Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Sibelius: Symphonie Nr. 1 / En Saga

Jean Sibelius: Symphonie Nr. 1 e-moll op.39; En Saga op.9. Gothenburg Symphony Orchestra, Santtu-Matias Rouvali. Alpha 440 (Note 1)

Ein Stern ist aufgegangen – über Göteborg und seinem 1905 gegründeten Orchester. Seit 2017 arbeitet das schwedische Traditionsorchester mit dem heute dreiunddreißigjährigen Finnen Santtu-Matias Rouvali als Chefdirigent. Unglaublich, was in diesen knapp zwei Jahren entstanden ist! Die Aufnahme der ersten Symphonie von Jean Sibelius lässt es hören. Geheimnisvoll, mit einer einsamen Klarinette über einem ultraleisen Paukenwirbel hebt der Kopfsatz an – doch dann bricht eruptive Energie durch. Straff der Klang, pointiert die Rhythmen, mit letzter Sorgfalt ausgeführt die Akzentsetzungen. Das Orchester bringt ein körperhaftes, strahlendes Forte ein und glänzt zugleich mit einer sagenhaften Farbenpalette: Sibelius, in prickelnder Frische. Für die Jury: Peter Hagmann

Orchestermusik und Konzerte

Hector Berlioz: Harold en Italie; Les Nuits d’été

Tabea Zimmermann, Stéphane Degout, Les Siècles, François-Xavier Roth. harmonia mundi HMM 902634

Anlässlich des 150.Todestages von Hector Berlioz präsentiert das französische Label dessen »Symphonie en quatre parties avec un alto principal« aus dem Jahr 1834 in Originalklang-Farbpracht: Tabea Zimmermanns singender Bratschenton tritt in den Dialog mit Les Siècles. François-Xavier Roth hält sein Ensemble an zu lichter Präzision und beredter Transparenz: In ihren feinen Linien, den zarten Schraffuren gewinnt seine Interpretation von »Harold en Italie« die Anmut einer Zeichnung. Zugleich versteht er sich, das zeigt vor allem das Finale des von Byron inspirierten Werkes, auf weit ausgreifende, vorwärtsdrängende Bögen. In »Les Nuits d’été« beweist Stéphane Degout, dass dieser feine Liederzyklus auch mit Bariton-Couleur funktioniert. Für die Jury: Wiebke Roloff

Kammermusik

Quatuor Modigliani: Portraits

Werke von Leroy Anderson, Samuel Barber, Alexander Borodin, Roman Hoffstetter, Erich Wolfgang Korngold, Fritz Kreisler, Felix Mendelssohn Bartholdy, Wolfgang Amadeus Mozart, Giacomo Puccini, Sergej Rachmaninow, Dimitri Schostakowitsch, Franz Schubert, Anton Webern. Mirare MIR 414 (harmonia mundi)

Zugaben gibt es gratis. Keine großen Geschenke, meist Kleinigkeiten, denen man besser nicht genauer »ins Maul schaut«. Ganz anders verhält es sich mit dieser höchst aparten Zugaben-Sammlung des Quatuor Modigliani. Es ist erst das zweite Album der Truppe mit ihrem neuen Primarius Amaury Coeytaux, schon wird reiche Ernte eingefahren: Dreizehn Kostbarkeiten stecken in dieser Wundertüte. Nichts passt zusammen! Doch jedes einzelne der Werke erscheint in einem neuem Licht und in jedem feiert diese brillante Formation zugleich sich selbst, in atemraubender Stilsicherheit. Beiläufig werden Irrtümer ausgeräumt, von frühem Webern geht es zu spät entdecktem Hofstetter, und auch der Titel des Albums spielt über die Bande: »Portraits« verneigt sich vor der spezifischen Transparenz und Schönheit der Bilder des großen Namenspaten Amedeo Modigliani. Für die Jury: Eleonore Büning

