Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

NEU: Longlist 2/2024, veröffentlicht am 5. April 2024

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Haydn 2032 – Vol.10: Les Heures du Jour

Joseph Haydn: Symphonien Nr. 6 D-Dur Hob. I:6 »Le Matin«, Nr. 7 C-Dur Hob. I:7 »Le Midi« & Nr. 8 G-Dur Hob. I:8 »Le Soir«, Wolfgang Amadeus Mozart: Serenade Nr.6 D-Dur KV239 »Serenata notturna«. Il Giardino Armonico, Giovanni Antonini. Alpha Classics ALPHA 686 (Note 1)

Als der kunstsinnige Fürst Esterházy anno 1761 den jungen Joseph Haydn als Vizekapellmeister an seinen Hof holte, war noch nicht abzusehen, welche Folgen das für die Musikgeschichte haben sollte. Doch wurde Haydn nicht erst auf dem Landsitz »originell« in Form und Ausdruck. Dies zeigt Giovanni Antonini in dieser beglückend vielfarbigen und inspirierten Aufnahme der aus jenem Jahr stammenden Tageszeiten-Symphonien, einem weiteren Meilenstein seiner Gesamtaufnahme »Haydn 2032« mit dem Ensemble Il Giardino Armonico. Ein großer Wurf, ergänzt durch Mozarts Serenata notturna, deren kompositorischer Witz köstlich zelebriert wird. Für die Jury: Michael Kube

Orchestermusik und Konzerte

Zal

Miłosz Magin: Klavierkonzert Nr. 3, Violinkonzert Nr. 1 »Concerto rustico«, Vocalisen Nr. 1-4, Nostalgie du pay (Auszug), Stabat Mater für Streicher und Schlagwerk. Lucas Debargue, Gidon Kremer, Kremerata Baltica. Sony Classical 19439870312

Den polnisch-französischen Komponisten und Pianisten Miłosz Magin, Jahrgang 1929, dürften nur die wenigsten kennen. Im Schatten der Avantgarde war er ein Einzelgänger, dessen Œuvre durchaus Beachtung verdient. Das beweist diese hochkarätige Aufnahme seines Klavierkonzerts Nr. 3 aus dem Jahr 1970 und des Violinkonzerts Nr. 1 (»Concerto rustico«) von 1975. Sie besticht vor allem durch die Leidenschaft ihrer Interpreten: Lucas Debargue, Gidon Kremer und die Kremerata Baltica bringen die melodisch intensive, post-impressionistische und immer wieder von folkloristischen Einschlägen durchzogene Musik Magins wunderbar zum Leuchten. Für die Jury: Michael Stegemann

Kammermusik

Ciaccona

Roberto Gerhard: Chaconne, Heinz Holliger: Drei kleine Szenen, Brice Pauset: Kontrapartita, Johann Sebastian Bach: Sätze aus den Partiten für Violine solo Nr. 1-3 BWV 1002, 1004 & 1006. Ilya Gringolts. SACD, BIS Records BIS-2525 (Klassik Center)

Bach und die Moderne – ein unerschöpfliches Thema. Ilya Gringolts bereichert es mit seinem neuen Album »Ciaccona« um eine weitere Facette. Bevor die gewaltige Chaconne aus Bachs Partita in d-Moll erklingt, als tiefgründiges Finale eines höchst originellen Programms, darf sich der Hörer dem russischen Geiger als eloquentem Reiseführer durch die Welt der zeitgenössischen Musik anvertrauen. In den Begegnungen mit den ausgewählten Solo-Werken der Moderne wie auch in den einzelnen Sätzen der Bach-Partita, die er Brice Pausets »Kontrapartita« alternierend an die Seite stellt, zeigt sich Gringolt als kluger, brillanter und leidenschaftlicher Virtuose – ob auf Stahl- oder Darmsaiten. Für die Jury: Bernhard Hartmann

Kammermusik

Stolen Music

Transkriptionen für Klaviertrio. Claude Debussy: Prélude à l’après-midi d’un faune; Paul Dukas: L’apprenti sorcier; Arnold Schönberg: Verklärte Nacht op.4; Maurice Ravel: La Valse. Linos Piano Trio. CAvi 8553035 (harmonia mundi)

