Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

NEU: Longlist 2/2024, veröffentlicht am 5. April 2024

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Mieczysław Weinberg: Symphonien Nr. 2 & 21

City of Birmingham Symphony Orchestra, Mirga Gražinytė-Tyla, Kremerata Baltica, Gidon Kremer. 2 CDs, Deutsche Grammophon 483 6566 (Universal)

Sehr verspätet hat die Musikwelt den polnisch-russischen Komponisten Mieczysław Weinberg kennengelernt, viel ist noch nachzuholen. Mirga Gražinytė-Tyla nutzte ihr Debut beim Label Deutsche Grammophon als Chance, Weinbergs frühe zweite Symphonie mit der spielfreudigen Kremerata sowie die hochkomplexe Symphonie Nr. 21 mit ihrem konzentrierten und klangvollen CBSO einzuspielen. Letztere ist ein fast einstündiges Klagelied voller Ausbrüche und Einblicke, in dem der Schostakowitschfreund Weinberg vor allem immer sich selbst treu bleibt. Gidon Kremer hilft aus als Violinsolist, die kompetente Dirigentin selbst singt die Sopranvocalise des letzten Satzes anrührend unprätentiös. Für die Jury: Rainer Wagner

Orchestermusik und Konzerte

Johann Sebastian Bach: Violinkonzerte

Johann Sebastian Bach: Violinkonzerte BWV 1041, 1042, 1052R & 1056R; Konzert für Violine und Oboe BWV 1060R; Konzert für 2 Violinen BWV 1043; Sinfonia BWV 1045; Overtüre Nr.2 BWV 1067; Triosonaten BWV 527 & 529. Isabelle Faust, Xenia Löffler, Akademie für Alte Musik Berlin, Bernhard Forck. 2 CDs, harmonia mundi 902335.36

Isabelle Faust bündelt in ihrer jüngsten Bach-Einspielung nicht nur die bekannten Violinkonzerte, sondern auch eine Reihe von Rekonstruktiertem und Hypothetischem: Orgel-Triosonaten und Cembalo-Konzerte, denen einst Fassungen für Geige zugrunde gelegen haben mögen, dazu Einleitungssätze von Kantaten sowie eine Ouvertüre. In intensivem Dialog begegnet die fabelhafte Geigerin dabei einerseits der beredten Akademie für Alte Musik, andererseits Xenia Löfflers prächtig nuancierter Oboe. Ungemein lebendig! Für die Jury: Wiebke Roloff

Orchestermusik und Konzerte

Lucerne Festival Orchestra, Riccardo Chailly, Ravel

Maurice Ravel: Symphonische Fragmente aus »Daphnis et Chloé«, Suiten Nr. 1 & 2, Boléro, Valses nobles et sentimentales, La Valse. Lucerne Festival Orchestra, Riccardo Chailly. DVD Accentus ACC20451 / Blu-ray Accentus ACC10451 (Naxos)

Dieser Konzertmitschnitt von 2018 zeigt, wie sehr das Lucerne Festival und sein neuer Chefdirigent Riccardo Chailly zusammengewachsen sind: Ein intelligent konzipiertes Programm wird herausragend umgesetzt! Zu bewundern sind ein beseeltes Spiel mit einem Maximum an Klarheit und ausgeprägter Dynamik. Die abwechslungsreichen Valses nobles et sentimentales münden direkt in La Valse, Ravels eigenwillige Hommage an den Wiener Walzer – spannend vom verhaltenen Beginn bis zum extrovertierten Schluss. Die Suiten aus Daphnis et Chloé sind ein Musterbeispiel an raffinierter Inszenierung, mit flirrender Atmosphäre, Klangzauber, Farbigkeit. Im Boléro präsentieren sich erneut exzellente Solisten des Orchesters. Für die Jury: Helge Grünewald

Kammermusik

Offenbach - Raphaela Gromes

Jacques Offenbach: Danse bohémienne op.28; Deux âmes au ciel op.25; Introduction et valse mélancholique op.14; Rêverie au bord de la mer; La course en traîneau; Duo für zwei Violoncellos op.54/3; Les larmes de Jacqueline; Élégie op.76/2; Tarantelle; Barcarolle aus »Les Contes d’Hoffmann«. Raphaela Gromes, Julian Riem, Wen-Sinn Yang. Sony 19075943082

