Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

NEU: Longlist 2/2024, veröffentlicht am 5. April 2024

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Beethoven / Isabelle Faust, Berliner Philharmoniker, Bernard Haitink

Ludwig van Beethoven: Violinkonzert op.61 D-Dur & Symphonie Nr. 6 op.68 F-Dur (Pastorale). Isabelle Faust, Berliner Philharmoniker, Bernard Haitink. Blu-ray EuroArts 2061294 (Warner)

In dieser Konzertverfilmung treffen zwei sehr unterschiedliche Künstlerpersönlichkeiten zusammen: Die Solistin Isabelle Faust spielt auf ihrer Dornröschen-Stradivari den Solopart, der um dreiundvierzig Jahre ältere Bernard Haitink leitet die Berliner Philharmoniker. Das Ergebnis ist nicht pure Harmonie. Während Faust das Stück aus der historischen Perspektive des achtzehnten Jahrhunderts beleuchtet, auf Klarheit und Struktur setzt, findet Haitink mit dem Luxus-Sound der Berliner Philharmoniker einen eher konträren, in der romantischen Tradition stehenden Zugang. Dieser Widerspruch erzeugt Spannung auf höchstem Niveau. In Beethovens Pastoralsymphonie ist Haitink ganz in seinem Element: Schöner kann Natur nicht klingen. Für die Jury: Bernhard Hartmann

Orchestermusik und Konzerte

Marie Jaëll: Musique symphonique, Musique pour piano

David Bismuth, Xavier Phillips, Dana Ciocarlie, Romain Descharmes, Chantal Santon-Jeffery, Nicolas Stavy, Lidija & Sanja Bizjak, David Violi, Brussels Philharmonic, Orchestre National de Lille, Hervé Niquet, Joseph Swensen. 3 CDs Ediciones Singulares ES1022 (Note 1)

Es war längst an der Zeit, dass Marie Jaëll mehr Beachtung findet. Sie war, als Schülerin von Henri Herz und Franz Liszt, nicht nur eine bedeutende Pianistin und Pädagogin, sondern auch eine höchst spannende und eigenständige Komponistin. Camille Saint-Saëns widmete ihr sein erstes Klavierkonzert. Ihre eignen beiden Klavierkonzerte sowie das Konzert für Violoncello Jaëlls, hier engagiert und überzeugend gespielt, sind gleichermaßen deutschen wie französischen Vorbildern verpflichtet: Große Formen mit vielen originellen Wendungen, gerade auch im Orchester, virtuos und effektvoll. Vorbildlich das, wie stets bei dieser Bru Zanes Portrait-Reihe, bibliophil gestaltete Begleitbuch. Für die Jury: Michael Stegemann

Orchestermusik und Konzerte

Mendelssohn: Symphonien Nr. 3 & 4 / Pablo Heras-Casado

Felix Mendelssohn Bartholdy: Symphonien Nr.3 op.56 a-Moll (Schottische) & Nr.4 op.90 A-Dur (Italienische). Freiburger Barockorchester, Pablo Heras-Casado. harmonia mundi HMC 902 228

Dramatisch-viril, nicht klassizistisch geordnet geht Heras-Casado seine Darstellung der beiden großen Mendelssohnschen Symphonien an. Dabei überschreitet er die Abgrenzung gegenüber beschaulicher Gelassenheit durchaus, auch bindet er den musikalischen Gesamtverlauf in einen hinreißenden Klangfluss ein, der imprägniert ist von den historisch inspirierten Orchesterfarben der Freiburger. Was für eine Musik tut sich dadurch auf! Zwei Geniestreiche sind zu bewundern! Es wäre nicht auszudenken, wenn diese beiden Symphonien heute nicht zum Kanon gehörten, nicht gespielt würden oder vielmehr nicht gespielt werden dürften, wie es in der deutschen Geschichte schon einmal der Fall gewesen war. Für die Jury: Hanspeter Krellmann

Kammermusik

Debussy: Kammermusik / Kuijken Ensemble

Claude Debussy: Streichquartett op.10 L 85, Sonate für Violoncello L 135, Syrinx für Flöte solo L 129, Sonate für Flöte, Viola & Harfe L 137, Sonate für Violine & Klavier L 140. Kuijken Ensemble. Arcana A 392 (Outhere/Note 1)