Eine Gattung soll neu definiert, die Musikgeschichte umgeschrieben werden. Da hat sich das Linos Piano Trio Großes vorgenommen! Zuerst legten die drei vergessene Wurzeln frei: Sie bewiesen mit ihrer Debüt-CD, dass die Klaviertrios von Carl Philipp Emanuel Bach mehr sind als nur Klaviersonaten mit Begleitung. Jetzt haben sie das Trio-Repertoire um vier spektakulär virtuose Adaptionen erweitert. Herz- und Lieblingsstück des neuen Albums ist Eduard Steuermanns rätselschillernde Klaviertriofassung von Schönbergs »Verklärter Nacht« von 1932. Hinreißend musikantisch, verblüffend homogen und absolut stilsicher auch die Darbietung der Hits von Debussy, Dukas und Ravel. Für die Jury: Eleonore Büning

Tasteninstrumente

The Visionaries of Piano Music

Werke von William Byrd & John Bull. Kit Armstrong. 2 CDs, Deutsche Grammophon 486 0583 (Universal)

Kit Armstrong – Pianist, Dirigent, Komponist, Mathematiker und vielsprachiger Universalgelehrter – stellt auf seiner Debüt-CD für die Deutsche Grammophon zwei »Visionäre der Klaviermusik« vor: William Byrd und John Bull. Und er offenbart, welch hinreißend schöne Musik diese beiden Meister des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, Zeitgenossen William Shakespeares, geschaffen haben. Ausgeklügelte Kontrapunktik, vielfältigste Variationskunst, virtuose Fantasie, wunderbare Kantabilität und vor allem höchste Emotionalität zeichnen diesen musikalischen Schatz ebenso aus wie Kit Armstrongs Interpretationen. Drei Visionäre unter sich. Für die Jury: Gregor Willmes

Tasteninstrumente

Johann Sebastian Bach: Die Kunst der Fuge BWV 1080

Samuel Kummer. 2 SACDs, Aeolus AE-11291 (Note 1)

Naumburg, St. Wenzel: Hier, an der wunderbaren, 1746 von Zacharias Hildebrandt erbauten Orgel löst Samuel Kummer, packend und farbenreich musizierend, mit der »Kunst der Fuge« grandios ein, was Frescobaldi im Vorwort der »Fiori musicali« gefordert hatte: »Ich erachte es für sehr wichtig, dass die Organisten aus der Partitur spielen können; nicht nur für diejenigen, die das Bedürfnis verspüren, sich mit solchen Kompositionen ernsthaft abzumühen – sondern notwendigerweise dient diese Materie als klare Abgrenzung dafür, die wahren Virtuosen zu kennzeichnen und sie von den Ignoranten zu unterscheiden.« Ein Erlebnis der besonderen Art. Für die Jury: Martin Hoffmann

Oper

Ludwig van Beethoven: Fidelio

Christian Elsner, Lise Davidsen, Georg Zeppenfeld, Christina Landshamer, Cornel Frey, Johannes Martin Kränzle, Günther Groissböck, Aaron Pegram, Chao Deng, Sächsischer Staatsopernchor Dresden, Dresdner Philharmonie, Marek Janowski. 2 SACDs, Pentatone PTC 5186 880 (Naxos)

»Ich habe Mut!« – das gilt nicht nur für die strahlende Lise Davidsen als Leonore dieser Fidelio-Aufnahme. Als die eigentlich für den Sommer 2020 geplanten Live-Konzerte in Dresdens neuem Kulturpalast den Corona-Maßnahmen zum Opfer fielen, entschloss sich Chefdirigent Marek Janowski, Beethovens Oper mit der dafür engagierten Besetzung unter Studio- und Abstandsbedingungen einzuspielen – und die Chöre später zuzumischen. Entstanden ist im Konzertsaal des Hauses eine makellos runde Interpretation mit führenden deutschen und deutschsprachigen Vertretern aller Partien, der Janowski mit der ihm eigenen Stringenz und Klarheit packenden dramatischen Atem verleiht. Für die Jury: Michael Stallknecht

