Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

NEU: Longlist 2/2024, veröffentlicht am 5. April 2024

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Herbert Blomstedt: Mahler IX

Gustav Mahler: Symphonie Nr. 9. Bamberger Symphoniker, Herbert Blomstedt. 2 CDs, Accentus Music ACC30477 (Naxos)

Von Mahlers neunter Symphonie sind mehr als fünfzig Aufnahmen im Katalog zu finden, da fragt es sich bei jeder neuen Einspielung: Braucht man die? Im Fall von Herbert Blomstedt und den Bamberger Symphonikern heißt die Antwort eindeutig: »Ja«. Nicht, weil der Dirigent, inzwischen zweiundneunzig, seit einiger Zeit zur Lichtgestalt des Musiklebens stilisiert wird; sondern, weil diese Aufnahme musikalisch absolut überzeugt. Blomstedt lässt das Orchester leuchten und singen, ganz ohne Pathos und Sentimentalität. Schlichtheit, Innigkeit und höchste Intensität charakterisieren sein Musizieren: ob Ländler oder Burleske, alles wird differenziert ausgeleuchtet, das riesenhafte Adagio-Finale gerät zum erschütternden Abgesang, in großartiger Klangkultur. Für die Jury: Peter Stieber

Orchestermusik und Konzerte

Walter Braunfels Vol. 4

Walter Braunfels: Hebridentänze für Klavier und Orchester op. 70; Sinfonia Concertante op. 68; Orchester-Suite op. 48 (Braunfels Edition Volume 4). Piers Lane, Ernst Kovacic, Thomas Selditz, BBC Concert Orchestra, Johannes Wildner. SACD, Dutton Epoch CDLX 7355 (harmonia mundi)

Im Zuge der hoch verdienten, längst überfälligen Wiederentdeckung der Musik von Walter Braunfels, die sich seit etlichen Jahren beobachten lässt, ist diese Aufnahme wieder ein kleiner Meilenstein: Mit ihrer zupackenden, präzisen und ausdrucksstarken Interpretation der beiden Spätwerke – der Sinfonia Concertante von 1948 und der Hebridentänze von 1951 – widmen sich Johannes Wildner und das BBC Concert Orchestra einer Musik, die jenseits der Avantgarde ihrer Zeit ihre ganz eigene Sprache gefunden hat. Herausragend auch die Solisten: Piers Lane am Klavier, der Geiger Ernst Kovacic und Ernst Selditz, Viola. Für die Jury: Michael Stegemann

Kammermusik

Poland abroad

Ignatz Waghalter: Streichquartett D-Dur; Ignace Strasfogel: Streichquartett Nr. 1; Karol Rathaus: Streichquartett Nr.5 op.72. Polish String Quartet Berlin. eda records EDA 043 (Naxos)

Diese drei jüdischen Komponisten aus Polen, die Deutschland Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts als ihre künstlerisch-geistige Heimat ansahen, wurden durch die Nationalsozialisten ins Exil getrieben: Ignatz Waghalter, Ignace Strasfogel und Karol Rathaus. Sie überlebten zwar den Holocaust, konnten aber ihren Weg nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen fortsetzen. Während Waghalter dem tonalen, spätromantisch-impressionistischen Idiom verbunden ist – jedoch sehr eigen und fantasievoll –, stehen Strasfogel und Rathaus der zweiten Wiener Schule nahe. Spürbar die Passion des Polish String Quartet Berlin für die exzellent komponierten, mehr als lohnenden Werke der drei. Das Ensemble fasziniert mit einem bestechend homogenen Klang und struktureller Klarheit. Eine Entdeckung! Für die Jury: Elisabeth Richter

Tasteninstrumente

Joseph Haydn: Die sieben letzten Worte unseres Erlösers

Joseph Haydn: Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz Hob. XX:1C; Andante con variazioni f-moll Hob. XVII:6. Nicolas Stavy. SACD, BIS Records BIS-2429 (Klassik Center)