Es gibt nur wenige Beiträge Claude Debussys zur Kammermusik, doch sind sie, jeder für sich, um so gewichtiger. In dem inspiriert musizierenden Familienverband der Kuijkens hat diese Musik nun die richtigen Anwälte gefunden. Nichts zerfließt hier ins Ungewisse! Ob es sich um das scheinbar unberechenbare Spiel mit den doch so sorgfältig ausgesuchten Klangfarben handelt, ob um die Poesie des Rhythmus oder um oszillierende Klänge, zart aufgebaute Spannungen oder in sich kreisende Melismen: Definiert wird ein musikalischer Impressionismus, und zwar auf betörend dezente, aber umso nachdrücklichere Weise. Für die Jury: Ingeborg Allihn

Tasteninstrumente

Domenico Scarlatti: 18 Sonaten

Yevgeny Sudbin. SACD BIS-2138 (Klassik Center)

Es gibt sie noch, die intelligenten Virtuosen, die weiterdenken und es nicht bei technischen Show-Acts belassen: Yevgeny Sudbin, Wahlbrite aus Petersburg, zählt zu dieser raren Spezies. Er spielt Scarlattis Essercizi auf einem modernen Steinway, ohne historische Klangbilder zu imitieren. Er benutzt ihn vielmehr als Schlüssel zur geistigen und emotionalen Substanz dieser unheimlich gehaltvollen Miniaturen. Man mag es romantisch nennen, aber so löst er sie aus ihrem barocken Korsett, enthüllt ihre inneren Klangwelten und weist Scarlatti nicht nur als einen Pionier der Klassik aus, sondern fast als den Urvater des romantischen Charakterstücks: Die Gedankenbrücke führt bis zu den Préludes Chopins. Für die Jury: Attila Csampai

Tasteninstrumente

Widor: Master of the Organ Symphony

Charles-Marie Widor: Orgelsymphonien Nr.5 & 6, Méditation aus der Orgelsymphonie Nr.1, Prélude & Finale aus der Orgelsymphonie Nr.3, Adagio aus der Orgelsymphonie Nr.2, Choral & Finale aus der Orgelsymphonie Nr.7. Gerard Brooks, Daniel Roth, John R. Near, Anne-Isabelle de Parceveaux. 2 CDs, 2 DVDs Fugue State Films FSF DVD 010 (Naxos)

Das Orgelschaffen von Charles-Marie Widor steht im Mittelpunkt dieser in Bild und Ton makellosen Produktion. Namhafte Orgel-Virtuosen und Widor-Experten porträtieren und interpretieren diese faszinierende Musikerpersönlichkeit, unter ihnen Widors Schüler und dritter Amtsnachfolger in Saint Sulpice, Daniel Roth, sowie Widor-Biograph John R. Near. An Originalinstrumenten von Aristide Cavaillé-Coll spielt Gerard Brooks die zentralen Orgelsymphonien Nr.5 und 6 elegant und stilsicher, weitere Einzelsätze steuern Roth und andere bei. Die spannendsten Momente entstehen, wenn Roth und Near an Widors Spieltisch in Saint-Sulpice den Wundern seiner Musik im Dialog nachfühlen: Tiefer Respekt und Faszination sind da unmittelbar zu spüren. Für die Jury: Friedrich Sprondel

Oper

Claude Vivier: Kopernikus

Svea Schildknecht, Dorothea Winkel, Uta Buchheister, Barbara Ostertag, Neal Banerjee, Ji-Su Park, Florian Kontschak, Opera Factory Freiburg, Holst-Sinfonietta, Klaus Simon. bastille musique bm001,

Als der kanadische Komponist und Stockhausen-Schüler Claude Vivier 1983 in Paris ermordet wurde, stand er am Beginn einer internationalen Karriere. Immer noch ist sein Werk nur spärlich erschlossen. In »Kopernikus«, Viviers einziger Oper, stehen die Stimmen im Zentrum, die Komposition spielt an auf die Madrigalkunst des achtzehnten Jahrhunderts. Dieser Erstaufnahme des Stückes durch die Opera Factory Freiburg ging eine Aufführungsserie voran, so holt sie die dramatische Intensität einer Live-Aufführung ins Studio. Bemerkenswert die spartanisch schöne Pappbox des jungen Berliner Labels bastille musique, die mehrere Beilagen enthält, darunter ein Faltblatt mit Fotos der Aufführung. Für die Jury: Robert Braunmüller