Kein Offenbach-Liebhaber kommt um dieses Album herum. Nicht nur, weil es das diskographische Highlight zum 200. Geburtstag des Komponisten ist, sondern, weil uns hier Einblicke in die Seele des Interpreten Offenbach gewährt werden: durch das Violoncello, sein instrumentales Sprachrohr. Raphaela Gromes und ihr Partner am Klavier, Julian Riem verwandeln jedes Salonstück in eine Preziose melodischer, rhythmischer und emotionaler Gestaltung. Für die Barcarole und ein Cello-Duo gesellt sich Gromes langjähriger Cellolehrer Wen-Sinn Yang dazu. Dass diese Aufnahme die neueste Offenbach Edition Keck heranzieht, macht sie zudem philologisch preiswürdig. Für die Jury: Lotte Thaler

Tasteninstrumente

to catch a running poet

Neue Werke für Cembalo. Margareta Ferek-Petrić: Ištaratu; Rafael Nassif: empty-forms; Christian Diendorfer: PSI Song; Sylvie Lacroix: courante; Peter Jakober: dringen; Tamara Friebel: Dance Me To My Rebirth; Manuela Kerer: Granat; Hannes Dufek: arresting images. Maja Mijatović, Cembalo. Neos 11906 (harmonia mundi)

György Ligetis Continuum für Cembalo von 1968 und das Stück Khoai von Iannis Xenakis, komponiert 1976, sind längst Klassiker, vor einem halben Jahrhundert entstanden. Wie gut, dass Maja Mijatović acht zeitgenössische Komponistinnen und Komponisten darum gebeten hat, etwas Neues für ihr altes Instrument zu schreiben. Die Ergebnisse sind atemraubend, denn das Album führt den Hörer auf ein Experimentierfeld für neue Klänge. Mal sind es perkussive Donnerschläge, drohend und insistierend, mal zauberhafte, unberührte Inseln von unendlicher Anmut. Klangexploration pur! Für die Jury: Martin Hoffmann

Tasteninstrumente

Olivier Messiaen: Vingt Regards sur l’Enfant-Jésus

Martin Helmchen. 2 CDs, Alpha 423 (Note 1)

Olivier Messiaens Vingt Regards sur l’Enfant-Jésus von 1944 gehören zu den Achttausendern der Klavierliteratur: Wer da schadlos den Gipfel erreicht, hat seine Meisterprüfung bestanden. Martin Helmchen bewältigt die Schwindel erregend komplexen Klippen, Steilwände und mutmaßlichen Rutschpartien frappierend sicher, er bringt zudem subtil und schlüssig eine Fülle von dynamischen und klanglichen Nuancen ein. So bekommt jedes der zwanzig Stücke einen eigenen Tonfall. Bei aller pianistischen Brillanz wirkt das nie angestrengt, stets von innerer Ruhe und Kraft erfüllt. Das mag vom spirituellen Hintergrund des Werkes herrühren. Aber auch für nicht-katholisch Neugierige öffnen sich hier neue Welten: ein großer Wurf. Für die Jury: Kalle Burmester

Oper

Gottfried von Einem: Der Prozess

Michael Laurenz, Jochen Schmeckenbecher, Matthäus Schmidlechner, Lars Woldt, Johannes Kammler, Jörg Schneider, Ilse Eerens, Anke Vondung, ORF Radio Symphonie Orchester Wien, HK Gruber. Salzburger Festspieldokumente. 2 CDs, Capriccio C 5358 (Naxos)

Acht Opern komponierte Gottfried von Einem, nur eine, »Dantons Tod« hat im Repertoire überlebt. Die 1953 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführte Kafka-Vertonung »Der Prozeß« erfuhr zum 100. Geburtstag des österreichischen Komponisten im Sommer 2018 dort ihre allerdings nur konzertante Rehabilitation. Die überraschend unorthodoxe Musik betont mit höhnischem Big-Band-Sound und Swing das Groteske der Geschichte, nicht die existenzielle Düsternis. HK Gruber, Schüler und Freund des Komponisten, entfesselt mit dem RSO des ORF ein absurdes Pandämonium. Michael Laurenz leiht dem Josef K. seinen eloquenten Tenor, ein Dutzend weiterer Solisten teilt sich in die insgesamt 28 Rollen einer Oper, deren Wiederentdeckung lohnt. Für die Jury: Robert Braunmüller