Tasteninstrumente

Joseph Haydn: Klaviersonaten

Joseph Haydn: Klaviersonaten c-moll Hob. XVI:20 & C-Dur Hob. XVI:48; Partita Hob. XVI:6; Variationen über »Gott erhalte Franz, den Kaiser« Hob. I:430; Variationen (Sonata, Un piccolo divertimento) f-moll Hob. XVII:6. Kristian Bezuidenhout. harmonia mundi HMM 902273

Auch für sein erstes Haydn-Album verwendet Kristian Bezuidenhout, der diskrete Revolutionär, eine fantastisch klingende Kopie des Wiener Walter-Fortepianos aus dem Jahr 1805. Er nutzt die erstaunliche Farbenpracht dieses Instruments, um mit geschickter Agogik und fließenden Tempi die innere Vielstimmigkeit, den subtilen Humor, und vor allem den improvisatorischen Gestus von Haydns subtiler, mit feinen Überraschungen gespickter Kompositionstechnik aufleuchten zu lassen. Die Klavierversion der »Kaiser-Hymne-Variationen« ist eine echte Entdeckung, die frühe c-moll-Sonate ein Manifest antiker Schlichtheit und Erhabenheit mit unvermuteten Einbrüchen der Realität: als könne man Haydn beim Komponieren beobachten. Für die Jury: Attila Csampai

Tasteninstrumente

Le Clavecin mythologique

Cembalowerke von Jean-Henri d’Anglebert, François Couperin, Jean-Philippe Rameau, Jean-Baptiste-Antoine Forqueray, Pancrace Royer und Jacques Duphly. Anne Marie Dragosits. Encelade ECL 1801 (Klassik Center)

Die Charakterisierungskunst der Clavecinisten, angesiedelt zwischen Theatralik und innigem Zwiegespräch, bediente sich gern bei den Sujets der klassischen Antike. Anne Marie Dragosits spannt mit solcherart Programmstücken einen Bogen vom Stammvater d’Anglebert bis zu Jacques Duphly, einem der letzten Vertreter des Genres. Ihre Auswahl aus dem gewaltigen Repertoire überzeugt nicht nur dramaturgisch, sie spricht auch den Hörer unmittelbar an. Jede Wendung hat Dragosits auf ihren erzählenden Gehalt hin ausgelotet, nie wird ihr Spiel schematisch. Das kostbare Taskin-Cembalo aus dem Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, auf dem sie musiziert, entwickelt in dieser intimen, transparent-warmen Aufnahme dank Jürgen Brunner überwältigende Farbtiefe. Für die Jury: Friedrich Sprondel

Oper

Georg Friedrich Händel: Acis and Galatea, HWV 49a

Jeremy Budd, Grace Davidson, Stuart Young, Mark Dobell, Simon Berridge, The Sixteen, Harry Christophers. 2 CDs, Coro COR16169 (Note 1)

Ein musikalisches Kleinod! In vorzüglicher Aufnahmequalität haben der renommierte Alte-Musik-Praktiker Harry Christophers und sein Ensemble The Sixteen Händels »Acis and Galatea« eingespielt, und zwar in der englischsprachigen Neufassung der ursprünglich 1708 für ein Hochzeitsfest in Neapel komponierten Serenade. Mit fünf Sängern, die zugleich als Solisten und als Chor agieren, sowie neun Musikern – diese Besetzung kommt der britischen Erstaufführung von 1718 denkbar nahe – wird eine kammermusikalische Transparenz erreicht, die Charme und Frische der Musik aufs Schönste zur Geltung bringt. Die Produktion glänzt durch Leichtigkeit, Akkuratesse und Natürlichkeit des Gesanges, sie lässt Ovids Geschichte vom mythologischen Liebespaar und dem eifersüchtigen Riesen Polyphem in hellen Farben leuchten. Für die Jury: Max Nyffeler