Klassisches Lied und Vokalrecital

Henze: Being Beauteous, Kammermusik 1958

Hans Werner Henze: Being Beauteous, Kammermusik 1958. Anna Prohaska, Peter Gijsbertsen, NDR Sinfonieorchester, Peter Ruzicka. Wergo WER 73342 (New Arts International)

Pünktlich zum neunzigsten Geburtstag von Hans Werner Henze hat die hinreißend ausdrucksstarke und idiomatisch präzise Sopranistin Anna Prohaska gemeinsam mit Peter Ruzicka und dem NDR Sinfonieorchester diese mustergültige Referenzaufnahme der Kantate »Being Beauteous« vorgelegt. Zugrunde liegen der emphatischen Komposition von 1963, die kurze Koloraturarien in Variationen von Instrumentalquintetten einfasst, Verse von Arthur Rimbaud. Klarheit der Klangstrukturen zeichnet diese Einspielung aus, sie wird ergänzt durch Henzes »Kammermusik 1958« nach Hölderlin, und auch hier überzeugt Ruzicka, selbst Komponist, einmal mehr als Dirigent. Für die Jury: Christian Kröber

Alte Musik

JS Bach: Sonaten für Violine & Cembalo / Leila Schayegh

Johann Sebastian Bach: Sonaten für Violine und Cembalo BWV 1014-1019. Leila Schayegh, Jörg Halubek. Glossa GCD 923507 (Note 1)

In ihrer Darbietung dieser sechs Triosonaten für Cembalo und Violine von Johann Sebastian Bach gehen Jörg Halubek und Leila Schayegh von der Tonartencharakteristik aus, so, wie sie der Musiktheoretiker und Komponist Johann Mattheson anno 1713 in seiner Schrift »Das neu-eröffnete Orchestre« erörtert hatte. Die Matthesonsche ist zwar nur eine von mehreren möglichen Deutungen dieses heiklen Themas, passt aber im Wesentlichen gut zu dieser Musik. Darüber hinaus überzeugen die beiden Interpreten mit makelloser Spieltechnik, einer besonnenen Tempowahl, aber auch mit ihrer geschmackvollen Verzierungspraxis. Für die Jury: Matthias Hengelbrock

Zeitgenössische Musik

Clara Iannotta: A Failed Entertainment. Werke 2009-2014

Quatuor Diotima, Trio Catch, Ensemble InterContemporain, Talea Ensemble, Ensemble Garage, Ensemble Recherche, Orchestre des Élèves du Conservatoire National Supérieur de Paris, Matthias Pintscher, Tito Ceccherini. Edition RZ 10023 DAAD/parallele 23 (www.edition-rz.de)

Sieben verschiedene Ensemblestücke aus der Feder der jungen römischen Komponistin Clara Iannotta, vom Streichquartett bis zum Trio für Klarinette, Cello und Klavier, mit zwölf Spieluhren: Da werden Ereignisräume aufgespannt! Deren innere Weiten erscheinen belebt von Schallfäden, metallischen klingenden Chimären, Echobildern, enigmatischem Glockenspiel und von nie gehörten, hochfein nuancierten Geräuschen. Huschen, Pochen, Summen, Lauern, Beben – und immer wieder regt sich die Präsenz von etwas nicht Benennbarem. Hochkompetente Interpreten realisieren Exempel einer musikalischen Fantasie, die, ob mit markanten Gesten, weich gezeichnet oder erstickend am Rande der Stille, nachdrücklich belegt, dass Uhren die Zeit nicht messen. Für die Jury: Helmut Rohm

Historische Aufnahmen

The Mono Era 1948-1957

Diverse Werke, diverse Interpreten. 51 CDs, Deutsche Grammophon DG 479 5516 (Universal)

