe der Medici zu vermitteln. Verwendet wurden Kompositionen aus teils prominenten Federn, darunter die von Giulio Caccini und Jacopo Peri. Mit seinem Ensemble Pygmalion und einem hervorragenden Sängerensemble aus Alte-Musik-Spezialisten öffnet der französische Dirigent bei diesem Experiment ein neues Fenster zum Frühbarock, vor dem es zwitschert, duftet und rauscht. Für die Jury: Bjørn Woll

Oper

Bohuslav Martinů: Die griechische Passion

Rolf Romei, Dshamilja Kaiser, Markus Butter, Wilfried Zelinka, Manuel von Senden, Tatjana Miyus, Taylan Reinhard u.a. Chor & Extrachor der Oper Graz, Grazer Philharmonisches Orchester, Dirk Kaftan. 2 CDs Oehms OC 967 (Naxos)

Schon vom Stoff her ist dies das Werk der Stunde: eine zeitgenössische Volksoper, die mit politischem Zeigefinger ins Hier und Heute weist. Ein christliches Dorf bereitet Passionsspiele vor, da treffen vom Schicksal geschlagene Flüchtlinge ein und stellen die satte Selbstgerechtigkeit der Bewohner und ihren Wertekode in Frage, eifernder Klerus steht gegen urchristliche Brüderlichkeit. Der Grazer Live-Mitschnitt führt dieses Drama lebhaft vor, zumal Dirigent Dirk Kaftan macht mit seinem Philharmonischen Orchester die zu Unrecht vergessene Farbigkeit und theatralische Wucht von Martinůs Partitur hörbar: aktionsgebundene Stimmführung, achtstimmige Chöre nahe an griechischer Kirchenmusik, Leitmotivik und folkloristische Farben, Ziehharmonika- und Englischhorn-Soli, beseelte Melodie und heftige Aktion. Für die Jury: Wolf-Dieter Peter

Chor und Vokalensemble

Mendelssohn / Frieder Bernius

Felix Mendelssohn Bartholdy: Lieder im Freien zu singen. Kammerchor Stuttgart. Frieder Bernius. Carus 83.287 (Note 1)

Dem Titel »Lieder im Freien zu singen« wird Frieder Bernius mit seinem vorzüglichen Kammerchor Stuttgart insofern gerecht, als hier tatsächlich eine neue Brise frischer Luft durch Felix Mendelssohn Bartholdys vierstimmige Sätze zu wehen scheint. Sie bläst den Mief von sentimentaler Geselligkeit aus Feld, Wald und Wiese, aus Tälern weit und Höhen. Wachen Ohres für die vertonte Lyrik, die oft hochkarätig ist, und dabei doch völlig ungekünstelt rekonstruiert Bernius die inspirierte Schlichtheit dieser Chorlieder, schlackenlos organisch und in luzider Perfektion des Klangs. Für die Jury: Martin Mezger

Klassisches Lied und Vokalrecital

Grand Opera / Diana Damrau

Giacomo Meyerbeer: Arien und Szenen aus Le Prophète, Robert le Diable, L’Africaine, Les Huguenots, Il Corciato in Egitto, L’Étoile du Nord, Alimelek oder die beiden Kalifen, Le Pardon de Ploërmel, Emma di Resburgo, Ein Feldlager in Schlesien. Diana Damrau, Charles Workman, Laurent Naouri, Kate Aldrich, Joanna Curelaru, Orchester und Chor der Nationaloper Lyon. Emmanuel Villaume. Erato 0190 2958 48996 (Warner)

Man lasse sich vom Titel nicht in die Irre führen! Diese brillante Hommage an Giacomo Meyerbeer rückt keineswegs nur den Meister der Pariser Grand Opéra ins Licht, sondern auch den stilistisch polyglotten Europäer, der die Opéra Comique ebenso beherrschte wie die italienische Cavatine oder das deutsche Singspiel. Souverän, koloraturfunkelnd und textsicher in drei Sprachen, dazu farbensatt, mit einer wissenden Empathie für die Figuren fächert Diana Damrau elf Glanzstücke aus mehr als fünf Jahrzehnten auf – von »Alimelek«, komponiert 1813, bis zur »L’Africaine« von 1865 spannt sie den Bogen. Emmanuel Villaume sowie Orchester und Chor der Opéra National de Lyon machen das Glück perfekt. Eine unwiderstehliche Verführung. Für die Jury: Albrecht Thiemann