Oper

Erich Wolfgang Korngold: Die tote Stadt

Jonas Kaufmann, Marlis Petersen, Andrzej Filończyk, Jennifer Johnston, Mirjam Mesak, Corinna Scheurle, Manuel Günther, Dean Power, Bayerisches Staatsorchester, Kirill Petrenko, Regie: Simon Stone. 2 DVDs/Blu-ray, Bayerische Staatsoper Recordings BSOREC1001/2001 (Naxos)

Kirill Petrenko und das Bayerische Staatsorchester überhöhen die schwüle Musik von Erich Wolfgang Korngolds »Die tote Stadt« ins Ätherische: Was 1920 in Hamburg und Köln erstmals aus dem Graben tönte, klingt in dieser Aufführung vom November 2019 mehr nach Franz Schreker als nach Franz Lehàr. Der Regisseur Simon Stone hat die Geschichte ins Hier und Heute verlegt: Alles konzentriert sich auf die im Traum geleistete Trauerarbeit nach dem Verlust der großen, idealisierten Liebe. Marlis Petersen übertrifft sich selbst als singende Schauspielerin, Jonas Kaufmann gibt den von seinen Gefühlen überforderten Fertighausbesitzer. Für die Jury: Robert Braunmüller

Chor und Vokalensemble

Arvo Pärt: Passio

The Passion of Our Lord Jesus Christ According to John. Sampo Haapaniemi, Martti Anttila, Linnéa Sundfær Casserly, Sirkku Rintamäki, Mats Lillhannus, Jussi Linnanmäki, Helsinki Chamber Choir, Nils Schweckendiek. SACD, BIS Records BIS-2612 (Klassik Center)

Oft hat der zutiefst religiöse Komponist Arvo Pärt das große Gloria und das noch größere Halleluja angestimmt, manchmal lacht er mit seiner Musik still in seinen prächtigen Kirchenvaterbart hinein. Doch in der »Passio« aus dem Jahr 1982 ist an positive Emotionen nicht zu denken, diese Version der Johannespassion kommt einer Bußübung in winziger Besetzung gleich, der Schluss aber strahlt in herrlichstem D-Dur. Die finnische Neuaufnahme mit großartigen Solisten, einem erlesenen Kammermusikensemble und dem Helsinki Chamber Choir unter Nils Schweckendiek überwältigt durch ihre Intensität, ihre innere Ruhe und ihr Timing. Für die Jury: Wolfram Goertz

Klassisches Lied und Vokalrecital

Robert Schumann: Alle Lieder

Christian Gerhaher, Gerold Huber; mit Sibylla Rubens, Camilla Tilling, Wiebke Lehmkuhl, Christina Landshamer, Martin Mitterrutzner, Julia Kleiter, Anett Fritsch, James Cheung. 11 CDs, Sony Classical 19439780112

Kein klingendes Schumann-Archiv wollten Christian Gerhaher und Gerold Huber anlegen, sondern das spezifische Gewicht jener 297 Miniaturen für Solo-Stimme(n) erfassen, die das Wesen des Komponisten ausmachen. Was diese Aufnahmen – von »Dichterliebe« (2004) und »Liederkreis« op. 39 (2007) bis zu den »Spanischen Liebesliedern« op. 138 (2020) – bieten, übertrifft die kühnsten Erwartungen: Klangfülle, Eloquenz, Farbensinn, feinstes Gespür für Subtexte, begeisternde Versenkung in ein zyklisch aufgefächertes, in zwei Schüben (1840-41, 1849-52) explodiertes Œuvre. Alles live, mit Gleichgesinnten erprobt. Der Bariton und sein Klavierpartner sind mit dieser Großtat zum Maß aller Schumann-Lieder-Dinge geworden. Für die Jury: Albrecht Thiemann

Alte Musik

Enigma Fortuna

Antonio Zacara da Teramo: Sämtliche Werke. Francesca Cassinari, Alena Dantcheva, Gianluca Ferrarini, La Fonte Musica, Michele Pasotti. 4 CDs, Alpha Classics ALPHA 640 (Note 1)