Chor und Vokalensemble

Georg Friedrich Händel: Messiah

Giulia Semenzato, Benno Schachtner, Krystian Adam, Krešimir Stražanac, Collegium 1704, Collegium Vocale 1704, Václav Luks. 2 CDs, Accent ACC 24354 (Note 1)

Diese Messiah-Aufnahme, die den Hörer sprachlos macht, kommt aus Prag und ist dem Chor und Orchester des Ensemble 1704 unter Leitung von Vacláv Luks zu danken. Es hat bereits eine hinreißende Neuaufnahme von Johann Sebastian Bachs h-moll-Messe vorgelegt, und schon damals begriff man das Prager Prinzip: Es ist, um es salopp zu sagen, dem Schinken näher als dem Knäckebrot. Die Prager machen Musik, handfest, lebensnah und trotzdem virtuos. Und immer in historischer Manier. Es gibt mehrere Dutzend Aufnahmen dieses Werkes, diese ist eine neue Referenzaufnahme. Für die Jury: Wolfram Goertz

Klassisches Lied und Vokalrecital

Dichterliebe - Julian Prégardien

Robert Schumann: Dichterliebe op. 48, Myrthen op. 25, Sechs frühe Lieder WoO 21, Die Löwenbraut op. 31 Nr.1, Duette aus Spanisches Liederspiel & Genoveva, Romanzen für Klavier op. 28 Nr. 1 & 2; Clara Schumann: Wenn ich ein Vöglein wär, Romanze für Klavier op.11 Nr.2. Julian Prégardien, Sandrine Piau, Éric le Sage. Alpha 457 (Note 1)

Julian Prégardien zeigt Mut, im allerheiligsten Bezirk der Liedkunst. Er stellt dem »Dichterliebe«-Zyklus Robert Schumanns Lieder von Clara Schumann an die Seite, bezieht die Kollegin Sandrine Piau nicht nur als Duett-Partnerin ein, sondern lässt sie, als innere Stimme der Geliebten, diskret mitklingen. Vor allem nimmt er sich faszinierende Gestaltungsfreiheiten heraus, wagt überraschende, als Ausdrucksmittel einleuchtende Verzierungen und Varianten. Le Sage, auf einem historischen Blüthner-Flügel, ist ihm ein hochempfindlicher Seelen-Echoraum. Ein klug komponiertes Konzeptalbum. Für die Jury: Holger Noltze

Alte Musik

Sonaten für zwei Violinen ohne Bass - Pramsohler/Barnabé

Louis-Gabriel Guillemain: Sonate in d-moll op. 4/2; Jean-Marie Leclair: Sonate in B-Dur op. 12/6; Jean-Pierre Guignon: Les Sauvages, Tendrement, La Fustemberg aus op. 8; Nouvelles variations des Folies d’Espagne op. 9; Étienne Mangean: Sonate in g-Moll op. 3/6. Johannes Pramsohler, Roldán Barnabé. Audax ADX 13714 (harmonia mundi)

Duos für zwei Violinen waren im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts weit mehr als eine bloß private Unterhaltung. Diese Besetzung diente den Virtuosen auf dem zunehmend in Mode gekommenen Instrument seit etwa 1740 zur umjubelten Selbstdarstellung ihres Könnens. Johannes Pramsohler und Roldán Bernabé lassen den Geist dieses brillanten Repertoires auf kongeniale Art und Weise wieder lebendig werden: sonor und spielfreudig, aber auch hochsensibel, sinnlich und in einer in großen Bögen ausgekosteten balancierten Spannung zwischen den beiden Partnern. Für die Jury: Carsten Niemann