Alte Musik

Gloria in Excelsis Deo

Johann Sebastian Bach: Kantaten BWV 30, 69, 191, 232. Hana Blažíková, Robin Blaze, Gerd Türk, Peter Kooij, Bach Collegium Japan, Masaaki Suzuki. Blu-ray BIS-2201 BD (Klassik Center)

»Ex oriente lux« – das darf gelten für Masaaki Suzukis vor achtzehn Jahren begonnenes Unternehmen, Bachs geistliche Kantaten einzuspielen. Dieser Film, eine Aufzeichnung in »Konzertstimmung«, ergänzt zu einem geringeren Teil durch eine Dokumentation mit Äußerungen beteiligter Künstler, besticht wie das gesamte Projekt durch Klarheit und Geradlinigkeit. Zu erleben sind exemplarisch alle Meriten dieser ambitionierten Bach-Lesart: der wunderbar deutlich singende Chor, aus dem die Solisten jeweils hervortreten; das sehr artikuliert und animiert musizierende Instrumentalensemble; sowie Suzuki als bescheidener, kompromissloser und undogmatischer spiritus rector. Er bezeichnet die Kantaten zwar als ein »heiliges Buch der Religion und Spiritualität«, doch er lässt sie nicht zelebrieren, vielmehr inspiriert und packend aufführen. Für die Jury: Helge Grünewald

Alte Musik

Jean Guyot: Te Deum Laudamus

Jean Guyot: Te Deum Laudamus, Te Deum Patrem, O florens rosa, Amen dico vobis, Accepit Jesus panem, Prudentis virgines, Omni tempore, Adorna thalamum, Noe noe genuit puerpera, Ave Maria Signum Magnum. Terry Wey, Tore Tom Denys, Achim Schulz, Tim Scott Whitesley, Unfried Staber, David Allsopp, Cinquecento Renaissance Vokal. Hyperion CDA68180 (Note 1)

Der Komponist Jean Guyot de Châtelet gehört zu jener franko-flämischen Avantgarde, die den klassischen Kontrapunkt Josquins mit Klangsinnlichkeit und phantasievollen Motivverarbeitungen verknüpft hat. Fünfzehn seiner insgesamt 44 erhaltenen Werke stellt das international besetzte Ensemble Cinquecento auf diesem Album vor, darunter eine großes Te Deum für sechs Stimmen. Die vokale Homogenität ist äußerst beeindruckend, der Ensembleklang warm und geschmeidig, die vorbildliche Gestaltung perfekt austariert zwischen kluger Analyse und angemessener Expressivität. Für die Jury: Matthias Hengelbrock

Zeitgenössische Musik

Milica Djordjević

Milica Djordjević: Death of the Star-Knower, Phosphorescene, ... würde man denken: Sterne, how to evade?, Do You Know How to Bark?, Manje te u majke groze, faíl. Arditti Quartet, Truike van der Poel, Christine Chapman, Hannah Weirich, Marco Blaauw, Bruce Collings, Florentin Ginot, Peter Veale, Teodoro Anzellotti, Ensemble musikFabrik. Johannes Schöllhorn. Wergo 64222 Deutscher Musikrat edition zeitgenössische Musik (Naxos)

»Ich schreibe wie wild«, sagt die Serbin Milica Djordjević über ihre Art zu komponieren. Sie lässt dabei auch das Scheitern zu, aus dem sie Neues schaffen kann. Jedes der sieben sehr unterschiedlichen Stücke auf diesem Album verdankt seine Entstehung einer fast unbändigen Lust am Experimentieren und sprüht nur so vor Energie, die oftmals sogar in Sprunghaftigkeit mündet. Damit erreicht die Komponistin ein höchst erstaunliches Maß an Unmittelbarkeit und Authentizität. Diese spannende Musik wird von der Porträt-CD des Deutschen Musikrats in hervorragenden Aufnahmen mit ausgezeichneten Interpreten präsentiert. Bessere Anwälte hätte Djordjević dafür nicht finden können,- eine wahre Freude! Für die Jury: Marita Emigholz

