Bestenlisten
Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.
NEU: Longlist 4/2024, veröffentlicht am 5. Oktober 2024
Orchestermusik und Konzerte
Walter Braunfels / Gregor Bühl
Walter Braunfels: Vorspiel aus »Don Gil von den grünen Hosen«, op.35; Divertimento op.42; Serenade op.20, Ariels Gesang op.18. ORF Radio Symphonie Orchester Wien, Gregor Bühl. Capriccio C5429 (Naxos)
Bereits acht CDs hat das Label Capriccio dem Komponisten Walter Braunfels gewidmet, der hochbegabt, in den zwanziger Jahren auch höchst erfolgreich war und später als Halbjude diffamiert und mundtot gemacht wurde. Diese jüngste Produktion mit kleineren, unterschiedlich besetzten Instrumentalwerken weist ihn als Wanderer zwischen den musikalischen Welten aus: Stilvielfalt charakterisiert sein Schaffen. Ein glänzendes Beispiel ist das Divertimento für Radio Orchester von 1929 in kleiner Besetzung mit fünf stilistisch kontrastierenden Sätzen. Gregor Bühl, ein exzellenter Braunfels-Kenner, und das RSO Wien musizieren die fabelhaft orchestrierten Werke klangschön, flexibel und präzise. Für die Jury: Peter Stieber
Orchestermusik und Konzerte
Mozart Momentum 1785
Wolfgang Amadeus Mozart: Klavierkonzerte KV 466, 467, 482; Klavierquartett KV 478; Fantasie c-moll KV 475; Maurerische Trauermusik KV 477 (479a). Leif Ove Andsnes, Matthew Truscott, Joel Hunter, Frank-Michael Guthmann, Mahler Chamber Orchestra. 2 CDs, Sony Classical 19439742462
Schon der synkopiert drängende Herzschlag, mit dem das Mahler Chamber Orchestra den Bogen über den düsteren Beginn des ersten Satzes von Mozarts d-moll Konzert KV 466 spannt, verweist auf die spieltechnischen Qualitäten dieses Weltspitzenorchesters in punkto Dramatik, Schattierung und Artikulation. An allen Pulten sitzen hellwache, klangsensible Musiker, die im Wechselspiel mit Pianist Leif Ove Andsnes zu kammermusikalischer Hochform auflaufen. Abgesehen von der hörbar virtuosen Spielfreude kommt es im langsamen Satz aus KV 467 auch zu schönen Momenten ineinanderfließenden Atems zwischen Solist und Orchester. Große Mozartliebe! Für die Jury: Jörg Lengersdorf
Kammermusik
Augustin Hadelich – Bach
Johann Sebastian Bach: Sonaten & Partiten für Violine solo BWV 1001-1006. Augustin Hadelich. 2 CDs, Warner Classics 0190295048747
Bach mit dem Barockbogen zu spielen, empfand Augustin Hadelich als »Befreiung«. Befreit fühlt sich aber auch der Zuhörer. Denn Hadelichs Interpretation der Solo-Sonaten und Partiten beginnt dort, wo Fragen der technischen Perfektion und der Stilistik hinter einem neuen Ausdrucksideal verschwinden: der emotionalen Fantasie. Mit dem herrlichen Klang seiner Guarneri-Geige entdeckt Hadelich in den einzelnen Sätzen ganze Szenen, ja, sogar Dramen, gipfelnd in der »Lebensgeschichte« der Chaconne. Visionärer spielt das derzeit kein anderer. Für die Jury: Lotte Thaler
Kammermusik
Sophie Dervaux – Impressions
Camille Saint-Saëns: Fagottsonate op.168; Charles Koechlin: Sonata op.71; Maurice Ravel: Pièce en forme d’habanera; Claude Debussy: Clair de lune, Beau Soir; Reynaldo Hahn: À Chloris; Gabriel Fauré: Après un rêve, Henri Dutilleux: Sarabande et cortège; Roger Boutry: Interférences. Sophie Dervaux, Sélim Mazari. Berlin Classics 0301708BC (Edel)