Dokumentiert wird der Aufbruch der Tonträgerbranche in den späten Vierzigern, einer Zeit des Abschieds von der Schellackplatte wie auch der des Übergangs zur Stereoaufnahme. Auch ging es um die Schaffung eines nachhaltigen Katalogs. Interessant die Einblicke ins damalige Repertoire: Hindemith dirigierte Hindemith, Böhm dirigierte auch Reger, die Tschechische Philharmonie spielte auch die Zehnte von Schostakowitsch. Einige Interpreten sind schon länger mit dem Gelblabel verbunden (Kempff), andere kehrten zurück (Furtwängler), und zu den Hausdirigenten (Leitner, Lehmann) tritt die nachgewachsene Generation aus Ost und West (Fricsay, Maazel). Ganz hervorragend das Smetana-Janáček-Recital des Janáček-Quartetts. Ja, es macht Spaß, sich vor diesem historischen Hintergrund durch die Edition zu wühlen! Für die Jury: Stephan Bultmann

Grenzgänge

Tord Gustavsen: What was said

Tord Gustavsen, Simin Tander, Jarle Vespestad: What was said. ECM 4758697 (Universal)

Mit einer Musizierhaltung, die schlichter Andacht gleicht, aber auch den Finessen jeden Klanges nachspürt, knüpft der norwegische Pianist Tord Gustavsen im Verein mit der deutsch-afghanischen Sängerin Simin Tander und dem Schlagzeuger Jarle Vespestad erstaunliche starke Fäden zwischen den teils weit voneinander entfernten Topoi menschlichen Glaubens und menschlicher Weltsicht. Unangestrengt und hochkonzentriert zugleich gelingen ungeahnte Verknüpfungen, so spiegelt sich etwa der Gestus skandinavischer Sakralmusik in den Offenbarungen der Sufi-Lyrik und umgekehrt. Dieser ebenso respektvolle wie aktuelle Umgang des neuen Gustavsen-Trios mit Traditionen findet unmittelbar den Weg in die Hörerherzen. Für die Jury: Bert Noglik

Musikfilm

Robert Trujillo Presents: Jaco

Jaco Pastorius. Featuring Sting, Flea, Bootsy Collins, Joni Mitchell, Carlos Santana, Wayne Shorter, Peter Eskine, Herbie Hancock. 2 DVDs Iron Horse JP1002 (Galileo MC)

Er war der Jimi Hendrix des E-Basses: Jaco Pastorius revolutionierte das Spiel auf dem bundlosen Tieftöner. Dass Robert Trujillo, Bassist der Rockband Metallica, ihm diese mit viel Aufwand recherchierte Dokumentation widmet, ist Indiz genug für Jacos Einfluss auch jenseits des Jazz. Trujillo verarbeitete Interviews mit Kollegen, Freunden und Verwandten des Musikers sowie Bildmaterial von Live-Videos bis hin zu privaten Super-8-Filmen zu einem berührenden Filmporträt. Es zeigt den phänomenalen Aufstieg und triumphalen Erfolg eines großen Musikers, ohne dessen persönliche Probleme, den elenden Abstieg und sein tragisches Ende zu beschönigen. Jede Menge Bonusmaterial rundet diese bemerkenswerte Musikdokumentation ab. Für die Jury: Berthold Klostermann

Jazz

Matthias Nadolny, Bob Degen: You’re My Everything

Klaeng-records 013 (www.klaengrecords.de)

Zwei Musiker pflegen die Kunst des Duos: Schon seit den siebziger Jahren sind Matthias Nadolny und Bob Degen kontinuierlich in der deutschen Jazzszene tätig. Elf Stücke aus dem Great American Songbook dienen ihnen hier als Ausgangspunkt für berückende, emotional dichte Improvisationen. Lyrisch, aber akzentuiert das Pianospiel von Degen, der, als Amerikaner in Frankfurt lebend, nach zahlreichen Duo-Produktionen mittlerweile der ideale Partner für Nadolny aus Dortmund geworden ist. Im Ansatz beseelt bis rauchig klingt dessen Tenorsaxophon, er kultiviert einen warmen, voluminösen Ton. So ist ein Balladenalbum voller Spielfreude entstanden, dem man entspannt und froh lauschen kann. Für die Jury: Lothar Jänichen