Historische Aufnahmen

Karl Böhm – The Early Years 1935-1949

Werke von Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms, Anton Bruckner, Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Schubert, Robert Schumann, Johann Strauss, Richard Strauss, Max Reger, Richard Wagner und Carl Maria von Weber. Mit Kirsten Flagstadt, Christel Goltz, Elisabeth Höngen, Esther Rethy, Elisabeth Schwarzkopf, Margarete Teschemacher, Eugen Fuchs, Josef Hermann, Hans Hermann Nissen, Set Svanholm, Edwin Fischer, Walter Gieseking, Wilhelm Backhaus, Willi Boskovsky, Wolfgang Schneiderhan, Wiener Philharmoniker, Berliner Philharmoniker, Philharmonie Orchestra, Karl Böhm. 19 CDs Warner Classics 0190 2958 86721

Energie und Natürlichkeit des musikalischen Ausdrucks, Strenge des Formbewusstseins, Festigkeit im Rhythmischen – das sind die Merkmale der frühen Aufnahmen von Karl Böhm. Sie entstanden ab 1935 hauptsächlich mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden und den Wiener Philharmonikern. Aus Böhms breit gefächertem Opern- und Konzertrepertoire ragen die plastisch konturierten symphonischen Mozart- und Beethoven- sowie die Brahms- und Brucknerinterpretationen heraus, ebenso charakteristisch die Szenen aus den »Meistersingern« in der Dresdner Semperoper. Dort bekleidete Böhm von 1934 bis 1942 das Amt des Generalmusikdirektors, von den Nationalsozialisten gefördert. Richard Strauss stand ihm besonders nahe, einige der Symphonischen Dichtungen haben unter Böhms Leitung authentischen Rang. Für die Jury: Wolfgang Schreiber

Grenzgänge

Masaa

Outspoken. Traumton 4647 (Indigo)

Sie entdecken das Eigene im Fremden und führen musikalische Gespräche, die sie die Freiheit jenseits jeglicher Grenzziehungen erleben lassen. Rabih Lahoud, Vokalist mit Wurzeln im Libanon, findet mit dem Trompeter Marcus Rust, dem Pianisten Clemens C. Pötzsch und Demian Kappenstein am Schlagzeug zu einer dichten Kommunikation, die Einflüsse aus orientalischer Kulturtradition, Klassik und Jazz in einen faszinierenden Fluss der Improvisation versetzt. Das dritte Album der Band strahlt Reife aus, ohne dass die Musik an Spontaneität eingebüßt hätte. Die häufig arabisch vorgetragene, oft aus der Situation heraus entwickelte Poesie Lahouds verknüpft sich mit den Instrumentalklängen zu einem vielfarbigen Spektrum wechselnder Stimmungen zwischen Meditation und Expressivität. Musik direkt aus dem Herzen. Für die Jury: Bert Noglik

Filmmusik

Hanns Eisler

Hanns Eisler: »Hangmen also die!«, »The 400 Million«, »The Grapes of Wrath«. Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Johannes Kalitzke. Capriccio C5289 (Naxos)

Die Entstehungsgeschichte von »Hangmen also die« gäbe einen prima Filmstoff ab: Bert Brecht und der Regisseur Fritz Lang arbeiteten für Hollywood an einem Anti-Nazi-Drama über das Attentat auf Heydrich. Die Musik lieferte Hanns Eisler, ein weiterer Exilkünstler, der sich damals gemeinsam mit Theodor W. Adorno theoretische Gedanken über das Genre Filmmusik machte. 1944 war dieser Soundtrack trotz der Kürze des Materials für einen Oscar nominiert – und geriet danach in Vergessenheit. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Leitung von Johannes Kalitzke kombiniert für diese Einspielung Eisler-Frühwerke mit zwei weiteren Filmmusiken (»The 400 Million«, »The Grapes of Wrath«). Ton-Dokumente einer Zeit, in der komplexe Ton-Kunst auch leidenschaftliche politische Botschaften transportieren sollte. Für die Jury: Joachim Mischke