Vom ersten Ton an, der vom Fagott erklingt, ist das der Weg zu einem frühen Traum, den nur so ein Ton finden kann: unmerklich als Terz das e-moll im Klavier füllend, sich zärtlich ausbreitend, blühend, wärmend. Zum Weinen schön, wie Sophie Dervaux die Sonate des fünfundachtzigjährigen Camille Saint-Saëns spielt. Und nicht nur die. Das Eis der verkopften Vorurteile (zum Beispiel: Das Fagott sei burlesk, die Tonalität nach 1918 regressiv, Bearbeiten ein Vergehen am Urtext) schmilzt dahin in rasendem Tempo, während ein Kontinuum französischen Klangdenkens von 1890 bis 1972 strömt und leuchtet in Tönen, die Herz und Geist erreichen. Für die Jury: Volker Hagedorn
Tasteninstrumente
Bach Nostalghia – Francesco Piemontesi
Johann Sebastian Bach: Italienisches Konzert BWV 971; Ferruccio Busoni: Toccata K287; Bach/Busoni: Präludium & Fuge BWV552; Choralvorspiele BWV645 & 659; Bach/Schnaus: Choralvorspiel BWV 650; Bach/Kempff: Flötensonate BWV 1031. Francesco Piemontesi. Pentatone PTC 5186 846 (Naxos)
Bachbearbeitungen hatten immer schon Konjunktur. Der Schweizer Pianist Francesco Piemontesi führt mit seinem neuen Album zurück in die große Zeit der Transkriptionen von Ferruccio Busoni und Wilhelm Kempff. Mit staunenswerter Nuancenvielfalt entwickelt er vor dem sorgfältig ausgeleuchteten Hintergrund historisch informierter Aufführungspraxis ein reiches, authentisches Klangbild. Piemontesi zaubert aus seinem Flügel auch Orgel-, Orchester- und, wenn es sein muss, sogar Cembaloklänge. Diese »Nostalgie« hat Zukunft! Für die Jury: Christian Kröber
Tasteninstrumente
Jeanne Demessieux: The Decca Legacy
Werke von Dietrich Buxtehude, Jeremiah Clarke, Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel, Wolfgang Amadeus Mozart, Felix Mendelssohn Bartholdy, Charles Widor, César Franck, Franz Liszt, Olivier Messiaen, Edouard Mignan, Jean Berveiller. Ernest Ansermet, Suzanne Danco. 8 CDs, Eloquence/Decca 484 1424 (Klassik Center)
Schon zu Lebzeiten galt sie als Legende. Sie setzte Maßstäbe auf ihrem Instrument und beeinflusste die Orgelmusik im zwanzigsten Jahrhundert als Interpretin, Komponistin und Improvisatorin nachhaltig: Jeanne Demessieux. Die brillante Organistin erarbeitete sich eine glanzvolle Karriere, die durch ihren frühen Krebstod 1968 jäh beendet wurde. Ihr Ruhm lebt dennoch fort und erfährt in dieser CD-Box mit historischen Aufnahmen eine ebenso ausgezeichnete wie angemessene Würdigung. Die anlässlich des 100. Geburtstags von Demessieux erschienene Edition bietet einen repräsentativen Querschnitt ihres auch heute noch überaus bedeutenden Wirkens. Für die Jury: Guido Krawinkel
Oper
Wolfgang Amadeus Mozart: Così fan tutte
Elsa Dreisig, Marianne Crebassa, Lea Desandre, Bogdan Volkov, André Schuen, Johannes Martin Kränzle, Wiener Philharmoniker, Joana Mallwitz; Regie: Christof Loy. DVD, Erato 0190295050320 (Warner)