So rätselhaft wie das Leben des um 1400 am päpstlichen Hof wirkenden Antonio Zacara da Teramo ist auch seine Musik. Mit ihren faszinierend fremdartigen Klängen, ihrer intrikaten Polyphonie und komplexen Rhythmik verkörpern die zahlreichen Mess-Sätze die Avantgarde jener Zeit, während die Texte der weltlichen Lieder oft ans Bizarre, Verrückte grenzen. Unter der Leitung von Michele Pasotti singt und spielt das Ensemble La Fonte Musica mit einer Begeisterung, die an Fanatismus grenzt. Das macht die Entdeckung dieses bislang weitgehend unbekannten Komponisten und seines Gesamtwerks zu einem außergewöhnlichen, geradezu aufregenden Erlebnis. Für die Jury: Uwe Schweikert

Zeitgenössische Musik

Clara Iannotta: Moult

... paw-marks in wet cement (ii), Troglodyte Angels Clank By, dead wasps in the jam-jar (ii). WDR Sinfonieorchester, Münchener Kammerorchester, Klangforum Wien, L’Instant Donné, Wilhelm Latchoumia, Aurélian Azan-Zielinski, Michael Wendeberg, Enno Poppe, Clemens Schuldt. Kairos 0018004 KAI (Note 1)

Sie riskiert alles, kennt weder Kompromisse noch Routine, experimentiert unermüdlich, sinnlich. Für Clara Iannotta ist die Ergründung von Klang und geräuschhafter Klangaktion eine existenzielle Frage. Mit dieser Haltung zählt die 1983 in Rom geborene, in Berlin lebende Komponistin zu den führenden Stimmen ihrer Generation, was diese Werkschau exemplarisch einfängt. Das gilt nicht nur für Spezialensembles wie das Klangforum Wien oder L’Instant Donné, sondern auch für das WDR Sinfonieorchester und das verdienstvolle Münchener Kammerorchester. Sie interpretieren Iannottas Musik wohltuend direkt, kein bisschen distanziert. Für die Jury: Egbert Tholl

Historische Aufnahmen

Otto Klemperer conducts the Concertgebouw Orchestra

Legendary Amsterdam Concerts 1947-1961 Live. Annie Fischer, Johanna Martzy, Kathleen Ferrier, Maria Stader, Elisabeth Schwarzkopf, Heinz Rehfuss, Jan Bresser, William Primrose, Hans Henkemans, Hubert Barwahser, Willem Andriessen, Gre Brouwenstijn u.a. 24 SACDs, archiphon 699026 (Direktvertrieb)

Der Nachruhm Otto Klemperers gründet vor allem auf seiner umfangreichen Diskographie für EMI. Die erstmalige Veröffentlichung aller zwischen 1947 und 1961 entstandenen Rundfunk-Mitschnitte mit dem Concertgebouw Orchester Amsterdam schärft markant das Profil des Dirigenten. Wir erleben einen musikalisch entfesselten Musiker, wie man ihn in dieser Ausprägung von seinen Studioaufnahmen her nicht kennt. Die Edition ist mit einem reich bebilderten Begleitbuch ausgestattet, das hintergründig über Klemperers Karriere und die Restaurierung der raren Tondokumente informiert. Das Remastering ist exzellent. Für die Jury: Norbert Hornig

Grenzgänge

Michael Mantler: Coda

Orchestra Suites. Janus Ensemble Wien, Christoph Cech. ECM 2697 (Universal)

Nicht vielen Österreichern ist es vergönnt, in der amerikanischen Jazz-Szene Fuß zu fassen. Michael Mantler, Trompeter und Komponist, ist einer davon. 1962 in die USA übergesiedelt, hob er mit Carla Bley das Jazz Composer’s Orchestra aus der Taufe. Das vorliegende Album präsentiert den heute Achtundsiebzigjährigen als einen Grenzgänger, der sich vom Free Jazz abgewandt und ein avanciertes Jazz-Vokabular mit den Mitteln der neuen Musik verbunden hat: In düsteren Orchesterwerken, dirigiert von Christoph Cech, treffen aufgepeitschte Dissonanzen auf tonale Inseln, knackige Streicherrhythmen auf abstrakte Soli, süße Holzbläser auf eine herbe E-Gitarre. Für die Jury: Christoph Irrgeher