Haydn komponierte die Sieben letzten Worten im Auftrag eines spanischen Geistlichen, das Werk wurde in der Karwoche 1787 in Wien und Cadiz uraufgeführt. Wer die wunderbare Intensität und Legato-Kultur der Quartettfassung kennt, wird erstaunt sein, welche spirituelle Kraft und Tiefe Nicolas Stavy auch der asketisch anmutenden Klavierversion abgewinnt. Mit schlichtem, ernstem Ton und glasklarem Anschlag entlockt er dem großen Steinway eine Vielfalt von Charakteren und Stimmungen, die Haydn in sieben langsamen Sätzen erschafft. Es ist dies eines der schönsten, ergreifendsten Manifeste der in seiner Musik gebündelten humanen Kräfte, die hier in geradezu essenzieller Dichte auf den Hörer einwirken. Als Zugabe gibt es die späten, nicht minder tiefschürfenden f-moll-Variationen. Für die Jury: Attila Csampai

Tasteninstrumente

Suzuki - Johann Sebastian Bach: Orgelwerke Vol. 3

BWV 531, 537, 546, 566a, 582, 709, 711, 715, 717, 726, 770 (Silbermannorgel Freiberg). Masaaki Suzuki. SACD, BIS Records BIS-2421 (Klassik Center)

Masaaki Suzuki nutzt die Farben der Freiberger Domorgel, einschließlich der herrlichen Zungenregister, frei von Dogmen und mit einer beglückenden Fantasie. Sein Bach-Album in C bringt gewichtige Werke, u.a. Fantasie und Fuge BWV 537, die Präludien und Fugen BWV 531 und 546, die Passacaglia BWV 582 und die Toccata BWV 566. Sie entwickeln in der ungleichstufigen Stimmung ein Strahlen, das zusammen mit Suzukis noblem Schwung und virtuosem Biss dazu beiträgt, die äußerst gelungene Aufnahme dieses Albums an die Spitze des weiten Feldes »Bach auf Silbermann-Orgeln« zu rücken. Für die Jury: Friedrich Sprondel

Oper

Antonio Salieri: Tarare

Cyrille Dubois, Karine Deshayes, Jean-Sébastien Bou, Judith van Wanroij, Enguerrand de Hys, Tassis Christoyannis, Jérôme Boutillier, Philippe-Nicolas Martin, Marine Lafdal-Franc, Danaé Monnié, Les Chantres du Centre de musique baroque de Versailles, Les Talens Lyriques, Christophe Rousset. 3 CDs, Aparté AP208 (harmonia mundi)

Zwei Jahre vor der Revolution und kurz vor seiner Rückkehr nach Wien war es Antonio Salieri gelungen, von Beaumarchais direkt ein Libretto zu erhalten. Durch ausufernde Rezitative, in denen der berühmte Mann sein Recht einfordert, bildet »Tarare«, ein monströs aufwendiges Werk, einen paradoxen Vorschein zur Parlando-Oper. Mit französischen Szene-Stars wie Cyrille Dubois, Karine Deshayes und Jean-Sébastian Bou holte Barock-Meister Christophe Rousset die revolutionssinnige Serail-Handlung auf das Opernparkett zurück. Nach »Les Danaïdes« und »Les Horaces« hat er mit »Tarare« eine Edition jener drei Opern komplettiert, die Antonio Salieri für Paris schrieb. Eine Großtat ist zu bewundern! Begrüßen könnte man sie mit einem beherzt ausgerufenen, von Beaumarchais als Alternativtitel erwogenen: Trara! Für die Jury: Kai Luehrs-Kaiser

Oper

Erich Wolfgang Korngold: Das Wunder der Heliane

Sara Jakubiak, Brian Jagde, Josef Wagner, Okka von der Damerau, Derek Welton, Burkhard Ulrich, Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin, Marc Albrecht; Regie: Christof Loy. Blu-ray Naxos NBD0083V / 2 DVDs Naxos 2110584-85

Szenisch sind Charisma, Tod, Wiederbelebung und Entmachtung in unseren nüchtern-realistischen Tagen gewiss ein Wagnis – doch Regisseur Christoph Loy vertraut nach wie vor der Kraft der Utopie im Hier und Heute. Er setzt damit zugleich auch auf das Überwältigungspotential der Korngoldschen Musik. Völlig zu Recht! Wunderbar entfaltet Dirigent Marc Albrecht die opulente Strahlkraft dieser unterschätzten Partitur. Für die komplexe Rolle der Heliane ist Sara Jakubiak, innerhalb eines erstklassigen Ensembles, geradezu eine Traumbesetzung. Eine lohnende Abrundung unseres bisherigen Korngold-Bildes. Für die Jury: Wolf-Dieter Peter