Im leicht verkrauteten Segment der DVD-Opern tut es wohl, wenn eine Aufnahme gesanglich so gut ist, dass sie auch ohne Bild bestehen könnte. Elsa Dreisig, Marianne Crebassa oder Andrè Schuen stehen genau auf dem jugendlichen Punkt, an dem sie Mozarts psychologisches Kammerspiel völlig neu durchleuchten können. Joana Mallwitz dirigiert die Wiener Philharmoniker aromatisch, leicht und vorbildlich sängerorientiert. Diese Produktion aus dem Coronajahr 2020 ist ein überwältigender Beleg dafür, wie große Festivals, hier die Salzburger Festspiele, bekannte Künstler noch einmal völlig neu befeuern – und zu hinreißend unverbrauchten Leistungen inspirieren können. Als sähe man das Stück erstmals. Für die Jury: Kai Luehrs-Kaiser
Oper
Nikolai Rimski-Korsakow: Snegurotschka
Aida Garifullina, Yuriy Mynenko, Martina Serafin, Maxim Paster, Thomas Johannes Mayer, Elena Manistina, Vladimir Ognovenko, Franz Hawlata, Vasily Gorshkov, Orchestre et Chœurs de l’Opéra National de Paris, Mikhail Tatarnikov; Regie: Dmitry Tcherniakov. DVD/Blu-ray, BelAir classiques BAC186/BAC486 (Naxos)
Moskaus Starregisseur Dmitry Tcherniakov möchte eine Art Enzyklopädie der russischen Oper im Westen inszenieren, zunächst mit den hierzulande vergessenen Musiktheaterstücken Rimski-Korsakows. 2017 begeisterte er das Publikum in Paris mit einer einfühlsamen Neuinterpretation des »Schneemädchen« – diese in Russland populären Folklorefigur ansiedelnd zwischen rustikalem Idyll und strenger Psychostudie. Mikhail Tatarnikov lasiert dazu mit feinem Klangpinsel. Die lyrisch-leichte Aida Garifullina, ganz rosa Unschuld in weißer Schwanenflaummütze, führt ein tolles Sängerensemble an: ein Frühlingsopfer der anderen Art. Für die Jury: Manuel Brug
Chor und Vokalensemble
Berio To sing
Luciano Berio: Sequenza III; Folk Songs; Cries of London; There is no tune; Michelle II; O King; E si fussi pisci. Lucile Richardot, Les Cris de Paris, Geoffroy Jourdain. harmonia mundi HMM 902647
Cathy Berberian hat es schon getan, Barbara Hannigan ebenfalls. Wenn jetzt die Mezzosopranistin Lucile Richardot mit ihrem außergewöhnlich dunklen Timbre ebenfalls Berio singt, unter anderem Sequenza III stimmlich und theatralisch aufbereitend, dann beweist sie damit ihre enorme stilistische und ästhetische Bandbreite. Richardot steht unbestritten im Zentrum dieser Aufnahme, die aber außerdem mit »Cries of London« – einem akustischen Abbild der Londoner Straßenverkäufer – und der innigen Volkslied-Adaption »There is no tune« lohnenswerte Berio-Raritäten für den ebenso präzise wie ausdrucksstark gestaltenden Chor Les Cris de Paris enthält. Für die Jury: Susanne Benda
Klassisches Lied und Vokalrecital
Tiranno – Kate Lindsey
Alessandro Scarlatti: Il Nerone; La morte di Nerone; Georg Friedrich Händel: Agrippina condotta a morire HWV 110; Claudio Monteverdi: L’Incoronazione di Poppea; Bartolomeo Monari: La Poppea. Kate Lindsey, Nardus Williams, Andrew Staples, Arcangelo, Jonathan Cohen. Alpha Classics ALPHA 736 (Note 1)
Dass der amerikanischen Mezzosopranistin Kate Lindsey die Figur des Nerone liegt, das Skandalon des skrupellosen, sinnlichen, machtlüsternen Tyrannen, war schon bei ihrer sensationellen Bühnendarstellung in Monteverdis »Poppea« in Salzburg und Wien zu erleben. Hier gelingt ihr der Transfer dieser außerordentlichen Intensität auf die Klangbühne der CD, technisch bravourös, unerhört wagemutig: Sie ist so frei. »Tiranno« stellt Monteverdis Nero neben seine barocken Wiedergänger und bietet mit Bartolomeo Monaris »Poppea« und Alessandro Scarlattis »Morte di Nerone« diskographische Premieren. Für die Jury: Holger Noltze