Operette

Emmerich Kálmán: Die Faschingsfee

Camille Schnoor, Daniel Prohaska, Nadine Zeintl, Simon Schnorr, Maximilian Mayer, Erwin Windegger, Chor und Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz, Michael Brandstätter. cpo 555 147-2 (jpc)

Operette in Wien, Paris, Budapest oder Berlin: Ja! Doch nach seiner »Csárdásfürstin« drehte Kálmán das Erfolgsrezept einfach standesverkehrt um und verlegte die Sache in den Münchner Fasching von 1917: Auf dem Weg zu ihrer Verlobung trifft Fürstin Alexandra den mittellosen Maler Viktor Ronai, eine Liebe auf den ersten Blick, die am Ende siegt. Joseph E. Köpplinger, Intendant und Regisseur des Staatstheaters am Gärtnerplatz, hat die Dialoge der »Faschingsfee« überzeugend entstaubt. Dirigent Michael Brandstätter und ein typengerecht klingendes Ensemble treffen im Mitschnitt den pulsierenden Lebenshunger. Ein Schatten-Werk, wiederbelebt. Für die Jury: Wolf-Dieter Peter

Chor und Vokalensemble

Cardoso: Requiem

Manuel Cardoso: Lamentationes für Gründonnerstag; Missa pro defunctis a 4; Magnificat secundi tona a 4. Cupertinos, Luís Toscano. Hyperion CDA68252 (Note 1)

Seit zehn Jahren widmen sich die zehn Sänger und Sängerinnen des portugiesischen Ensembles Cupertinos nun schon dem reichen Erbe ihres Landes, vor allem unveröffentlichter Vokalpolyphonie des 16. und 17. Jahrhunderts. Den Werken des Lissaboner Kapellmeisters Manuel Cardoso nähern sich die Sänger mit glänzender Intonation und inspirierender Frische, sowie einer im Sopran fast knabenhaft rein wirkenden Vibrato-Reduktion. In polyphonen Passagen wachsen einzelne Linien sanft aus dem Ensemble heraus und fließen in dieses wieder hinein; homophone Stellen geraten traumwandlerisch sicher. Die große Liebe der Interpreten zum Sujet überträgt sich auf die Hörer. Für die Jury: Susanne Benda

Klassisches Lied und Vokalrecital

Offenbach Colorature

Arien aus Werken von Jacques Offenbach. Jodie Devos, Adèle Charvet, Münchner Rundfunkorchester, Laurent Campellone. Alpha 437 (Note 1)

Offenbach muss ihr in die Wiege gelegt worden sein. Wie sonst sollte man erklären, dass die belgische Sopranistin Jodie Devos die gesamte lebenspralle und raffiniert gemischte Ausdruckspalette dieses vom Rhein an die Seine übergesiedelten Migranten draufhat? Mit eleganter Verve und stupender Virtuosität, frechem Witz und feiner Ironie, zugleich völlig frei von Manierismen vermittelt sie den bissigen Hintersinn koloraturglitzernder Bravourstücke wie »Les plus beaux airs sont toujours fades« (aus »Vert-Vert«) ebenso wie die in zwitschernder Akrobatik versteckte Tragik der Olympia aus den »Contes d’Hoffmann«. Es sind zumeist weniger bekannte Nummern, die hier zur Feier des zweihundertsten Geburtstag Jacques Offenbachs präsentiert werden. Laurent Campellone und das Münchner Rundfunkorchester begleiten exzellent. Brillant! Ein Feuerwerk! Für die Jury: Albrecht Thiemann

Alte Musik

François Couperin: Les Nations (1726)

Les Talens Lyriques, Christophe Rousset. 2 CDs, Aparté AP197 (harmonia mundi)