Chor und Vokalensemble

EXAUDI Vocal Ensemble - Gesualdo: Madrigali

Carlo Gesualdo: Madrigali a cinque voci (aus den Büchern V & VI). Exaudi Vocal Ensemble, James Weeks. Winter & Winter 910 259-2 (Edel)

Wer Madrigale von Carlo Gesualdo hört, dem wird seltsam zumute. Sie haben etwas Schweifendes, Ortloses, und wechseln manchmal von einer Harmonie so unvermittelt in eine entfernte andere, dass man am Verstand des Komponisten zweifeln möchte. Doch Gesualdo verfolgte dabei einen Masterplan: Seine Madrigale beschreiben die Wankelmütigkeit der Seele, die Labilität des Herzens, die Trugbilder der Sinne. Die Intonation dieser exzentrischen Musik ist heikel. Grandios, wie das Exaudi Vocal Ensemble diese gespenstischen Klänge einfängt. Schon nach kurzem Hören darf man feststellen: Es ist perfekt. So bleibt es auch. Für die Jury: Wolfram Goertz

Klassisches Lied und Vokalrecital

Sandrine Piau – Si j’ai aimé

Werke von Hector Berlioz, Charles Bordes, Théodore Dubois, Henri Duparc, Benjamin Godard, Alexandre Guilmant, Jean-Paul-Égide Martini, Jules Massenet, Gabriel Pierné, Camille Saint-Saëns, Louis Vierne. Sandrine Piau, Le Concert de la Loge, Julien Chauvin. Alpha Classics 445 (Note 1)

Als Pastelle werden sie angekündigt, dabei sind diese Miniaturen so viel mehr – jedenfalls dann, wenn sie von Sandrine Piau gesungen werden. Die Sopranistin überlässt nichts dem vokalen Sfumato, sondern gestaltet mit Clarté und feinem Farbauftrag. Das Album entstand in Zusammenarbeit mit den Archivschürfern des Palazetto Bru Zane. Einige Lieder, etwa von Camille Saint-Saëns, Louis Vierne oder Théodore Dubois, fein oszillierend begleitet von Le Concert de la Loge, sind die Missing Links zwischen Klavierlied und französischer Arie. Sie zu interpretieren, ist ein Balanceakt. Der stilbewussten Piau gelingt er mühelos. Für die Jury: Markus Thiel

Alte Musik

Bachfamilie - Kantaten

Heinrich Bach: Ich danke Dir Gott; Johann Michael Bach: Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ; Herr, der König freuet sich; Johann Christoph Bach: Die Furcht des Herren; Herr, wende Dich und sei mir gnädig; Es erhub sich ein Streit; Johann Sebastian Bach: Christ lag in Todesbanden BWV 4. Vox Luminis, Lionel Meunier. Ricercar RIC 401 (Note 1)

Nach den Motetten die Kantaten: Lionel Meunier und Vox Luminis haben sich dem einschlägigen Schaffen der Bach-Verwandten Heinrich, Johann Christoph und Johann Michael Bach gewidmet. Herausgekommen ist eine Einspielung mit starker Sogwirkung: akribisch und trotzdem warm timbriert, in bester Übereinstimmung von Wort und Musik und mit einer starken Präsenz der großen Emporenorgel. Sie ist aber auch interessant, weil drei Vorfahren aus dem übermächtigen Schatten des Thomaskantors geholt werden. Sebastians frühe Kantate »Christ lag in Todesbanden« BWV 4 im Anhang zeigt, wie stark er von den Verwandten geprägt war und, wie er sich später originalisiert hat. Für die Jury: Thomas Ahnert

Zeitgenössische Musik

Philippe Manoury: Le temps, mode d’emploi

GrauSchumacher Piano Duo, SWR Experimentalstudio. SACD, Neos 11802 (harmonia mundi)

Von Beginn an hat diese Musik etwas Rauschhaftes und ist doch nie vernebelnd. Mit ihrer unnachahmlichen Lust am Spiel treiben Andreas Grau und Götz Schumacher durch ein Labyrinth, sie werden verfolgt und verfolgen. Hören wird lustvoll, zeitlos, ganz im Moment. Die Zeit bleibt stehen und vergeht im nächsten Moment wie im Flug. Wie das geht? Die Pianisten geben Impulse in das digitale Spielfeld und müssen an anderer Stelle auf dessen Algorithmen improvisierend reagieren. Mal technisch virtuos am Rande des Spielbaren, mal poetisch im tiefsten Dunkelblau. Diese Aufnahme ist im Gesamtklang entstanden, in Zusammenarbeit mit dem Experimentalstudio, als ein magisches Spiel mit der Live-Elektronik, das in seiner Virtuosität niemand so beherrscht wie Philippe Manoury. Für die Jury: Margarete Zander