Alte Musik
Heinrich Isaac: Missa Wohlauff
Heinrich Isaac: Missa Wohlauff gut Gsell von hinnen; Josquin Desprez: Comment peult avoir joye; Recordare, Jesu Christe; Quis dabit pacem populo timenti; Sive vivamus, sive moriamur; Parce, Domine, populo tuo; O decus ecclesiae; Judaea et Jerusalem. Cinquecento. Hyperion CDA68337 (Note 1)
Aus dem Chanson »Comment peult avoir joye?« von Josquin stammt der Cantus firmus von Isaacs sechsstimmiger »Missa Wohlauff gut Gsell von hinnen«, die in mehr als vierzig Minuten von raffiniertem Kontrapunkt über geschmeidige Stimmführung bis hin zu repräsentativer Pracht alles bietet, was das Herz begehrt. Das Ensemble Cinquecento, nunmehr bereits zum achten Mal mit einem Bestenlisten-Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet, stellt Isaac mit dem Vorbild auf Augenhöhe und besticht einmal mehr durch die analytische Transparenz, die vokale Homogenität und den ruhigen, sanft vorwärtsstrebenden Duktus der Interpretation. Für die Jury: Matthias Hengelbrock
Zeitgenössische Musik
Enno Poppe: Filz; Stoff; Wald
Tabea Zimmermann, Ensemble Resonanz, Enno Poppe. Wergo WER 7399 2 (Naxos)
Komplexe Glissando-Strukturen, mikrotonale Reibungen, hochdifferenziertes Vibrato: Das Bratschenkonzert »Filz« von Enno Poppe, entstanden 2013/14 für Tabea Zimmermann und das Hamburger Ensemble Resonanz, stellt höchste Ansprüche an die Interpreten. In dieser Ersteinspielung erwächst eine klangsinnliche Ereignisdichte. Dabei entwirft die große Solistin, Siemens-Musikpreisträgerin 2020, einen dramaturgisch konzisen Ablauf. Auch mit »Stoff« und »Wald«, ebenfalls für das Ensemble Resonanz komponiert, präsentiert sich Poppe als ein profunder Streicher-Kenner. Nebenbei wird deutlich, wie sehr diese Formation das Musikleben bereichert. Für die Jury: Marco Frei
Historische Aufnahmen
Erich Kleiber – The Complete Polydor 78s (1926-1929)
Werke von Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert, Felix Mendelssohn Bartholdy, Gioacchino Rossini, Hector Berlioz, Otto Nicolai, Bedrich Smetana, Antonín Dvořák, Johann Strauss II. Berliner Philharmoniker, Staatskapelle Berlin, Erich Kleiber. 3 CDs, Eloquence/Deutsche Grammophon 484 2049 (Klassik Center)
Gemessen an seinem Können und Ruhm hat Erich Kleiber viel zu wenig Studio-Dokumente hinterlassen. Neben den vielgerühmten Opern-Gesamtaufnahmen von Figaro und Rosenkavalier gibt es nur eine Handvoll symphonischer Einspielungen mit Werken von Beethoven, Schubert und Mozart aus den fünfziger Jahren. Um so größere Bedeutung kommt dieser von Mark Obert-Thorn sorgsam restaurierten Edition der frühen Polydor-Platten zu. Außer Antonín Dvořáks Neunter und zwei Versionen von Smetanas Moldau enthält die Sammlung viele kleine Schätze, voran Auszüge aus Mendelssohns »Sommernachtstraum«. Für die Jury: Thomas Voigt
Grenzgänge
As An Unperfect Actor
Nine Shakespeare Sonnets. Birgit Minichmayr, Quadro Nuevo, Bernd Lhotzky. CD/LP, ACT 9931-2 (Edel)