Die Sammlung instrumentaler Kammermusiken, die unter dem Titel »Les Nations. Sonades et Suites de Simphonies en Trio« 1726 von François Couperin veröffentlicht wurde, besteht aus vier »ordres«. Sie präsentieren jeweils eine Sonate im italienischen Stil und anschließend eine französische Tanzsuite, und heißen: »La Françoise«, »L’Espagnole«, »L’Impériale« und »La Piémontoise«. Der Titel bezieht sich also auf vier politische Mächte – Frankreich, Spanien, das Heilige Römische Reich und Piemont. Allerdings sind die sechsunddreißig Sätze fernab jeglicher lexikalischer Sättigung, sie befeuern vielmehr die Neugier. Was an Couperins fantasievoller Kombination des französischen und italienischen Stils liegt, aber auch an der enorm farbigen, engagierten Umsetzung durch die zehn Musiker von »Les Talens Lyriques«: Eine durchaus auch ernste Gute-Laune-Musik. Für die Jury: Thomas Ahnert

Zeitgenössische Musik

Emmanuel Nunes: Minnesang | Musivus

Emmanuel Nunes: Minnesang für 12 Stimmen a cappella; Musivus für Orchester in vier Gruppen. SWR Vokalensemble, WDR Sinfonieorchester, Emilio Pomàrico. Wergo WER 73782 (Naxos)

Wie ein Hohelied auf die Liebe stellt sich der »Minnesang« dar, den Emmanuel Nunes in den Jahren 1975 und 1976 auf Texte von Jakob Böhme komponiert hat, a cappella, für zwölf Stimmen. Sie teilen sich in sechs Paare, die jeweils aus einer Frauen- und einer Männerstimme bestehen, wobei Sänger und Sängerin jeweils möglichst weit voneinander entfernt im Raum platziert sind. Auch bei »Musivus«, komponiert 1998, werden die Instrumente der vier Orchestergruppen auf vier Bühnenebenen verteilt, was eine starke Verräumlichung des Klanges zur Folge hat, von Pomàrico mit seinen Ensembles fesselnd dargeboten. Intelligente, lebendige Musik in bestmöglicher Interpretation! Für die Jury: Marita Emigholz

Historische Aufnahmen

Wilhelm Furtwängler, Berliner Philharmoniker: The Radio Recordings 1939-1945

22 CD/SACD & 1 Buch, Berliner Philharmoniker Recordings BPHR 180181

Die Einführung des Magnetophonbandes bedeutete eine neue Ära der Tonaufzeichnung. Allein die Möglichkeit, längere Werke ohne Unterbrechungen aufzuzeichnen, bewog den zuvor skeptischen Wilhelm Furtwängler zu einer Zusage für die Konservierung der Konzerte, die er 1939 bis 1945 mit seinen »Berlinern« in der zuletzt zerstörten Philharmonie aufgeführt hatte. Diese Mitschnitte waren lange Jahre russische Kriegsbeute. Sie kehrten erst im Rahmen von politischem Tauwetter nach Deutschland zurück. Jetzt liegen sie vor in einer neuen, klangtechnisch optimierten CD-Edition, würdige Erinnerung an einen der großen deutschen Dirigenten. Für die Jury: Christoph Zimmermann

Grenzgänge

Grand Ensemble Koa: Beat

Neuklang NCD 4195 (in-akustik)

Aus einem Jazzhaus-Kollektiv in Montpellier unter Leitung des Bassisten und Komponisten Alfred Vilayleck erwuchs die neunköpfige »Koa« – zusammengesetzt aus Sopran-, Tenor- und Altsaxophon, Trombone, Keyboards, Vibraphon und Schlagzeug. Vom brutalen Surrealistenkönig Ubu war die erste, vom hinduistischen Gebot der Gewaltlosigkeit die zweite CD inspiriert. Das neueste Album widmet sich, nostalgiefrei intoniert von Caroline Sentis, Texten von Allen Ginsberg, Jack Kerouac und William S. Burroughs. Ein Glöckchensignal gibt den swingenden Auftakt, auf der E-Gitarre zupft Serge Lazarevitch Retro-Akzente, bevor die Lawine aus Neuer Musik, Modern Jazz und Hardrock-Improvisationen losbricht, so rasant und abwechslungsreich wie ein Roadmovie, von dem man heimlich wünscht, er möge niemals enden! Für die Jury: Nikolaus Gatter