Musikfilm

Kraftwerk: 12345678. 3-D Der Katalog

Ralf Hütter, Henning Schmitz, Fritz Hilpert, Falk Grieffenhagen. DVD + Blu-ray KlingKlang Musikfilm / Parlaphone 0190295924928 (Warner)

Vermutlich sind sie Deutschlands wichtigster Beitrag zur Popmusikkultur: Spätestens mit dem Album »Autobahn« im Jahr 1974 erschloss Kraftwerk neue musikalische Wege abseits des traditionellen Songkonzepts und ebnete dabei Stilen wie Techno, Synthie Pop oder HipHop den Weg. Dieser Film bietet Live-Aufnahmen von Band-Klassikern wie »Autobahn«, »Computerwelt« oder »Die Roboter« in gekürzten und in puncto Sound aufpolierten Fassungen. Kraftwerks Bühnenshow überzeugt durch ein reduziertes, gleichwohl ambitioniertes Design. Keine Projektion oder Grafik, die zufällig wäre, die Verzahnung der Bilder mit den repetitiven Rhythmen und Klangflächen ist eng. Für die Jury: Andreas Kunz

Jazz

Benny Green

Happiness! Live at Kuumbwa. Sunnyside SSC1485 (Delta Music)

Benny Green klingt, als musiziere er im Jahr seiner Geburt: 1963. Und doch schlüge bei ihm die Verbalkeule »Epigone« ins Leere. Auf diesem Live-Album, das seinem Titel alle Ehre macht, vernehmen wir kein Abspulen von Jazzhistorie, vielmehr den natürlichsten Ausdruck seines freudig swingenden Selbst. Greens unverwechselbarer Personalstil, der ebenso vital wie virtuos und unnachahmlich locker Elemente seines Mentors Oscar Peterson und souliger Hardbop-Pianisten à la Wynton Kelly vermittelt, erlaubt es ihm, sich vor seinen Ahnen zu verneigen, ohne sie zu kopieren, und das mit selten gespieltem Repertoire diverser Jazz-Größen. Green, der Tieftöner David Wong und der Drummer Rodney Green atmen im gleichen Rhythmus, sie haben den gleichen Pulsschlag. So wird »Happiness« zu einem rückhaltlos swingenden Trio-Album. Für die Jury: Marcus A. Woelfle

Jazz

Bill Frisell, Thomas Morgan

Small Town. ECM 2525 (Universal)

Traumwandlerische Interaktion zweier Seelenverwandter: In intimen Zwiegesprächen erforschen der Gitarrist Bill Frisell und der Bassist Thomas Morgan die aufgeklärte Americana-Tradition. Dieses Album, live mitgeschnitten im New Yorker Jazz-Tempel Village Vanguard, schlägt den Bogen vom Folk der Carter Family (»Wildwood Flower«) über den New-Orleans-Rock von Fats Domino (»What A Party«) und einem Paul-Motian-Tribute (»It Should Have Happened A Long Time Ago«) bis hin zur James Bond-Hymne »Goldfinger«, einem Lieblingssong aus Frisells Jugend. Sanft und eindringlich, sehnsüchtig und souverän zugleich – zwei Weltklasse-Musiker faszinieren durch ihre fast telepathische Verständigung. Für die Jury: Peter Kemper

Weltmusik

Juana Molina

Halo. crammed discs cram 275 CD 142762 (Indigo)