Zeit so fern und zugleich so nah: Birgit Minichmayr, bekannt vom Film und gefeiert auf großen Theaterbühnen, begibt sich hier als Sängerin auf die Spuren der rätselvollen Sonette von William Shakespeare. Bernd Lhotzky hat ihr die Kompositionen auf den Leib geschrieben, die sie gemeinsam mit dem Ensemble Quadro Nuevo musikalisch in Szene setzt. Mit ihrer mal von Erinnerungen an Tom Waits angehauchten, mal beinahe andächtig wirkenden Stimme streift sie durch das Labyrinth der Leidenschaften und lässt uns die Melancholie des Elisabethanischen Zeitalters als etwas ganz und gar Gegenwärtiges erleben. Für die Jury: Bert Noglik
Musikfilm
Zubin Mehta: Good Thoughts, Good Words, Good Deeds
Ein Film von Bettina Ehrhardt. Gustav Mahler: Kindertotenlieder. Thomas Quasthoff, Sächsische Staatskapelle Dresden. DVD, Arthaus Musik 109439
In Indien geboren, britisch erzogen, musikalisch europäisch sozialisiert, fand Zubin Mehta seine künstlerische Heimat als Musikdirektor des Israel Philharmonic Orchestra. Er schaffte es, den europäisch geprägten Klangcharakter des Orchesters zu erhalten und wagte auch Aufführungen von Werken Wagners. Historisches Filmmaterial zeigt diese mitunter dramatischen Ereignisse. Mehta, der Menschenfreund, besitzt Autorität, ohne autoritär zu sein. Aber auch Gelassenheit. Bettina Ehrhardts Film, weniger chronologische Biographie denn facettenreiches Persönlichkeitsporträt, zeigt, mit welcher Lust und Freude dieser Dirigent arbeitet, wie er Orchester und Publikum gleichermaßen verführen kann. Für die Jury: Helge Grünewald
Jazz
Sarah Vaughan: Live At The Berlin Philharmonie 1969
2 CDs, The Lost Recordings TLR-2004037 (Bertus)
Die späten Sechziger Jahre mit ihren Umbrüchen brachten auch Unruhe in die Berliner Philharmonie. Traditioneller und moderner Jazz waren plötzlich nicht mehr die großen Gegensätze, die diskutiert wurden. Statt dessen: Jazz und Pop. Inmitten dieser Diskussionen hatte Sarah Vaughan – »the divine«, die Göttliche – ihr Comeback bei den Berliner Jazztagen. Zwei Jahre zuvor noch ausgebuht, wurden ihre beiden Konzerte im Jahr 1969 zu wahren Triumphen. Mit Swing-Vehikeln und zauberhaften Balladen-Interpretationen aus dem Great American Songbook in einer glänzend eingefangenen Konzert-Atmosphäre ist »Sassy« hier in sehr persönlichen Statements zu erleben. Für die Jury: Lothar Jänichen
Jazz
Vijay Iyer, Linda May Han Oh, Tyshawn Sorey: Uneasy
CD/2LP, ECM Records 2692 (Universal)
Uneasy, so der amerikanische Pianist Vijay Iyer, sei ein brutales Understatement für die aktuellen Zustände. Aber das Wort enthalte auch das Gegenteil: Im Beunruhigenden spiegelt sich das Erlösende und das Einfache. Aus dieser Spannung heraus entwickelt Iyer eine hochkomplexe, sinnliche Musik, die die Konflikte unserer Zeit mitdenkt, ohne auch nur eine Sekunde verkopft zu wirken. In der souveränen Interaktion mit der Kontrabassistin Linda May Han Oh und dem Schlagzeuger Tyshawn Sorey wird das Trioformat aufgebrochen und zugleich weiterentwickelt – von der Tradition erfüllt, in die Zukunft weisend. Für die Jury: Bert Noglik
Weltmusik
Tania Saleh: 10 A.D.