Zeitgenössische Musik

As if - Trio Catch

Gérard Pesson: Catch Sonata; Paul Juon: Trio-Miniaturen op.18, Nr. 3, 6 &7, op.24 Nr.2; Johannes Boris Borowski: As if; Vito Žuraj: Chrysanthemum; Johannes Maria Staud: Wasserzeichen; Wolfgang Rihm: Kleiner Walzer. Trio Catch, Andreas Staier. bastille musique bm009 (rudi mentaire distribution)

Satte oder hauchzarte Töne, rauschende oder rasende Klangkaskaden: bei Boglárka Pecze (Klarinette), Eva Boesch (Violoncello) und Sun-Young Nam (Klavier) darf die Musik über sich hinauswachsen, mit Eleganz, Energie und Freude am Spielen. An den fast kitschigen spätromantischen Poesien von Paul Juon erdet das Trio seinen ausgereiften Schönklang. Im Kontext dieses Programms mit Werken, die zwischen 2004 und 2017 entstanden, wirkt das wie ein Augenzwinkern des Trios; denn so stellt sich auch für heutige Komponisten die Frage: Wo stehen wir? Und wohin führen uns unsere aktuellen musikalischen »Versuche« (Zitat Begleittext) und Absichten, die in der Spielfreude dieser Musikerinnen eine wahre Lebensqualität bekommen? Für die Jury: Margarete Zander

Historische Aufnahmen

Edith Peinemann – The SWR Studio Recordings 1952-1965

Konzerte von Johann Sebastian Bach, Béla Bartók, Ludwig van Beethoven, Antonín Dvořák, César Franck, Georg Friedrich Händel, Paul Hindemith, Wolfgang Amadeus Mozart, Hans Pfitzner, Maurice Ravel, Max Reger, Robert Schumann, Jean Sibelius, Josef Suk und Tomaso Antonio Vitali. Edith Peinemann, Robert Peinemann, Heinrich Baumgartner, Helmuth Barth, Maria Bergmann, Georg Toussaint, Hartmut Oesterle, Sinfonieorchester des Süddeutschen Rundfunks, SWF-Sinfonieorchester Baden-Baden, Hans Müller-Kray, Hans Rosbaud, Ernest Bour. 5 CDs, SWR Classic SWR19074CD (Naxos)

Diese verdienstvolle Peinemann-Ausgabe spannt einen Bogen von der fünfzehnjährigen zur achtundzwanzigjährigen Geigerin. Ein beachtlicher Teil des vorgestellten Repertoires ist nie auf Tonträger erschienen. Gleichzeitig vermittelt die Edition ein Stück Zeitgeschichte. Wie bei anderen Rostal-Studenten, etwa Jenny Abel oder Ulf Hoelscher, stand auch bei Edith Peinemann die Musik an erster Stelle. Trotz aller Erfolge und Würdigungen sowie Anerkennung von Kollegen wie Yehudi Menuhin, Isaac Stern und David Oistrakh blieb ihr ein Dauerplatz unter Stars und Sternchen verwehrt – vielleicht auch erspart. Es mag nachdenklich stimmen, dass in die 14 Bände »The Way They Play« mit etwa 140 Musikern weder Peinemann noch Abel oder Hoelscher aufgenommen worden sind. Für die Jury: Wolfgang Wendel

Grenzgänge

d.o.o.r.: Songs from a Darkness

Dirk Raulf, Oona Kastner. Poise 27 (Eigenvertrieb)

Schwermütige, auch klanglich dunkle Nachtmusiken bietet dieses Debütalbum des Duos d.o.o.r.. Mit schier unerschöpflichem Atem macht der Komponist und Live-Musiker Dirk Raulf aus der Bassklarinette eine Nebelhorn-Endlosschleife, aus seinen Saxophonen einen anschwellenden Chor von Totentrompeten. Dazwischen intoniert, schreit und murmelt die Performerin Oona Kastner, die auch Klavier spielt, taktfest und eindringlich morbide Lyrik ihres Klangpartners, aber auch Texte von Andreas Gryphius oder Wystan Hugh Auden. Eine CD, die den aus dem Ruder gelaufenen Zeitgeist spiegelt, verwirrend, destruktiv, spooky – und absolut hörenswert! Für die Jury: Nikolaus Gatter