Fesselnde Klänge, packender Gesang, eine im Wortsinn unheimlich dichte Atmosphäre: »Halo« bedeutet Aura, Heiligenschein – das Motiv setzt sich fort bis hin zu den ausgebleichten Knochen des Artworks. Dieses Album von Juana Molina dreht sich thematisch um Magie, Zauber und Entzauberung. Zu Beginn der argentinischen Militärdiktatur 1976 als Jugendliche mit ihrer Familie nach Paris geflüchtet, wurde Molina nach ihrer Rückkehr als Kabarettistin mit eigener Fernsehsendung berühmt. In ihrer nunmehr gut zwanzigjährigen Tätigkeit als Sängerin und Multi-Instrumentalistin – sie spielt fast alle Parts selbst – erweist sie sich als souveräne und originäre Konzeptkünstlerin, deren akustisch-elektronische Musik hier mit ihrem Groove ansteckt, dort düster durch Mark und Bein geht, und oftmals beides zugleich. Für die Jury: Johann Kneihs

Traditionelle Ethnische Musik

Schamanen im Blinden Land

Shamans Of The Blind Country – Schamanen im Blinden Land. Michael Oppitz. 5 DVDs, 2 CDs, Arthaus Musik 109294 (Naxos)

Einzigartige Ton- und Bildspuren aus dem Himalaya: Diese drei Dörfer in West-Nepal, im »Blinden Land«, wie die Schamanen sagen, sind wohl kaum blinder als der Rest der Welt. Erfüllt von uralten Mythen und Ritualen, aufgezeichnet Ende der siebziger Jahre, gedanklich durchleuchtet von damals bis heute, wirkt dies wie die Summe eines ganzen Forscherlebens. Und Michael Oppitz ist ein Glücksfall unter den Ethnologen, weil er nicht nur authentisch, sondern auch filmästhetisch denkt und schaut. Der uneingeweihte westliche Zaungast wird vielleicht der gesungenen Litanei müde, deren Texte Wort für Wort nachzulesen sind; aber nie im Leben wird er die Bilder, Szenen und Stimmen vom fernen Dach der Welt vergessen. Für die Jury: Jan Reichow

Liedermacher

Die Grenzgänger

Brot & Rosen. Müller-Lüdenscheidt Verlag MLCD_22 (www.musikvonwelt.de / Broken Silence)

Mit diesem Album ist es den Grenzgängern wieder einmal gelungen, gesellschaftspolitisch engagierten Anspruch und künstlerisch hohes Niveau sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Deutschland im Winter 1843: Die Menschen erleiden große Not, viele sind arbeitslos, haben kein Dach über dem Kopf, suchen nach Möglichkeiten, ihr Elend zu verringern – als Auswanderer, als Flüchtlinge, allein sechs Millionen wandern in die USA aus. Michael Zachcial hat Lieder aus dieser Zeit zusammengetragen, die einerseits das Elend schildern, andererseits aber auch Hoffnung und Lebensfreude signalisieren. Das liebevoll gestaltete Booklet enthält neben den Liedtexten eine Fülle von historischen Informationen sowie viele aussagekräftige Bilder. Ein kleines Meisterwerk, hochaktuell dazu! Für die Jury: Kai Engelke

Folk und Singer/Songwriter

Tim Grimm And The Family Band

A Stranger In This Time. Cavalier Recordings. CR 255619 (Fenn)

Dieser Grimm erzählt keine Märchen, aber Tim Grimm ist sehr wohl ein Geschichtenerzähler allererster Güte. Die Themen sind alltäglich: Von der weiterhin wachsenden Schere zwischen arm und reich; von einem Politiker zwischen Lüge und Hass – er nennt keinen Namen, muss er auch nicht; wie eine Frau einen Mann mit einem Blick zähmen kann; das sind nur die ersten drei Songs. All das wirkt mit Grimms rauem Bass absolut authentisch, seine drei Söhne begleiten ihn unaufdringlich und akustisch. Fingerfertigkeit ist nicht gefragt, die Geschichte steht jeweils im Zentrum der Songs. So einfach kann extrem gute Musik sein. Für die Jury: Mike Kamp

Pop

Spoon

Hot Thoughts. Matador/Beggars Group 140842 (Indigo)