Filmmusik

Roma – Motion Picture Soundtrack

Leo Dan, Rocío Dúrcal, Juan Gabriel, José José, Rigo Tovar, Javier Solís, Christie, Yvonne Elliman, Orquesta Pérez Prado, Trío Chicontepec, Roger Whittaker, Ray Conniff & The Singers, Javier Bátiz, La Revolución de Emiliano Zapata, Los Socios Del Ritmo, Lupita D’Alessio, Angélica Mariá, Acapulco Tropical, Elbert Moguel y Los Strwck. Columbia 190759259320 (Sony)

Filmmusik, die mehr als Leinwandmöblierung sein soll, ist selten geworden. Bei »Roma« hatte Regisseur Alfonso Cuarón alles richtig gemacht: Er hat sich gegen Film-Musik entschieden und für eine Musik, die seine Geschichte miterzählt und ihre Wirkung verstärkt. Wer wusste vorher schon, wie sich das Leben in Mexico City um 1970 anfühlte? Doch wer den Film sieht und mitkriegt, wie es sich anfühlte, wenn man damals dort das Radio anmachte und diese Hits hörte, die jeder kannte, jeder mitsummen konnte, der versteht zugleich, warum liebenswürdige und starke Menschen diese Musik als Teil ihres Alltags empfanden und brauchten. Für die Jury: Joachim Mischke

Musikfilm

Mstislav Rostropovich – L’Archet indomptable (The indomitable bow)

Ein Film von Bruno Monsaingeon. Werke von Peter Tschaikowsky, Ludwig van Beethoven, Johann Sebastian Bach; Gespräche mit Olga & Elena Rostropowitch, Natalia & Ignat Solshenizyn. Mstislaw Rostropowitsch, Yehudi Menuhin, Wilhelm Kempff. Blu-ray Naxos NBD0082V / DVD Naxos 2.110583

Am Anfang war der Koffer. Mstislaw Rostropowitsch übergab ihn wenige Jahre vor seinem Tod dem Musikregisseur Bruno Monsaingeon. Sein Inhalt: diverses Filmmaterial, ungeordnet, oft kaum brauchbar, bezogen auf die Vita und Karriere dieses großen Musikers. Monsaingeon fügte das Material zu einem gelungenen Porträt des formidablen Cellisten, Pianisten, Dirigenten und Pädagogen, der, früh berühmt in der russischen Heimat, politisch geächtet wurde durch seinen Einsatz für Solschenizyn und nach dem Fall der Mauer wieder rehabilitiert wurde. Der Film integriert die Erinnerungen der beiden Töchter des Künstlers sowie Kommentare von Witwe und Sohn Solschenizyn. Im Bonusteil spielt Rostropowitsch Bach, Beethoven und Tschaikowsky. Für die Jury: Lothar Prox

Jazz

Petrucciani: One Night in Karlsruhe

Michel Petrucciani, Gary Peacock, Roy Haynes: One Night in Karlsruhe. SWR Jazzhaus JAH-476 (Naxos)

Als er vor zwanzig Jahren in einem New Yorker Krankenhaus starb, hatte Michel Petrucciani, sechsunddreißigjährig, eine Popularität weit über Jazzhörerkreise hinaus erreicht. Im Bewusstsein, dass ihm nur kurze Zeit auf Erden vergönnt war, musizierte der an der seltenen Glasknochenkrankheit leidende Pianist mit besonderer Intensität, wobei spielerische Leichtigkeit stets die Oberhand behielt. Eine Traumbesetzung, bislang nur auf einem Album dokumentiert, kam 1988 zu diesem Karlsruher Auftritt zusammen, bei dem sich Petrucciani in traumwandlerischer Sicherheit mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Drummer Roy Haynes in je fünf Eigenkompositionen und Standards die buntesten musikalischen Bälle zuwarf, mit atemraubender Virtuosität, sprühendem Einfallsreichtum, feinnerviger Lyrik, berührender Gefühlswärme und überschäumender Spielfreude. Für die Jury: Marcus A. Woelfle