Kirkelig Kulturverksted FXCD 476 (Indigo)
Tania Saleh kreiert süße Melodien für bittere Lebenserfahrungen. Das »A.D.« bezeichnet eine persönliche Kerbe auf der Lebenslinie der libanesischen Zeichnerin und Songschreiberin, es bedeutet: »after divorce – nach der Scheidung«. Das Leben als selbständige Frau in einer patriarchalen Kultur ist schon unter normalen Umständen nicht einfach. Für eine geschiedene Frau wird die Situation erdrückend. Saleh erzählt von Wut und Schmerz, aber auch mit Hoffnung und selbstsicherem Stolz. Zehn Gefühlsstürme, verpackt in sorgfältige Akustik-Begleitung mit klug gesetzten Elektronik-Akzenten. Für die Jury: Jodok W. Kobelt
Traditionelle Ethnische Musik
Misagh Joolaee: Unknown Nearness
Pilgrims of Sound 4260187722447 (Direktvertrieb)
Kaum zu glauben, was für eine Fülle tönender Kostbarkeiten diesem unscheinbaren Streichinstrument zu entlocken ist! Das Staunen wächst von Track zu Track, auch für Ohren, die sich zum ersten Mal iranischen Klängen öffnen. Es ist nur diese eine, einzigartig behandelte Kamancheh, die eine intime, unbekannte Nähe entwickelt, als würde Musik soeben aus ihren Elementen neu erschaffen. Ein Hauch von tausendundeiner Nacht, eine Mikrowelt der Intonation, der Schattierungen und subtilen Bogentechniken: Diese Reise zwischen Abend und Morgen, alte Meister wie Paco de Lucia und Parviz Meshkatian beschwörend, wird realisiert von einem Zauberer namens Misagh Joolaee. Für die Jury: Jan Reichow
Liedermacher
Dota: Wir rufen dich, Galaktika
2CDs/2LPs, Kleingeldprinzessin Records 03436 (Broken Silence)
Dota Kehr war als Berliner Straßenmusikerin die Kleingeldprinzessin und wird heute gern als »Indie-Queen« bezeichnet. Sie ist Frontfrau der Band Dota, neuerdings mit richtigem Bassisten. Bei Galaktika ist die lila Fee aus »Hallo Spencer« titelbestimmend. »Die Idee ist doch verlockend, könnte man einen säkularen Engel wie Galaktika rufen, wenn man sich in aussichtslose Situationen hineinmanövriert hat,« sagt Dota. In ihren klugen Texten nimmt sie das Blüten treibende Gendern aufs Korn, schon mal die Schuld für alles Mögliche, auch fürs Einkaufen und Essen, auf sich und hat eine Hassliebe zu »dieser Maschine, auf dass der Algorithmus auch mir diene.« Sehr gut. Für die Jury: Petra Schwarz
Folk und Singer/Songwriter
Tworna
Caterina Other, Jessica Jäckel, Frieder Zimmermann. Löwenzahn Verlag HD 20204 (Galileo)
Deutscher Folk zwischen Pop und Weltmusik wird hier gespielt von einem luftigen, fein interagierenden Trio: eine Debut-CD. Tworna bringt alte deutsche Volks- und Tanzlieder erhaben und clever ins Hier und Heute. Das Markenzeichen der drei ist ihr außergewöhnliches Instrumentarium: Nyckelharpa, Waldzither, Gitarre in New Standard Tuning, Fretless Bass und allerlei Percussion, vom Waldteufel bis zur Rahmentrommel. Virtuose Instrumentalisten sind da am Werke, mit perkussiver Raffinesse und einfühlsamem Satzgesang. Mit Spielenergie und Sinnlichkeit erzählen sie ihre Geschichten neu und bringen die schöne Schlichtheit ihrer Melodien zum Leuchten. Für die Jury: Jo Meyer
Pop
Japanese Breakfast: Jubilee
CD/LP, Dead Oceans DOC225 (Cargo)