Historische Aufnahmen

Brigitte Fassbaender: The great Lieder recordings

Lieder, Arien und Duette von Franz Schubert, Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann, Johannes Brahms, Franz Liszt, Friedrich von Flotow, Hugo Wolf, Gustav Mahler und Alban Berg. Brigitte Fassbaender, Dietrich Fischer-Dieskau, Nicolai Gedda, Lucia Popp, Anneliese Rothenberger, José Van Dam, Patricia Wise, Karl Engel, Irwin Gage, Aribert Reimann, Wolfgang Sawallisch, Erik Werba, Willi Boskovsky, Lawrence Foster, Sir Neville Marriner, Willy Mattes, Jeffrey Tate. 8 CDs, Warner Classics 509996829682

Der achtzigste Geburtstag Brigitte Fassbaenders gibt Anlass zu Rück- und Ausblick, auch den großen Labels. Diese Edition präsentiert in hervorragender Weise die frühen Aufnahmen – darunter auch Fassbaenders erste Platteneinspielung überhaupt. Das Repertoire dieser Ausnahmesängerin ist sehr viel breiter, als es die ewige Konnotation mit der Oktavian-Partie im »Rosenkavalier« vortäuscht. Es reicht von geistlicher Musik, Bach und Händel, bis an die Grenzen der Moderne, Berg und Schönberg. Aber auch die Iokaste in Enescus »Oedipe« hat sie gesungen, an der Seite von Nicolai Gedda, auch die »Winterreise« von Schubert, Operetten und Zigeunerlieder. Für die Jury: Stephan Bultmann

Grenzgänge

Mia Brentano’s River of Memories – A Mystery Trip

Benyamin Nuss, Andy Miles, Klaus Martin Kopitz, Marie-Noëlle Fileyssant, Timkehet Teffera, Jóhanna Eydís Pórarinsdóttir, Ayo Ajayi, Katrin Gralki, Yun-Kyung Lee, Heiner Reinhardt, Johannes Ernst, Shiori Doi, Hans Dekker. Mons Records MR874621 (NRW Vertrieb)

Blau ist der Mond im Eröffnungsstück, mit seinen Blue Notes als Farbgeber. Wir betreten in »River of Memories« eine weite Hörlandschaft von Geschichten, aus denen unsere Träume sind, worin Surreales und Reales, Nostalgisch-Romantisches, einschmeichelnd Melodisches und Albtraumhaft-Gespenstisches aufeinandertreffen. Mia Brentano (wie sich der Musikwissenschaftler Klaus Martin Kopitz nennt, wenn er komponiert) bietet eine beachtliche stilistische Bandbreite, die das klassisch-romantische Repertoire ebenso einbezieht wie den Jazz und die moderne Elektronik mit ihren populären Ablegern. Unterschiedliche Sprachen dienen als hörspielartiges Klangmaterial, werden zur Hommage an Autoren wie André Breton oder Paul Auster. Kopitz nimmt uns mit auf eine fantastische Reise in unerhörte Traum- und Klangwelten. Für die Jury: Heinz Zietsch

Musikfilm

Asi mit Niwoh. Der Etwas andere Heimatfilm – Die Jürgen Zeltinger Geschichte

Ein Film von Oliver Schwabe. Jürgen Zeltinger, Dennis Kleimann, Arno Steffen, Heiner Lauterbach, Wolfgang Niedecken, Christian Kahrmann, Anton Claassen, Susanne Zeltinger-Lehmköster, Tanja Meyer, Tom Schönberg, Robbie Vonddenhoff & Wolfgang Günnewig. DVD, mindjazz pictures 6419316 (Alive)

Er war eine Kölner Kultfigur. Als Straßenmusiker fing Jürgen »de Plaat« Zeltinger an, als Punkrocker wurde er zum Szenestar. Heute füttert er Fische im Gartenteich, kutschiert auf seinem E-Mobil durchs Viertel, und wenn er es auf der Bühne noch mal krachen lässt, dann im Sitzen. Unbeweglich und auf die Couch gefläzt, erzählt der inzwischen achtundsechzigjährige glatzköpfige Punkopa aus seinem wechselvollen Leben, er lässt Doku-Filmer Oliver Schwabe dicht an sich heran. Kollegen, Weggefährten und jede Menge Archivmaterial runden das Porträt ab. Auch wenn Zeltinger ein wenig mit seiner halbseidenen Vergangenheit kokettiert, kommt man kaum umhin, ihn »irgendwie« sympathisch zu finden. Für die Jury: Berthold Klostermann