Jazz

Joachim Kühn: Melodic Ornette Coleman

Piano Works XIII. ACT 9763-2 (edel)

Mit diesem Soloalbum verbeugt sich Joachim Kühn vor dem großen Jazzinnovator Ornette Coleman, der ihn Zeit seines Lebens inspiriert hatte und mit dem er schließlich auch einige Jahre eng zusammenarbeiten durfte. Von den 170 Stücken, die Coleman speziell für die gemeinsamen Konzerte schuf, traf der Pianist eine Auswahl, die den lyrischen Charakter und die melodische Schönheit von Colemans Musik aufleuchten lässt. Die Widmung an das Idol gerät Joachim Kühn zugleich zu einem Selbstporträt, das Meisterschaft offenbart, in der thematischen Durchdringung, aber vor allem eine tiefe Hingabe an die Musik. Für die Jury: Bert Noglik

Weltmusik

Lulo Reinhardt: Gypsy Meets India

DMG 54.218203.2 (Broken Silence)

Dieses Album ist die Fortsetzung eines Konzept-Klassikers der Weltmusik. Wie viel Offenheit würde nun der deutsche Sinti-Gitarrist Lulo Reinhardt seinen indischen Gästen aus Kolkata abverlangen – dem etablierten Tabla-Virtuosen Subhasis Bhattacharya, seinem international renommierten Bruder Debashish (slide-git) und dessen als Sängerin ebenfalls hochgeschätzter Tochter Anandi? Man hört, dass Reinhardt seine Kompositionen ganz ohne Dominanzgebaren durchbringt. Hindustani-Elemente sind eingestreut, etwa Alaap oder Raga, aber auch ein paar Flamenco-Bausteine. Es kommt zu echter Begegnung. Für die Jury: Johannes Theurer

Traditionelle Ethnische Musik

Vardan Hovanissian & Emre Gültekin: Karin

MuziekPublique MZP010 (Galileo)

»Karin« war der alte Name von Erzurum in Anatolien – bis zum Ende des Osmanischen Reiches galt diese Stadt als ein ethnischer »melting pot«. Die beiden Interpreten – Armenier der eine, Türke der andere – wählten diesen Titel ihrer zweiten CD mit Bedacht, sie wollten gerade die Gemeinsamkeiten der musikalischen Traditionen Anatoliens aufzeigen. Und das ist ihnen rundum gelungen. Ein stimmungsvolles, leises Album haben sie erschaffen, voller Poesie, mit armenischen, kurdischen, türkischen, georgischen Liedern, abwechslungsreich und farbig instrumentiert, perfekt aufgenommen. Für die Jury: Tom Daun

Liedermacher

AnnenMayKantereit: Schlagschatten

Vertigo 7705069 (Universal)

Es war einmal, da wollten Liederleute wie Orpheus singen. Inzwischen wissen schöpferisch pluraler orientierte Interpreten von Dota bis Stoppok das angesagte Liedgenre zu bereichern. Aktuell werden Mey- oder Wader-Folgegenerationen durch Bands wie AnnenMayKantereit repräsentiert, dabei bleiben Mainstream und Plattitüden in Wort und Musik konsequent außen vor. So weiß das AMK-Studioalbum Nr. 2, Schlagschatten, etwa von zeitgenössischen Symptomen wie »Aber ich glaub aufm Weg nach oben liegen überall Drogen«. Oder es finden sich Folk-, Calypso-, Pop-Zutaten in der handgemachten Melange des Kölner Quartetts. All dies wird intensiv-sensibel kombiniert. Die jüngste AMK-Platte, sicher, ist durchaus nahe dran an kontemporärem orphischen Gesang. Für die Jury: Jochen Arlt