Viele Saitensounds plus etwas Elektronik – so konnte man bisher den Sound von Spoon zusammenfassen. Auf ihrem neuen Album musiziert das Quintett aus Austin, Texas, nun unter umgekehrten Vorzeichen, und das Ergebnis führt weiter weg vom Stil des Vorgängers (»They Want My Soul«, 2014), als man denkt. Ein Hauch von britischen Klängen im Stil von New Order prägt den Titelsong; »Can I Sit Next To You« erinnert hingegen an Prince: schwere Grooves, die verflixt leichtfüßig Richtung Dancefloor twisten. Auch Artpop-Songs wie »Us« und ein Discorock-Hybrid mit Spätsiebziger-Atmosphäre (»Shotgun«) zeigen die besondere Qualität von Spoon: bewährte Sounds so knackig aufzubereiten, dass sie klingen wie frisch geschaffen. Für die Jury: Christof Hammer

Hard und Heavy

Avatarium

Hurricanes And Halos. Nuclear Blast NB 3909-0 (Warner)

Der The-Devil’s-Blood-Groove von »The Starless Sleep« ist genauso irreführend wie der an Jon Bon Jovis Solo-Tränentreiber »Blaze Of Glory« erinnernde Unterbau von »Road To Jerusalem«. Die schwedische Band Avatarium gibt sich weder nihilistisch und dunkel, noch muten ihre Kompositionen in irgendeiner Form gewollt eingängig an. Stattdessen bauten sie mit der erneut ausschließlich Bewunderung hervorrufenden Frontfrau Jennie-Ann Smith auf ihrem Doom-Fundament, das Hintergrund-Hauptkomponist Leif Edling zu verantworten hat, einen wackelresistenten Turm aus Classic Rock und -Metal sowie ein wenig Prog und Psych dermaßen hingebungsvoll in den Himmel, dass sämtliche Wolken von selbst Reißaus nehmen. Für die Jury: Boris Kaiser

Alternative

Feist

Pleasure. Polydor 602557-397826 (Universal)

Dieses fünfte Album der kanadischen Sängerin und Gitarristin ist geprägt von bluesigen und folkigen Insignien, die in Kombination mit ihrer Stimme eine bisweilen an die jüngere PJ Harvey erinnernde Prägnanz entwickeln. Eine große Stärke des Albums ist seine Unmittelbarkeit und Direktheit, intensiviert durch eingeflochtene Umgebungsgeräusche und reduzierte Instrumentierungen. Atemraubend, wie Feist aus der Stille heraus zu wenig mehr als einer Bluesgitarre ihre Stimme erhebt, wenn sie mit zerschossenen Lebensträumen hadert, atonal um Fassung ringt und sich dann in einem wunderbaren Refrain wieder findet. Dieser emotionale, ergreifende Gesang wirkt ungeschönt und ehrlich. Es ist unmöglich, sich der Wirkung und Kraft des bislang radikalsten Album ihrer Karriere zu entziehen. Für die Jury: Götz Adler

Club und Dance

GAS

Narkopop. Kompakt CD 136 (Rough Trade)

Seit den frühen Neunzigern gilt der Kölner Musiker, DJ und Labelbetreiber Wolfgang Voigt als prägende Figur des Minimal Techno. Nach siebzehn Jahren Pause hat er nun sein fünftes Album veröffentlicht, als GAS, denn Voigt arbeitet gern mit Pseudonymen. Ein audio-visuelles Projekt: Die dunkle Ambient-Musik spiegelt sich bereits im waldigen Cover. Frühere Alben hießen »Königsforst« oder »Zauberberg«. Es ist eine elektronische Weitererzählung der deutschen Romantik, der Wald wird zur sinnstiftenden Inspiration. Wie Nebel wogen die an symphonische Streicher oder Bläser erinnernden Klangtexturen. Nur selten pocht weit entfernt eine Bassdrum, wie das kalte Herz eines schlafenden Riesen. Ein gespenstisches, zugleich grandioses Album. Und so deutsch wie die Musik von Wagner oder Kraftwerk. Für die Jury: Jürgen Ziemer

Blues

Kai Strauss

Getting Personal. Continental Blue Heaven CBHCD 2030 (H’Art)