Jazz

Roy Hargrove & Mulgrew Miller: In Harmony

2 CDs/2 LPs, Resonance Records HCD-2060 (harmonia mundi)

Die Mitschnitte zweier Konzerte, 2006 in der Merkin Hall in New York City und 2007 am Lafayette College in Easton, Pennsylvania, erinnern posthum an zwei Musiker, die an der Grenze, den Übergängen zwischen später Jazz-Klassik und früher Jazz-Moderne unterwegs waren. Der spielfreudige Dialog zwischen Trompete und Piano entspringt dem Blues, dessen Folk-Grundierung für Roy Hargrove das Wesentliche ist. Die Klassiker des Great American Songbook verwandelt er mit Marcus Miller in Volksmusik im besten Blues-Sinne. Lässig, elegant swingend, zeitlos. Mitreißend die Atmosphäre. Ein hoch informatives Booklet mit Interviews und Statements von Zeitgenossen sowie vielen Fotos gibt es als Zugabe. Für die Jury: Lothar Jänichen

Jazz

Kenny Garrett: Sounds From The Ancestors

CD/2 LPs, Mack Avenue MAC1180 (in-akustik)

Es ist nicht seine erste Hommage an die Altvorderen, aber keine war komplexer, diverser. Den Spirit von Marvin Gaye, Aretha Franklin, von Coltrane, Miles und Art Blakey aufscheinen zu lassen, ohne ein Patchwork abzuliefern, das macht die Kreativität Kenny Garretts aus. In den Spiritual-Jazz-Gebeten des Altsaxophonisten verbinden sich Soul, Funk, HipHop und Post Bop mit afrikanischen und karibischen Ingredienzien. Ronald Bruner ist ein Propeller an den Drums, wobei Garretts Spiel schon selbst perkussiv wirkt. Eher beiläufig klingt Coltranes Hymne »A Love Supreme« an. Wenn Pedrito Martinez und Dwight Trible im Titelstück mit ihren Shouts Garretts Horn flankieren, brodelt es kurz vor dem Siedepunkt. Für die Jury: Guenter Hottmann

Weltmusik

Pulcinella & Maria Mazzotta: Grifone

CD/DL, Pulcinellamusic PULCI 007 (L’Autre Distribution)

Die Produktion steht für einen kreativen Austausch mediterraner Kulturen: Maria Mazzotta, die leuchtende Stimme aus dem italienischen Salento, trifft auf die Folk-Jazz-Freigeister Pulcinella aus dem französischen Toulouse. Das große Gemeinsame zwischen Mazzotta und dem Quartett ist die Improvisation. Folk und Jazz leben durch schöpferische Re-Interpretation, nicht durch imitierende Repetition. Sängerin wie Instrumentalisten bringen die Melodien – das Repertoire reicht vom Piaf-Chanson bis zum italienischen Wiegenlied – zum Strahlen. Stolz auf die Herkunft der Lieder, technisch grandios, frei im Ausdruck. Für die Jury: Jodok W. Kobelt

Traditionelle Ethnische Musik

Kudsi Erguner & Lâmekân Ensemble: Fragments Des Cérémonies Soufies

L’Invitation à L’Extase. Seyir Muzik 2GN013 (Galileo)

»Musik hat die Kraft, den Glauben zu stärken«, sagte Al Ghazali, einer der einflussreichsten Denker des Islam. Die Sufi-Bruderschaften versetzen sich durch Gesang und Tanz in einen Zustand der Ekstase, um mit Gott eins zu werden. Kudsi Erguner, der bekannte Virtuose auf der türkischen Ney-Flöte, präsentiert zusammen mit dem Lâmekân-Ensemble rituelle Gesänge des Mevlevi-Ordens, der sich auf den persischen Mystiker Dschalal ad-Din ar-Rumi beruft und seit dem 13. Jahrhundert besteht: meditative Klänge, die auf den klassischen Maqam-Skalen des Orients beruhen. Instrumentale Improvisationen auf Ney, arabischer Laute und Violine, sonore Perkussion, sanfter Gesang und poetisch-spirituelle Texte. Für die Jury: Tom Daun