Filmmusik

Michael Abels: Us

Original Motion Picture Soundtrack. Backlot 777 (Bertus)

Was der Regisseur Jordan Peele und sein Komponist Michael Abels 2017 mit »Get Out« schafften, wiederholen sie nun bei »Us«: Irritation mit Gänsehaut- und Alptraum-Garantie. Mit dem Einsatz von Klischees hält sich Abels effektvoll zurück. Wie er mit Stimmen, Streichern und subtil hinterhältigen Klangeffekten umgeht, das ist so gemein wie genial: Ein Kinderchor singt unheimliches Nonsens-Latein, der HipHop-Klassiker »I Got 5 On It« mutiert zum Schreckensleitmotiv, das Doppelgänger-Thema des Films klingt im Kontrast von Streichern und Zymbal haarsträubend nach. Horror mit Abitur. Für die Jury: Joachim Mischke

Musikfilm

Matangi / Maya / M.I.A.

Ein Film von Steve Loveridge. Maya Arulpragasam aka M.I.A., Diplo, Bill Maher, Nicki Minaj, Madonna. DVD, Rapid Eye Movies 1706799 (Alive)

Der Filmemacher Steve Loveridge kennt die streitbare Sängerin und Rapperin Maya Arulpragasam, auch bekannt als M.I.A., von der gemeinsamen Zeit auf der Kunsthochschule. Weil es seitdem reichhaltiges selbstdokumentarisches Filmmaterial gibt, konnte ein intimes Porträt der Künstlerin über einen langen Zeitraum entstehen. Die Tochter des Mitbegründers einer militanten tamilischen Studentenorganisation eckt mit ihrem politischen Engagement gerne an oder sie inszeniert klug kalkulierte Provokationen, etwa mit dem gewalttätigen Video zu »Born Free«, 2010. Für die Jury: Juan Martin Koch

Jazz

Betty Carter: The Music Never Stops

Blue Engine BE 0014 (Galileo)

Im Konzert am 29. März 1992 im New Yorker Lincoln Center brillierte Betty Carter mit großartigen Scats, in den textgebundenen Passagen artikulierte sie jede Silbe mit dem gebührenden Gewicht. Lebenserfahrung und Weisheit klingen aus jedem Song – und der abgeklärte Humor einer Sängerin, die trotz ihrer Klasse nie einen Superstar-Status erreichen konnte. Begleitet von Bigband, Combo und Streichern schafft Betty Carter Nähe, sie bleibt gleichzeitig ohne den geringsten Hauch von Anbiederung ihrer Bühnenrolle als reife, ältere, über die Fährnisse des Lebens erhabene Frau treu. Ein Highlight der Gesangskunst. Für die Jury: Werner Stiefele

Jazz

Christian Lillinger: Open Form For Society

Plaist 004 (Edel)

Wie zur Zeit kein anderer hierzulande treibt Christian Lillinger den Jazz über seine vermeintlichen Grenzen hinaus. Zwei Jahre lang hatte der Schlagzeuger an den Kompositionen gefeilt, die er mit einem neunköpfigen Ensemble während eines fünftägigen Arbeitsprozesses im Studio realisierte. Dabei verzahnen sich Konzept, Interpretation und Improvisation in wechselnden Spielkonstellationen, es entstehen innovative Rekompositionen von hoher Ereignisdichte. Das auf diese Weise generierte Material assoziiert sich im freien Fluss mit Jazz, Neuer Musik und avancierter Popmusik. Offenheit des Konzeptes und die Partizipation aller Beteiligten legen es nahe, diese Produktion zugleich als Modell sozialen Interagierens zu verstehen. Musik als Herausforderung! Für die Jury: Bert Noglik

Weltmusik

Áššu

Ulla Pirttijärvi, Harald Skullerud & Olav Torget. Nordic Notes / Bafe’s Factory NN126 (Broken Silence)