Jazz

Scott Hamilton Quartet: Danish Ballads ... & More

CD / LP Stunt Records STUCD 18192 / STULP 18101 (in-akustik)

Er versuche, jeden Abend etwas Neues und Originelles zu machen, sagte Scott Hamilton einmal, um damit jeden Verdacht des Eklektizismus zu entkräften. Schließlich wurde der 1954 geborene Tenorsaxophonist schon oft als Wiedergänger von Coleman Hawkins, Ben Webster und Lester Young in Personalunion bezeichnet. Was allerdings nicht negativ gemeint war, sondern sozusagen als dreifaches Kompliment. Auf diesem jüngsten Album treibt Hamilton die Entwicklung eines kraftvollen, gleichermaßen weichen persönlichen Tons weiter voran. Könnte man aus Tönen einen Smoothie herstellen – das Ergebnis dürfte ungefähr so klingen wie die »Danish Ballads«. Die Quartet-Musiker mischen sanft swingende, klar akzentuierte Melodien in perfekt austariertem Zusammenspiel: ein Hörerlebnis, das einfach für gute Laune sorgt. Für die Jury: Rainer Nolden

Jazz

Stephan-Max Wirth: Live Experience

25 years SMWE – the legendary live recordings of the 2010s. Stephan-Max Wirth, Jaap Berends, Bub Boelens, Florian Hoefnagels. 4 CDs, Bos.Rec 239-19 (Galileo)

Seit mehr als einem Vierteljahrhundert ist der Berliner Saxophonist und Komponist Stephan-Max Wirth mit seiner Band schon aktiv. Die jetzt zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum veröffentlichte Live-Box mit 21 Stücken auf 4 CDs bündelt kaleidoskopartig die stilistische Vielfalt des zeitgenössischen Jazz: Ob in gewagten Post-Bob-Konzepten, Jazzrock-Exkursionen, Free Jazz-Anleihen oder sehnsüchtigen Balladen von oft sanglicher Qualität – Wirth demonstriert mit den Musikern seines deutsch-holländischen Quartetts schwerelose Virtuosität, kombiniert mit einem unbestechlichen Sound-Gespür. Für die Jury: Peter Kemper

Weltmusik

Mísia: Pura Vida (Banda Sonora)

Galileo MC GMC086

Einen »seidenen, samtenen, wollenen, kleinen Fado« wünscht sie sich – ausgerechnet in einem Lied, das musikalisch von Irving Berlins frivolem »Puttin’ on the Ritz« inspiriert wurde. Aber klein und gemütlich geht es auf Mísias neuem Album weniger denn je zu. Portugals größte Fadista will »nicht irgendeinem Stamm oder Genre zugehören«, sie spannt ihre Flügel weit und landet nicht zuletzt im argentinischen Tango – eine hochdramatische Verbindung. Dass diese »Tonspur eines Lebens« bei aller Vielfalt an Stilen und Instrumentierungen die Qualitäten eines Konzeptalbums hat, verdankt sich auch der großen Arrangierkunst von Fabrizio Romano, Mísias langjährigem Mitstreiter. Für die Jury: Jürgen Frey

Traditionelle Ethnische Musik

Kudsi Ergüner: La Mélancolie Royale

Méditation Soufie. Seyir Muzik 2GN009 (Galileo)

Der Klang der Schilfrohrflöte Ney wird im Orient mit dem Atem Gottes assoziiert. Ihr leiser, luftiger Ton und ihre klagenden Melodien wecken die Melancholie und versetzen etwa Sufi-Derwische in einen Zustand spiritueller Versenkung. Der türkische Virtuose Kudsi Ergüner stammt aus einer Familie, die seit vielen Generationen das Spiel auf der Ney pflegt. Sein Album »La mélancolie royale« verzaubert mit intimen Klängen: zarten Linien, feinsten Nuancen in der Tongebung, winzigen Verzierungen und mikrotonalen Feinheiten. Dazu ein ruhiger Atem, lange Melodiebögen und Pausen, in denen die Zeit still steht. Für die Jury: Tom Daun