Liedermacher

Folkländer: So viele Wege Vol.1

Löwenzahn Verlag HD20218 (Galileo)

Was sofort auffällt, ist etwas, das fehlt – Jürgen B. Wolffs einfühlsame Nachdichtung des Furey-Songs »So viele Wege«. Da der neuen Folkländer-CD eine weitere folgen soll, wird man ihn wohl erst auf Vol. 2 genießen können. Spezialität der Formation ist seit jeher, traditionelles und eigenes Material taufrisch zu präsentieren. Aus der Zusammenstellung der Lieder ergibt sich mancher Denkanstoß, alles ist angereichert mit Humor, Ironie und Satire. Die in Leipzig gegründete Band musiziert seit mehr als vier Jahrzehnten in unterschiedlichen Besetzungen, doch: »solang wir noch Folksongs spieln, solang sind wir jung.« Für die Jury: Kai Engelke

Folk und Singer/Songwriter

Florian Schneider: Hals an Hals & Bein an Bein: Schangsongs

Eigenverlag 7640172463871 (Direktvertrieb)

Florian Schneider ist ein Schweizer Liedermacher, der aber zum Glück für das norddeutsch gestimmte Ohr ein südlich geprägtes Schriftdeutsch singt. Seine Lieder und sein Vortrag wirken wie total aus der Zeit gefallen – eine Erinnerung an längst versunkene Tage, in denen Leute wie er noch über Land zogen und Bänkelsänger genannt wurden. Aber es ist nichts Altmodisches an seinen Liebes- und Reiseliedern, Balladen und Moritaten. Vieles davon schreibt er selbst, übersetzt aber auch gern die Sachen berühmter Kollegen und beeindruckt besonders mit blutrünstigen Bänkelgesängen, die nicht einmal Helmut Qualtinger gruseliger hingekriegt hätte. Für die Jury: Gabriele Haefs

Club und Dance

Joy Orbison: Still Slipping Vol. 1

CD/LP, XL Recordings XL1188 (Indigo)

Seit über einem Jahrzehnt ist Joy Orbison, bürgerlich Peter O’Grady, eine feste Größe als DJ und Produzent. Ein Album aber hatte der Brite bis jetzt noch nicht veröffentlicht. Das hat er mit »Still Slipping Vol. 1« nun nachgeholt. Es mutet wie ein Mixtape an, die 14 Tracks werden von Gesprächsfetzen aus seiner Familie zusammengehalten. Die Nummern kennzeichnet eine introvertierte Sanftheit, alles rundet sich zu einem emotionalen Ganzen, trotz des heterogenen Materials: Orbison zitiert von Bass über Breakbeat bis Garage House die für ihn typische Palette elektronischer Musik aus UK. Eigensinnig und gekonnt. Für die Jury: Cristina Plett

Electronic und Experimental

J. Peter Schwalm & Markus Reuter: Aufbruch

CD/LP, Rare Noise Records RNR129 (Cargo)

»Es fühlt sich an wie eine dystopische Zukunft, in der die industrialisierte Stadtlandschaft der Vergangenheit begonnen hat, mit Grün zu überwuchern«: So beschreibt J. Peter Schwalm, Spezialist für elektroakustische Komposition, seine erste Kollaboration mit dem Gitarristen Markus Reuter. Der Aufbruch, den der Titel ankündigt: Er liegt noch vor uns. Erst muss einiges aufgebrochen werden. Das Album beginnt mit harten, kalten, schroffen Tonschichten. Erst gegen Ende erwachsen in Form malerischer Vocals der Sängerin Sophie Tassignon organische Hoffnungsmomente aus den maschinellen Soundscapes. Faszinierende Klangkunst! Für die Jury: Guido Halfmann

Blues

Tedeschi Trucks »Band« feat. Trey Anastasio: Layla Revisited

(Live at Lockn’). 2 CDs/3 LPs, Fantasy FAN01224 (Universal)