Jazz

Angelika Niescier, Florian Weber: NYC Five

Intakt Records CD 263 (harmonia mundi)

Alles scheint in einer Scheune angefangen zu haben. Ohne Umwege kann Angelika Niescier mit ihrem Altsaxophon in »The Barn Thing« eine Präsenz erzeugen von der Kraft eines Gravitationsfeldes. Kreative Unruhe prägt ihre Band NYC Five, zu der sie sich mit Weber (Piano) und den New Yorker Musikern Ralph Alessi (Trumpet), Christopher Tordini (Bass) und Tyshawn Sorey (Drums) zusammentat. In Florian Webers raffinierten Kompositionen, in Niesciers markant gegen jeden Mainstream konzipierten Stücken, immer scheint es, als habe die Unruhe gerade ein balanciertes Stadium erreicht. Musiken, die üppig ausgestattet sind mit Energie und ungewöhnlichen Ideen. NYC Five schaffen es immer wieder neu, eine Fülle von Wendungen, Windungen und Gedanken zu verhaken und zu verbinden. Ein erstaunliches Konzept, ein rares Ereignis. Für die Jury: Hans-Jürgen Linke

Weltmusik

Jaimeo Brown: Transcendence Work Songs

Motema 234152 (Membran)

Mit Work Songs wirft der amerikanische Schlagzeuger und Konzeptionist Jaimeo Brown in bewährter Zusammenarbeit mit dem Produzenten und Gitarristen Chris Sholar einen neuen Blick auf alte Arbeitslieder der Welt. Teils wurden sie schon vor siebzig Jahren auf der legendären Parchman Gefängnis-Farm aufgenommen, teils fanden sie als inspirierende Samples ihren Weg in Browns Musik; nicht bewahrend, sondern sie mit neuer Kraft aufladend. So gelingt Jaimeo Brown auf höchst eindrucksvolle Weise das, was schon sein Band-Name als Ziel anpeilte: Transzendenz. Für die Jury: Peter Schulze

Traditionelle Ethnische Musik

Mauretanien: Nouakchott & Chinguetti

CD & DVD benkadi fòli serie I. Traditionelle Musik Vol.9, benkadi fòli serie III. Africa in pictures Vol.2 (www.benkadi.org)

Mit großer Sensibilität bildet diese Produktion einen aktuellen musikalischen Querschnitt durch zwei Städte Mauretaniens ab. Selten genug wird dieses Repertoire auf Tonträgern verbreitet, allein schon aus diesem Grund gebührt dem Benkadi e.V. hohes Lob. Das bunte Spektrum reicht von instrumentalen Solo-Darbietungen bis hin zu Tanzfesten. Dennoch wirkt die Musik auch auf europäische Ohren überraschend ohrwurmverdächtig – und sie grooved! Etwas Besonderes ist der Film, der die Edition ergänzt. Hier wird nicht versucht, uns eine »Story« unterzujubeln. Dokumentiert werden vielmehr einige der Musikstücke des Albums, illuminiert durch feinfühlige Gegenschnitte zu Landschaftsaufnahmen – eine gelungene, unprätentiöse Darbietung, die den Menschen ihre Stimme lässt. Für die Jury: Jürgen Schöpf

Liedermacher

Dota: Keine Gefahr

Kleingeldprinzessin 12719 (Broken Silence)

Die Berliner Liedermacherin Dorothea Kehr nannte ihr eignes Label »Kleingeldprinzessin«, als Anspielung auf ihre Zeit als Straßenmusikerin. Ihre Band nannte sie einfach Dota. »Keine Gefahr« ist ihr bereits neuntes Album, musikalisch reif und zugleich abwechslungsreich. Über Jahre gesammelte Erfahrungen fließen ein in diese Musik, vom Bossa Nova über elektronische Sounds, von satten Bläsersätzen bis hin zum klassischen Lied. Dass es spannend bleibt, dafür sorgt Kehrs unverkennbare Stimme. Neben fein gesponnenen Tagträumereien und humorvoll erzählten Alltagsgeschichten greift sie ab und zu auch aktuelle Themen auf, etwa in »Grenzen«, einem Lied, das sich eine Welt ohne Grenzen herbeiwünscht, in der wir alle nur einen Pass brauchen, auf dem »Erdenbewohner« steht. Man mag das naiv nennen. Aber: Wir brauchen solche Utopien. Für die Jury: Hans Reul