Im Joik, dem traditionellen, im Schamanismus wurzelnden Gesang der Samen, wird das Besungene präsent. Rau und mit elektrisierender Energie »joikt« die Sängerin Ulla Pirttijärvi aus dem finnischen Teil Lapplands etwa Menschen, die sie inspiriert haben. Harald Skullerud (Perkussion) und Olaf Torget (Gitarre und anderes) bringen dazu westafrikanische Klänge mit ins Spiel – was erstaunlich gut passt und deutlich überzeugender wirkt als andere Pop-Joik-Adaptionen aus Finnland oder Norwegen in vergangenen Jahren. Ein mitreißendes Debütalbum, es macht neugierig und Lust auf mehr. Für die Jury: Johann Kneihs

Traditionelle Ethnische Musik

Kongo Ya Nostalgic – Nostalgique Kongo

Rumbas Lingala, Swahili & Douala 1950-1960. Gustave Dalle, E Bongue Bollanga, Adou Elanga, Camille Feruzi, Jhimmy, Franc Lassan, Bukasa Léon, Tom Miti, Mokoko & Bosele, Camille Mokoko, Isaya Mwinamo, Philos Yanno Penki, Nelson Simon, Trio Bow, Wendo. Buda Musique BU 860339 (Membran)

Es ist kein leichter Schritt in den Kongo der fünfziger Jahre. Vielleicht, weil er uns viel zu leicht erscheint; als habe dieser Vokalstil mehr mit der Terzenseligkeit des deutschen Schlagers derselben Dekade zu tun als mit der afrokubanischen Rumba, die den Weg der Sklavenschiffe nach Afrika zurückgefunden hatte und dort dank des Radios und der explodierenden kongolesischen 78er-Plattenproduktion unglaublich dynamisch fortwirkte. Keine Großstadt von Kamerun bis Kenia, die nicht von dieser Welle erfasst wurde, ja, man konnte von einem panafrikanischen Stil sprechen, der durch zahlreiche lokale Sprachen und Einflüssen geprägt wurde. Hier hört man eine Blütenlese, die man nicht vergisst, wenn man sie einmal aufgesogen hat. Für die Jury: Jan Reichow

Liedermacher

Köster & Hocker: fremde feddere

GMO – The Label GMO074-2 (Rough Trade)

Irgendwie erinnert diese CD an gute alte »The Piano has been drinking«-Tage. Begonnen hatte das Bandprojekt um Gerd Köster und Frank Hocker bekanntlich mit der »Einkölschung« der Songs von Tom Waits. Die beiden schrieben ein Stück Rockgeschichte, von der gemeinsamen Schulzeit in Köln-Nippes zur Schroeder Roadshow war »affrocke« immer schon angesagt. Dann »Piano«, neue Lieder, auch mal auf Hochdeutsch, kölsche Krätzje. Und jetzt: 13 Lieblingssongs, die sie gerne selber geschrieben hätten: von (natürlich) Waits über Zappa, Dylan und John Hiatt zu Ian Tyson oder Bonnie »Prince« Billy. Lauter fremde Federn, mit denen Köster & Hocker sich nicht bloß schmücken, sie geben ihnen vielmehr ein anderes Eigenleben, mit Humor, Spielfreude, Ernsthaftigkeit – und Respekt. Für die Jury: Hans Reul

Folk und Singer/Songwriter

Dobranotch: Merčedes Kolo

CPL Music CPL029 (Broken Silence)

Eine einsame Tuba gibt den Beat vor und stellt eines sofort klar: Dobranotch sind auch im einundzwanzigsten Jahr ihres Bestehens kein bißchen leiser geworden. Die Kapelle aus Russland mischt einen selbstbewussten Sound aus Klezmer, Balkan, Gypsy und scheut selbst vor Rammstein nicht zurück. Die sehr gelungene Unplugged Version des Rammstein-Klassikers »Du hast« hat sich zum Dauerbrenner entwickelt, auch auf dem neuen Album ist sie mit dabei, energiegeladen, fröhlich und aberwitzig virtuos. Gesungen wird auf Russisch oder Jiddisch, meistens aber auf eijeijei. Was man nicht versteht, das hört man sich zurecht. Manchmal flüstert einem die Fantasie das Wörtchen »Wodka-Bude« ins Ohr, die ist bei dieser Musik sicher nicht weit. Für die Jury: Imke Turner