Japanese Breakfast ist das Projekt der amerikanisch-koreanischen Musikerin und Autorin Michelle Zauner. Auf »Jubilee« entwickelt sie den Dreampop der zwei Vorgänger-Alben weiter in Richtung klar strukturierter und elektronisch orientierter Songformate. Das Album bietet zunächst von Bläsern angedickten Jubel-Pop mit himmelstürmendem Gesang. Der zweite Teil wirkt melancholischer, Balladen zeugen von Erschöpfung. Zauner verarbeitet persönliche Krisen, etwa den Tod der Mutter, in allgemeingültiger Form. So gewährt sie Einblick in ihre Persönlichkeit, bringt Beklommenheit wie Hingabe zum Ausdruck. Für die Jury: Philipp Holstein
Rock
Dry Cleaning: New Long Leg
CD/LP, 4AD 4AD0254 (Indigo)
Ab und zu schaffen es Rockmusiker, dem Genre neue Seiten abzugewinnen. Dry Cleaning kommen aus dem Süden von London, sie knüpfen an innovative Bands wie Wire, Fontaines D.C. oder auch Portishead an, in rhythmischen Passagen meint man New Order zu hören. Die Sängerin des Quartetts, Florence Shaw, nimmt mit urbaner Situationspoesie gefangen, ihr talking style besteht aus feinen Beobachtungen und Genervtheiten. Produzent John Parish legt sein Verständnis für starke Performances und ungewöhnliche Sounds in die Waagschale, er lässt die Band mit ihren Gitarrenfiguren und Basslinien wie hinter einem Vorhang performen. Und doch: Das Großstadtmantra bleibt nachhaltig eindrucksvoll. Für die Jury: Christine Heise
Alternative
Wolf Alice: Blue Weekend
Virgin/Caroline 5060257962150 (Universal)
Nach Grammy-Nominierung und Mercury Prize ist das dritte Album klar der Höhepunkt für die britische Band um Ellie Rowsell: ein Werk, das richtig große Türen öffnen könnte. Das Quartett bewegt sich selbstbewusst zwischen rotziger Punkattitüde, Grunge und Pop, mit Ausflügen in hymnenhafte Pianoballaden oder verträumte Folk- und Shoegazestrecken. Gerade wenn man sich auf einen Sound eingestellt hat, fliegt man beim nächsten Genrewechsel aus der Kurve, um kurze Zeit später wieder sanft in den Armen der vielseitig betörenden Stimme von Rowsell zu landen. Die wilde Fahrt ihres Debüts haben Wolf Alice heute selbst auf neuen Routen jederzeit unter Kontrolle. Für die Jury: Sandra Gern
Club und Dance
Loraine James: Reflection
DL/CD/LP, Hyperdub HDBCD056/HDBLP056 (Cargo)
Die Londoner Produzentin Loraine James nutzte das Jahr 2020 notgedrungen zum Nachdenken. Ihr zweites Album »Reflection« erweist sich dabei lediglich in den Texten als introspektiv. Das Nachdenken über die eigene Situation ist denn auch bloß ein Aspekt ihres Anliegens. Der andere, wichtigere, findet sich in der Musik. Sie verbindet den synthetischen Soul des heutigen R&B und HipHop mit im Computer zerschnipselten Klängen zu einem persönlichen Idiom, das lyrische Sanftheit genauso kennt wie zum Bersten gespannte Synkopen. Aus dieser Mischung wird der Entwurf einer Clubmusik mit Zukunftsversprechen. Für die Jury: Tim Caspar Boehme
Electronic und Experimental
Humanbeing
Rossano Baldini. DL/CD/LP, Rare Noise Records RNR0127 (Cargo)