Er hat den Bogen raus. Das belegt diese neue CD »Getting Personal« von Kai Strauss schlagend. Gewiss, auch er hat seine Vorbilder, lässt Einflüsse auf sich wirken. Wie er freilich auf dem Fundament der Tradition seine mittlerweile ganz und gar eigenständige Form von Blues aufbaut, das kann sich wahrlich hören lassen. Stilistisch schwingt dabei offensichtlich eine ganze Menge Soul mit. Lässt man sich aber ein auf diese gekonnt komponierten, spannend arrangierten und makellos gespielten Stücke, spürt man ganz deutlich auch all das Herzblut, das Strauss in dieses Projekt gesteckt hat. Mit den Vorgänger-Alben hat er seine Klasse bereits angedeutet, mit diesem sein Meisterstück abgeliefert. Für die Jury: Karl Leitner

R&B, Soul und Hip-Hop

Kendrick Lamar

Damn. Interscope (Universal)

Mit seinem vierten Album unterstreicht Kendrick Lamar, inzwischen dreißig, seinen Status als bester Rapper des laufenden Jahrzehnts. »Damn« greift musikalisch nicht ganz so weit aus wie der jazz- und soultiefe Vorgänger »To Pimp a Butterfly« von 2015. Aber von den Straßen seiner kalifornischen Heimat Compton, einem Stadtteil von Los Angeles, blickt Lamar nicht weniger cinemascopisch auf die vereinigten Staaten, um seinen Standpunkt zu positionieren. Vielschichtig produzierte HipHop-Beats öffnen sich noch in den abstraktesten Trap-Mustern eingängig zum Pop, die Raps wiederum zeigen einen ebenso atemraubend virtuosen wie tiefsinnigen Erzähler. Für die Jury: Markus Schneider

Wortkunst

Walter Benjamin: Deutsche Menschen

Eine Folge von Briefen. Christian Brückner. 3 CDs, Edition Parlando ISBN 978-3-941004-94-8 (Argon)

In der Frankfurter Zeitung im Jahr 1930/31 erstveröffentlicht und 1936 im Exil unter Pseudonym als Buch erschienen, stellt diese kommentierte Auswahl von Briefen Walter Benjamins aus den Jahren 1767 bis 1883, geschrieben von Geistesgrößen wie Büchner, Goethe oder Kant, aber auch von eher unbekannten Zeitgenossen, dem vom Nationalsozialismus beherrschten Deutschland persönliche Zeugnisse eines aufgeklärten Bürgertums entgegen. Christian Brückner, Ehrenpreis-Träger der deutschen Schallplattenkritik, gelingt es eindrucksvoll, den jeweiligen Tonlagen nachzuspüren und das oftmals Private mit dem Zeitgeschehen und dessen gesellschaftlichen Konventionen zu verbinden. Ein anregendes Hörerlebnis von Zeugnissen des Humanismus, zugleich eine Hommage an den Brief als schwindendes Medium der Verständigung. Für die Jury: Wolfgang Schiffer

Kinder- und Jugendaufnahmen

D!e GÄNG

Käptn Peng, Johnny Strange, Sissi Perlinger. Ben Pavlidis. Oetinger audio ISBN 13 426017378-8334

Es gibt sie also doch: Musik für den Nachwuchs, die nicht nur mit den gängigsten Harmonien aufwartet und trotzdem ein mitsingbares Vergnügen für Kinder (und deren Eltern!) darstellt, vielmehr lässig, lustig und frech mit Rhythmen, Tönen und Texten experimentiert. Erfinder dieser erfrischenden Mixtur im Reggae-Sound ist der Sänger der Berliner Band Ohrbooten, Ben Pavlidis, der dieses kleine akustische Wunder gemeinsam mit seiner Tochter Chaja zustande gebracht hat. Liebevolle Unterstützung erhielten die beiden von weiteren Ohrbooten-Künstlern, Matze und Spange, aber auch von prominenten Gästen wie Johnny Strange oder Sissi Perlinger. Echt coole Musik, zu Texten, denen man gerne mehrmals zuhört und am Ende Lust bekommt, selbst weiter zu fabulieren – wann passiert das schon?! Für die Jury: Carola Benninghoven

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