Um ein geschichtsträchtiges Album wie »Layla & Other Assorted Love Songs« (1970) unter Beibehaltung der Song-Folge neu einzuspielen, braucht es Mut. Susan Tedeschi und Derek Trucks brachten ihn auf, ihnen gelang ein absolut überzeugender Spagat. Einerseits sollte das Erbe nicht verfälscht oder verfremdet werden, andererseits gaben sie sich mit einer reinen Reproduktion der Stücke um den Klassiker »Layla« nicht zufrieden. Hier wurde genau die richtige Mitte gefunden, bei der (ja entscheidenden) Gitarrenarbeit wie beim Gesang. Natürlich spukt im Kopf Eric Clapton’s Original herum, dennoch ist »Layla Revisited« ein überragendes Album der Tedeschi Trucks Band. Für die Jury: Karl Leitner

R&B, Soul und Hip-Hop

Nas: King’s Disease II

Digital, Mass Appeal NASMAII2021 (Membran)

Nas, prägende Figur der »golden« gerufenen 1990er-Jahre, ist nicht einfach auch noch da. In einem Biotop, das von Plattform-Eintagsfliegen und Mumble-Rappern bevölkert ist, hat er ein Album angesiedelt, das sich selbst hinter dem breiten Rücken seiner Debüt-Produktion »Illmatic« nicht dünn macht. Fein ziselierte Rap-Poesie trifft auf opernhafte »Sounds of Blackness«, von Hit-Boy stilsicher produziert. Nas, der derzeit eine Masterclass betreut, kommt auf »King’s Disease II« ganz ohne Früher-war-alles-besser-Nostalgie aus. Wie eine Eiche steht er da, an der sich die jungen Nuschelnden so richtig reiben können. Für die Jury: Torsten Fuchs

Wortkunst

Molière – Die große Hörspiel Edition

Der Bürger als Edelmann, Tartuffe, Don Juan, Die Schule der Frauen, Der eingebildete Kranke, Der Menschenfeind, Der Geizige. Bernhard Minetti, Will Quadflieg, Maria Becker, Hans Korte, Rosemarie Fendel u.a., Regie: Gert Westphal, Wilhelm Semmelroth, Leopold Lindtberg, Musik: Peter Zwetkoff, Winfried Zillig. 8 CDs, der Hörverlag ISBN 978-3-8445-4308-7

Molières Komödien überzeugen durch Scharfzüngigkeit und elegante Dialoge. Die »Große Hörspiel-Edition« versammelt sieben der bekanntesten seiner Stücke. Inszeniert wurden sie von den ARD-Rundfunkanstalten seit den 1950er-Jahren bis 1980. Regisseure wie Wilhelm Semmelroth und Gert Westphal schufen Hörstücke, die auch und vor allem durch das großartige Engagement brillanter Schauspieler und Schauspielerinnen wie Elisabeth Flickenschild, Bernhard Minetti, Rosemarie Fendel, Hans Korte und vieler anderer auch heute noch mitreißen. Ein ausführliches, gut gestaltetes Booklet rundet diese ausgezeichnete Box ab. Für die Jury: Dorothee Meyer-Kahrweg

Kinder- und Jugendaufnahmen

Dita Zipfel: Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte

Alexandra Ostapenko. 4 CDs, derDiwan Hörbuchverlag ISBN 978-3-941009-80-6

Die 13-jährige Lucie möchte nur noch weg von Mama und ihrem Alles-Versteher-Freund Michi, weg vom Bruder, der mit unguten Typen abhängt, weg von Jessie und ihrer Mobbing-Clique. Dann gerät sie an den verrückten Herrn Klinge mit seiner seltsamen Abneigung gegen Mädchen und seinem Gemüsefetischismus. Und wird seine Kochbuch-Ghostwriterin, lernt allerhand über Ghulaugen (Erbsen), Drachenherzen (Tomaten), Nixenhirne (Himbeeren). Am Ende findet sie sogar ihren wahren Namen. Ein starkes Stück Kinderliteratur über Anderssein, den eigenen Weg, schräg und hochphilosophisch. In allen Facetten grandios gelesen von Alexandra Ostapenko – frech, widerborstig, zärtlich, suchend, sich behauptend. Chapeau! Für die Jury: Juliane Spatz

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