Folk und Singer/Songwriter

Katie Doherty and The Navigators: And Then

Steeplejack 019023 (in-akustik)

Katie Doherty aus Nordengland ist keine Newcomerin. Vor etwa zehn Jahren verschickte sie als Singer/Songwriterin erste vielversprechende Signale, arbeitete dann in der Folgezeit musikalisch für das Theater. Nun ist sie zurück und überzeugt. Ganz gleich, ob sie private, beobachtende oder sozialkritische Themen anspricht, sie macht das mit packenden Songs und vor allem mit einem kraftvollen, emotionsgeladenen Gesang. Und die zwei Navigators lassen bei dem skandinavisch-balkanorientierten Instrumental »Polska« so richtig Dampf ab, während Doherty im Hintergrund intensiv jubiliert. Ehrliche, gefühlvolle Musik. Für die Jury: Mike Kamp

Rock

J.S. Ondara: Tales of America

Verve 6792709 (Universal)

Mit siebzehn verliert J. S. Ondara in Nairobi, Kenya, eine Wette, dass »Knocking On Heaven’s Door« ein Song von Guns N’Roses sei – und entdeckt so Bob Dylan. Deshalb will er Singer/Songwriter werden. Drei Jahre später, im Februar 2013, kommt er in Minneapolis, Minnesota, an; das Visum hat er in einer Green-Card-Lotterie gewonnen. Nach weiteren sechs Jahren erscheint sein sensationelles Debütalbum. Man hört Referenzen an Dylan und Tracey Chapman, Neil Young und Ray Lamontagne. Vor allem aber hört man einen sechsundzwanzigjährigen Folk- und Blues-Troubadour mit Tenor- und Falsettstimme, der in elf spärlich, aber wirkungsvoll arrangierten Songs bereits selbstbewusst seinen eigenen Weg geht. Für die Jury: Manfred Gillig-Degrave

Hard und Heavy

Candlemass: The Door To Doom

CD/LP/DL, Napalm NPR813DP (Universal)

Eigentlich hatten sich Candlemass 2012 mit dem eher schwachen »Psalms for the Dead« aus dem Studiogeschäft schon verabschiedet. Jetzt haben sich die schwedischen Epic-Doom-Götter mit »The Door To Doom« eindrucksvoll auf dem Schneckenrockolymp zurückgemeldet. Klar, der zähflüssige Nektar und das quabbelige Ambrosia sind heute nicht mehr ganz so üppig, wie auf den Klassikeralben der späten Achtziger, aber dennoch eine Labsal für die nach schwerer Kost hungernde Anhängerschaft. Die hephaistisch donnernden Düster-Riffs von Mastermind Leif Edling werden dräuend umkränzt von den dramatischen Gesangsmelodien des nach einigen Jahrzehnten aus der Versenkung des Hades zurückgekehrten Ur-Sänger Johan Länquist. Ein Comeback nach Mass, Verzeihung, Maß! Für die Jury: Felix Mescoli

Electronic und Experimental

Little Simz: Grey Area

CD/LP/DL, Age 101 AGE101001 (Rough Trade)

Unter dem Namen Little Simz macht die Londoner Künstlerin Simbiatu Ajikawo HipHop. Sie selbst bezeichnet ihn als »Rap Experimental«. Selbstbewusst vergleicht sie sich in »Offense«, dem ersten Stück des Albums, mit großen Künstlern (auch) jenseits der Musik: mit Picasso, Jay-Z und Shakespeare. Ähnlich eigenständig wie die Werke dieser Kollegen sei ihre Musik: kraftvoll, modern und wütend. Vor Produktion des Albums war Little Simz lange auf Tournee, von Freunden und Familie getrennt. In dieser Zeit war sie zwar glücklich und erfüllt vom Musik-Machen, aber auch einsam. »Grey Area«, der Titel des Albums, soll das Gefühl zwischen Euphorie und Traurigkeit reflektieren. Für die Jury: Ruben Jonas Schnell