Liedermacher

Rainald Grebe & Die Kapelle der Versöhnung: Albanien

CD / 2 LPs, Versöhnungsrecords 00953 / 00954 (Broken Silence)

Rainald Grebe bleibt seiner realistisch-absurden Vinyl-Topographie verbunden. Den längst zu schrägen Evergreens gewachsenen Thüringen-, Frechen- oder Brandenburg-Hymnen fügte der Sänger, Kabarettist, Theatermann jüngst die Platte »Albanien« hinzu. Siebzehn Stücke, im titelgebenden Lied heißt es, unter anderem: »Ich kenn mich nicht mehr aus, es ist so wenig klar … Alle sprechen Englisch, überall H&M, überall nur Flughafenmenschen. Aber in Albanien, Albanien, in Albanien ist alles beim Alten.« Die rücklings liegende Schildkröte auf dem Frontcover zeigt, exemplarisch für Zustände in deutschen Landen wie auf dem Restglobus: Es geht ein Riss durch die Zeit. Versöhnlich hierbei, den innovativen Grebe wieder im tadellosen Einklang zu hören mit dessen bewährt vogelwilder »Kapelle der Versöhnung«. Für die Jury: Jochen Arlt

Folk und Singer/Songwriter

Lata Donga: Variācijas

CPL Music CPL032 (Broken Silence)

Folk aus Lettland bekommt man nicht alle Tage zu hören. Doch Lata Donga haben das Zeug dazu, Musikfreunde aus aller Welt zu überzeugen. Herz und Seele der Band ist eine Familie, in der die lettische Folktradition seit drei Generationen hochgehalten wird. Ausgerüstet mit Kokle-Zithern, orientalischer Percussion und den schönsten Stimmen des Baltikums erwecken Vater, Mutter und die beiden Töchter Jahrhunderte alte Melodien zum Leben und huldigen dabei sowohl dem Weiblichen als auch dem Göttlichen. »Variācijas« ist das Debütalbum dieses Familienensembles, man kann nur sagen: Mehr davon! Für die Jury: Suzanne Cords

Hard und Heavy

Sacred Reich: Awakening

CD / LP, Metal Blade Records 03984156622 / 03984251231 (Sony)

»Neue Besen kehren gut«, weiß der Volksmund. Im Thrash Metal scheint das nicht zu gelten. Denn nach Exhorder mit »Mourn the Southern Skies« hauen Sacred Reich uns nun schon als zweite Veteranen-Combo binnen kurzem einen Hammerschlag von Album um die Ohren. »Awakening« ruft uns unsanft die Gründe in Erinnerung, warum wir dieser Spielart des Metal ursprünglich verfallen waren: rasiermesserscharfe Riffs, unbändige Energie, enthusiasmierende Hooks! Diese liefern Sacred Reich im typischen Soundgewand aus Slayer-Ungestüm, Punk-Attitude und mitreißendem Groove. Was Titel wie das harsche »Divide & Conquer«, das flinke »Revolution« oder das gloriose »Something To Believe« zu Thrash-Hymnen erhebt, das sind die überlegenen Songwriting-Skills von Phil Rind und seinen Mannen. So kann der Arizona-Vierer 2019 gar an Heldentaten wie »The American Way« anknüpfen. Surf’s up! Für die Jury: Felix Mescoli

Alternative

Thom Yorke: Anima

CD / 2LPs, XL Recordings XL987 (Indigo)

Der Sänger von Radiohead führt mit so exzellent wie fein dosiert eingesetzter Stimme durch ein emotionalisierendes, von ihm selbst geschriebenes, von Nigel Godrich produziertes Soloalbum. Er dringt ins Unterbewusstsein ein, begegnet sich selbst und seinen Ängsten in Träumen und Albträumen auf einem Album wie ein Fluss, der immer weiter strömt. Die elektronischen Texturen wärmen auch dank des schön für Unterlage sorgenden Bass, wobei Yorke immer wieder durch surreale Welten schlafwandelt und bei seinem Eintauchen in REM-Phasen sowohl sein Faible für Soundtracks einfließen als auch dezent und progressiv Gitarrenläufe um sich selbst kreisen lässt. Elektronischer Sternenstaub rieselt. Mit enormem Sog und eigenwilligem Ausdruck, mit Unheimlichkeit und Minimalismus zieht diese Musik total in den Bann. Für die Jury: Götz Adler