Plötzlich Zeit. Neue Wege. Neues Leben. Während der Pandemie, während sein zweites Kind unterwegs ist, richtet Rossano Baldini den Blick nach innen. In der Stille des Lockdown hört er seinen Kreislauf rauschen, assoziiert Organe mit Klängen. Und nennt sich selbst, der eigentlich bekannt ist als Filmkomponist, schlicht »humanbeing«. Elektronik verschmilzt mit Klavier oder Cello. Natur und Technologie begegnen sich auf dem gleichnamigen Album in Titeln wie »Flesh«, »Blood«, »Skin«, »Lungs«, »Liver« oder »Heart«. So wird Musik zu Fleisch und Blut. Oder ist es umgekehrt? Eine wundervolle digitale Hommage an die Programmmusik. Für die Jury: Isabel Steppeler
Blues
Anfürsich es et zo leis
& Anfürsich weed et widder laut. Kai Strauss, Wrecia Ford Band, Klöbner, Tommy Schneller Band, Hot n’ Nasty, Jimmy Reiter Band, Till Seidel & His Band. 2 CDs, Torburg Records 4260312124045 & 4260312214052 (Direktvertrieb)
Hülya und Martin Wolf, Betreiber der kleinen Kölner Musik-Kneipe »Torburg«, haben als Wirte wegen Covid-19 selbst zu kämpfen, aber dennoch bereits die zweite Benefiz-Aktion zugunsten der deutschen und internationalen Bluesszene initiiert: Mit dem Erlös der Doppel-CD »Anfürsich es et zo leis« – »Anfürsich weed et widder laut« – abwechslungsreich zusammengestellt, mit einem mehr als hundertseitigen Begleitmagazin – hilft das Kölner Paar und sein Team 34 Künstlerinnen und Künstlern, die für dieses Projekt jeweils einen Titel beigesteuert haben: eine große Geste in für die freie Kunstszene so schwieriger Zeit! Für die Jury: Tim Schauen
Wortkunst
Paul Celan: Eine Annäherung
Jens Harzer. 2 CDs, speak low ISBN: 978-3-940018-76-2
Ein großer Schauspieler nähert sich einem großen Dichter. Wir hören eindrucksvolle Interpretationen, suchende Varianten. Jens Harzer findet den richtigen Ton, erklärt Motive, hält der Traurigkeit stand, unterbricht die Aufnahme, beginnt wieder von vorne, sinnt über einen Doppelpunkt nach und ringt um die eigene Melodie, obwohl er die Stimme des Dichters immer im Kopf hat. Harzer ist nicht nur ein genialer Schauspieler und Celan-Interpret. Er lässt uns vor allem auf faszinierende Weise teilnehmen an der Produktion dieses Hörbuchs, das einzigartige Sprach- und Sprechkunst vermittelt. Für die Jury: Manuela Reichart
Kinder- und Jugendaufnahmen
Frank Schwieger: Ich, Kleopatra, und die alten Ägypter
Live aus dem Land der Pyramiden. Peter Kaempfe, Cathlen Gawlich, Arndt Schmöle, Kim Friehs, Christiane Reichert, Frank Bahrenberg; Illustrationen: Ramona Wultschner. 5 CDs, Igel Records ISBN: 978-3-7313-1288-8 (Oetinger)
Frank Schwieger hat mit seiner Hörspiel-Reihe für Kinder höchst lebendige Schilderungen der Antike geschaffen, die historisches Wissen mit Abenteuergeschichten verbinden. Hier geht es in 12 abgeschlossenen Kapiteln, in Ich-Form erzählt aus der wechselnden Sicht von Herrscherinnen, Dienern oder Kindern, um die ältesten Zeugnisse Ägyptens, von dem geheimnisvollen Innenleben einer Pyramide bis hin zur Umwandlung Ägyptens in eine römische Provinz. Auch Ägyptens Gottheiten kommen zu Wort, sie berichten durchaus humorvoll von der Entstehung der Welt, der herrschenden Finsternis und den mehr oder weniger gelungenen Ideen ihrer Weltenschöpfung. Für die Jury: Regina Himmelbauer