Folk und Singer/Songwriter

Värttinä: Viena

Westpark Music 87305 (Indigo)

»Weniger ist mehr« oder »Zurück zu den Wurzeln« wären zwei treffliche Überschriften für die neue CD dieser finnischen Sängerinnen. Vorbei die Phase des Elektro-Folk-Pop, auf diesem dreizehnten Studioalbum (in mehr als dreißig Jahren Bandgeschichte) steht der typische dreistimmige Gesang, unverkennbar in Klangfarbe, Struktur und Rhythmik, voll im Fokus. Ein Trio mit akustischen Instrumenten wie Akkordeon, Kantele, Geige oder Gitarre arbeitet den Liedern fantasievoll zu. Man meint, die kraftvollen Lieder Kareliens zu hören, ursprünglich, archaisch und dennoch ausgesprochen zeitgenössisch. Erstaunlicherweise aber handelt es sich nicht um traditionelles Musikmaterial, vielmehr um das Resultat einer Art Forschungsreise nach Viena Karelia und dem Studium alter Barden vor Ort: eine Frischzellenkur aus der Vergangenheit. Für die Jury: Mike Kamp

Pop

David Bowie: Blackstar

Sony 888 75173862

Vielleicht ahnte David Bowie, dass dies das letzte Album seiner Karriere werden würde. Er nahm sich mit der Haltung eines Musikers, der nichts mehr zu verlieren hat, alle Freiheiten für ein furioses Vermächtnis. Rock-kompatible Sounds als Fundament für avantgardistische Songarchitektur, Beinahe-Chansons mit mondäner Nachtclub-Atmosphäre, hypernervöser Art-Rock, federnde Dance-Grooves: Diese sieben Kompositionen zeigen Bowies komplexe Klangsprache in finaler Radikalität und ihn selbst in bisweilen beklemmender künstlerischer Nacktheit, bekleidet allenfalls mit Düsternis, Extravaganz und einem Hauch von Glamour. Sein Partner Donny McCaslin steuert faszinierende Saxophonparts zwischen Improvisation und strengem Minimalismus bei. Ein monumentales Album, das bereits jetzt in die Geschichte eingegangen ist und lange nachhallt, über Bowies Tod hinaus. Für die Jury: Christof Hammer

Alternative

Animal Collective: Painting With

Domino Records WIG CD 362 (GoodToGo)

Selten genug, dass experimentelle Synthie-Sounds, polyrhythmisches Perkussionsgewirbel und ausgefeilte Gesangsharmonien perfekt zusammenpassen, und flotte Songs entstehen, die trotz der komplexen Arrangements melodisch, leicht und locker ins Ohr gehen. Umso mehr versetzt das bereits elfte Album dieses US-Quartetts in Erstaunen und ja, doch, in Bewunderung! Dave Portner (alias Avey Tare) und Noah Lennox (alias Panda Bear), die Gründer und Sänger von Animal Collective, steuern rasch und präzis durch die vertracktesten vokalen Serpentinen. Das klingt stets luftig, knackig, mitreißend frisch. Unter den Vokalspuren wuchert ein Dschungel aus Perkussion und Elektronik, da wummern, quietschen, surren, plappern und brummen die Module der analogen Synthesizer, und man freut sich über die sonnigen vibrations dieses musikalischen Action Paintings. Für die Jury: Manfred Gillig-Degrave

Club und Dance

Moomin: A Minor Thought

Digipack. Smallville CD 11 (Rough Trade)

Der Berliner Produzent Sebastian Genz alias Moomin glänzt mit seinem zweiten Album »A Minor Thought« durch Zeitlosigkeit. Seine Musiken haben ihre Wurzeln im HipHop, sie zeichnen sich aus durch warme analoge Sounds, und strahlen eine subtile Fröhlichkeit aus, die sowohl zu Hause unterm Kopfhörer wie auch auf der Tanzfläche wunderbar funktioniert. Für die Jury: Mathias Weck