Blues

John Mayall: Nobody Told Me

Featuring Joe Bonamassa, Larry McCray, Todd Rundgren, Alex Lifeson, Steven Van Zandt, Carolyn Wonderland. Forty Below FBR 022 (H’Art)

John Mayall, Vater des britischen Blues, feierte im letzten Jahr seinen 85. Geburtstag. Hört man sich dieses Album an, kann man es fast nicht glauben: Da zeigt der Altmeister all denen, die sich auf ihn berufen, noch einmal mit Bravour, wie moderner Blues zu klingen hat! Statt kürzer zu treten, bat er sechs namhafte Gitarristen zu sich ins Studio und nahm mit ihnen ein Album auf, das vor Frische, Tatendrang und Lebensfreude nur so übersprudelt. Im Laufe seiner Karriere hat Mayall immer wieder mal für Meilensteine des Blues gesorgt. Dieses Album ist ein weiterer. Für die Jury: Karl Leitner

R&B, Soul und Hip-Hop

Solange: When I Get Home

DL, Columbia 0886447578018 (Sony)

Vor allem überrascht der Wagemut dieses Albums. Solange hätte einfach an den geschlossenen, persönlichen und geschichtsbewussten Autorensoul des Vorgängers »A Seat at the Table« anschließen können, mit dem sie sich aus dem Schatten der älteren Schwester Beyoncé befreit hatte. »When I get Home« wirkt zunächst flüchtig und skizzenhaft. Bald jedoch erschließen sich diese Offenheit der Beats und die Melodien als assoziative Reise durch Houston, verträumt und zärtlich, erinnernd und tastend – bis wir jenseits der Hommagen an den musikalischen wie auch den Lebensstil ihrer Heimat noch den weiteren Horizont des schwarzen US-Südens flimmern sehen. Für die Jury: Markus Schneider

Wortkunst

Maxim Leo: Wo wir zu Hause sind

Die Geschichte meiner verschwundenen Familie. Ulrich Noethen, Regie: Margrit Osterworld. 6 CDs, Argon 978-3-8398-1702-5

Früher hatte Maxim Leo »Leute mit großen Familien beneidet«. Nach seinen Reisen und Recherchen, der Grundlage dieses gewissermaßen historischen Romans über die Geschichte der jüdischen Familie Leo, dürfte er seinen kindlichen Neid abgelegt haben. Legendär war die Zeit in einer Villa in Rheinsberg, zwischen Waldmeisterlimonade und Hausmusik, besucht von berühmten Zeitgenossen. Beheimatet in Berlin, flüchtete die Familie nach Wien, London und Haifa, heute hat sie wieder eine enge Beziehung zur deutschen Hauptstadt. Eine außergewöhnliche Schilderung jüdischer Lebensläufe, mit drei starken Frauen im Mittelpunkt, ein Buch mit zarten und erschütternden Szenen. Und Ulrich Noethen ist einmal mehr der ideale Interpret. Für die Jury: Friedel Bott

Kinder- und Jugendaufnahmen

Jochen Till: Luzifer Junior (Teil 5) – Ein höllischer Tausch

Christoph Maria Herbst. 2 CDs, Der Audio Verlag 978-3-7424-0955-3

Nachdem Luzie und Lilly erfahren haben, dass sie Geschwister sind, geht die übliche Streiterei los. Bei einem Zank um das Dämonen-Handbuch passiert es: die beiden tauschen ihre Körper. Das führt natürlich zu allerhand Verwicklungen, und früher oder später zu der drängenden Frage, wie dieser Tausch rückgängig zu machen sei. Christoph Maria Herbst erweckt als Vorleser auf großartige Weise die einzelnen Figuren zum Leben und verleiht jeder einen ganz eigenen Charakter. Er macht das mit soviel hörbarem Vergnügen, dass er Groß und Klein in seinen Bann zieht. Für die Jury: Margit Hähner

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