Blues

Coco Montoya: Coming In Hot

Alligator Records ALCD 4994 (in-akustik)

Mit diesem Album, produziert von Tom Braunagel, bringt Coco Montoya die Sache auf den Punkt: Seine Verbundenheit mit dem klassischen Blues, aber auch die hohe Kunst, daraus immer wieder neue Spielformen zu entwickeln, durch das Hinzufügen genrefremder Elemente. Man spürt die Verehrung für seinen Mentor Albert Collins, man bewundert die Kraft, sich einen eigenen persönlichen Stil zu erschaffen, die blendende Technik, kombiniert mit intensiver Spielfreude. Mit »Coming In Hot« hat der Blues-Gitarrist mit der souligen Stimme den passenden Titel für ein herausragendes Album gefunden. Für die Jury: Karl Leitner

R&B, Soul und Hip-Hop

Cool Million: Stronger

CD / 2 LPs, Lounge Records 22083 / 22084 (Broken Silence)

Die Jahrespreisträger von 2015 haben ihre Stellschrauben fein nachjustiert: Cool Million arbeitete diesmal wieder mit Gastvokalisten zusammen, sie haben dafür Klanggerüste aus Soul, Funk und Boogie zusammengeschraubt und im Studio aufpoliert. Viel zitiert wird diesmal aus den frühen Neunzigern, Tracks wie die S.O.S.-Band-Verbeugung »Skintight« führen zu Jade, Joyce Sims und MoKenStef. Nun könnten miesepetrige Kritiker dem deutsch-dänischen Duo vorwerfen, das Experiment zu scheuen und sich auf hohem Niveau zu duplizieren. Mit einem stärkeren Fokus auf dem Neunziger-Soul in den 13 Songs haben Rob Hardt und Frank Ryle ein solches – rein hypothetisches – Argument elegant ausgehebelt. Für die Jury: Torsten Fuchs

Wortkunst

Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Der Leopard

Thomas Loibl. 8 CDs, Osterwold audio ISBN 978-3-86952-429-0 (Hörbuch Hamburg)

Thomas Loibl beschwört in ruhigem Erzählton in »Der Leopard« eine Welt des Umbruchs im neunzehnten Jahrhundert. Das schafft natürlich schon der Roman, ein Jahrhundertwerk von Giuseppe Tomasi di Lampedusa, der vor sechzig Jahren erschien und den Niedergang des Fürsten Salina stellvertretend für den Niedergang des »alten« Italien in ein flirrendes Szenario platziert. Denn das »neue Italien«, das Italien Garibaldis, das um Einigung kämpft, bricht sich mit aller Gewalt seine Bahn – symbolisiert durch Tancredi, den Lieblingsneffen des Fürsten. Loibl trifft immer den richtigen Ton und das passende Tempo, wenn die Sonne Siziliens unerbittlich brennt oder der Fürst über Liebe, Höflichkeit und die Notwendigkeit des Wandels, der Erneuerung sinniert. Für die Jury: Anja Reinhardt

Kinder- und Jugendaufnahmen

Dirk Kummer: Alles nur aus Zuckersand

Charly Hübner. 3 CDs, Silberfisch ISBN 978-3-7456-0123-7 (Hörbuch Hamburg)

Im Schatten der Berliner Mauer erleben Fred und sein bester Freund Jonas kleine und große Abenteuer, am liebsten heimlich, in den verlassenen Fabrikgebäuden in der Nähe der schwer bewachten Grenze. Als Jonas’ Mutter einen Ausreiseantrag stellt, besiegeln die Kinder ihre Blutsbruderschaft und beginnen, einen Tunnel durch den feinen Sand im Grenzgebiet zu graben. Regisseur Dirk Kummer, selbst in der DDR aufgewachsen, erzählt von der großen Freundschaft zweier Zehnjähriger und gibt zugleich Einblicke in den DDR-Alltag und in unterschiedliche Lebensentwürfe. Die Geschichte, zuerst 2017 verfilmt mit düsterem Ausgang, erzählt er nun mit einem Hoffnungsschimmer, ohne das Unrecht kleinzureden. Charlie Hübner liest das Hörbuch unaufgeregt, mit großer Ruhe. So werden die beiden Jungs überzeugend als Identifikationsfiguren, auch für heutige Kinder. Für die Jury: Juliane Spatz

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