Blues

Tommy Schneller Band: Backbeat

Timezone TZ 1036 (www.timezone-records.com)

Bereits die beiden Vorgänger-Alben des Sängers und Saxophonisten Tommy Schneller waren preisverdächtig – aber »Backbeat« ist nun absolut jeden Preis wert. So gezielt auf den Punkt geschriebene Songs, in denen sich Blues, Funk, Soul und Pop überaus freundschaftlich die Hand reichen, sind hierzulande ganz selten. Schneller spielt heiße Musik, die aber in durchaus coolem Sound daherkommt. Das ist genau der Stoff zum entspannten Zuhören in der Lounge wie auch zum verschärften Abtanzen im Club. Für die Jury: Karl Leitner

R&B, Soul und Hip-Hop

Anderson .Paak: Malibu

Steel Wool Entertainment SW 234141 (Membran)

Sehr wahrscheinlich hätte die Musiköffentlichkeit Anderson .Paak ohne die Starthilfe von Dr. Dre übersehen. Der junge Künstler, der stimmlich an den Kanadier Remy Shand erinnert, fühlt sich wohl als Wellenbrecher zwischen HipHop, Soultradition und dem südkalifornischen Hier-Und-Jetzt der Strandstimmung, wofür Songs stehen wie das gewaltige »Heart don’t stand a chance« oder »Am I wrong feat. Schoolboy Q«, deren Uptempo-Discofunk den Protagonisten des Westcoast-Labels SOLAR huldigt. Anderson .Paak selbst ist Protagonist eines Sounds-of-Los-Angeles.2punkt0 – ungeheuer spannend und vielversprechend. Für die Jury: Torsten Fuchs

Wortkunst

Margot Friedlander: Versuche, dein Leben zu machen

Mit Malin Schwerdtfeger. 8 CDs, speak low. Rowohlt Berlin ISBN 978-3-940018-16-8

Auch Hörbücher haben Schicksale. Zutiefst aufwühlend ist es, aber auch anschaulich, wie die vierundneunzigjährige Margot Friedlander im Tonstudio ihr Leben erzählt und damit Zeitgeschichte dokumentiert. Ohne Pathos, nüchtern, weich in der Stimme, spricht sie ungekürzt Satz für Satz, ohne zu ermüden, in 620 Minuten dauernder Gesamtzeit. Sie hatte die Nazizeit versteckt in Berlin überlebt, nach ihrer Verhaftung im April 1944 in Theresienstadt. Nach dem Krieg emigriert, hatte sie nie wieder ihr Heimatland betreten wollen, kehrte aber dennoch 2010 nach Berlin zurück, wo sie als Zeitzeugin Jugendlichen immer wieder ihre Lebensgeschichte erzählte. »Versuche, dein Leben zu machen«, diesen Rat, der im Untergrund zu täglicher, grausamer Realität wurde, hatte die mit ihrem Bruder von der Gestapo verhaftete Mutter ihrer Tochter mitgegeben, notiert in einem Adressbuch. Für die Jury: Peter Fuhrmann

Kinder- und Jugendaufnahmen

Andreas Steinhöfel: Anders

Das Hörspiel. Udo Wachtveitl, Friederike Kempter, Walter Renneisen. Silberfisch ISBN 978-3-86742-575-9

Was passiert im Kopf eines elfjährigen Jungen, der nach einem schweren Unfall 263 Tage im Koma lag, wenn er wieder erwacht? Er ist, im wahrsten Wortsinn, »anders«. Vage Spuren in seinem Gedächtnis sagen ihm, dass er nach etwas suchen muss, was er doch besser vergessen sollte. Es ist faszinierend, wie sich dieses Erinnerungspuzzle über eine wunderbar poetische Sprache, virtuose Stimmen, phantasiebeflügelnde Geräusche und Klänge nach und nach zu der richtigen Geschichte fügt. Aber ist es auch die wahre Geschichte? Dieses sorgfältig inszenierte Hörspiel ist großes Psycho-Kriminal-Kino im Kopf. Für die Jury: Carola Benninghoven

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