Pop

Jayda G: Significant Changes

Ninja Tune ZENCD254 (Rough Trade)

Es ist das Spiel mit scheinbaren Gegensätzen, das aus dem Debütalbum der Produzentin aus Vancouver etwas Besonderes macht. Jayda G verarbeitet Einflüsse aus altem Funk, Disco, R’n’B und Boogie zu ungewöhnlichen House-Tracks, die sowohl auf dem Dancefloor funktionieren als auch durch ihre Popanmutung bestechen. Sie hatte Ressourcen- und Umweltmanagerin studiert; mit ihrer Musik proklamiert sie Hedonismus, in ihren Texten fordert sie gleichzeitig mehr Achtsamkeit für den Umweltschutz. »Significant Changes« besticht durch die Vielfalt der Stilistiken und Stimmungen, es hat das Prinzip Pop verinnerlicht, weil es mit den musikalischen Mitteln der Vergangenheit eine unerhörte Gegenwart herstellt. Für die Jury: Albert Koch

Rock

Ratso: Stubborn Heart

Lucky Number LUCKY126CD (Rough Trade)

Den Künstlernamen Ratso hat Larry Sloman von Joan Baez, weil er sie 1975 an Dustin Hoffmans Rolle des Ratso Rizzo im Film »Asphalt Cowboy« erinnerte. Damals war Sloman als Journalist im Auftrag des Rolling Stone unterwegs. Später schrieb er zusammen mit Howard Stern dessen Autobiographie und weitere Bestseller, wie zum Beispiel über Harry Houdini, Abbie Hoffman, Bob Dylan und Mike Tyson. Für John Cale verfasste er Songtexte; er arbeitete mit Leonard Cohen, Dylan und Nick Cave. Auf seinem exzellenten Debütalbum zollt der mittlerweile neunundsechzigjährige Autor, Redakteur, Schauspieler und Songwriter nun Meistern wie Cale oder, im Duett mit Nick Cave, Cohen Tribut, er reüssiert sogar mit Dylans »Sad Eyed Lady Of The Lowlands«. Für Qualität ist es nie zu spät! Für die Jury: Manfred Gillig-Degrave

Hard und Heavy

Possessed: Revelations Of Oblivion

LP/CD/DL, Nuclear Blast NB4739 (Warner)

Kein Mensch braucht fast einstündige Extrem-Metal-Platten! Aber davon abgesehen, dass das dritte Album dieser amerikanischen Musiker, die seit 1985, seit ihres Debüts »Seven Churches«, als Miterfinder des Death-Metal-Genres gelten, etwa zehn Minuten zu lang ausgefallen ist, boxt der Papst hier mehr oder minder durchgehend im Kettenhemd. »No More Room In Hell« oder »Demon« besitzen nicht weniger Hit-Potential als Klassiker wie »Burning In Hell« oder »Death Metal«. Der old-schoolige Sound (diese Toms!) mutet nie aufgesetzt »retro« an, sondern komplett organisch. Abgerundet wird das Album, das am Ende des Jahres auch ohne Namedropping zu den Highlights im Thrash- und Death-Bereich gehören wird, von einem Zbigniew-Bielak-Artwork im Stile der Ghost-Cover. Für die Jury: Boris Kaiser

Electronic und Experimental

Ekiti Sound: Abeg No Vex

Crammed Discs cram 281 (Indigo)

Sein Einmannprojekt hat der nigerianisch-britische Klangkünstler und Sänger Leke, auch bekannt als CHiF, den »Ekiti Sound« genannt, um auf den nigerianischen Bundesstaat Ekiti zu verweisen. Dort gibt es eine rituelle Musik, die Ekiti Sound für sein Debütalbum »Abeg No Vex« mit tiefen Bassfrequenzen, Dubstep, HipHop, funkigem House plus wilder Rhythmus-Schleifen zu einem betörenden Amalgam grenzenlos elektronischer Tanzmusik vereint hat. Eine Soundcollage, voll mit Einflüssen beider Welten – der westafrikanischen und der vornehmlich britischen der Soundsystems. Manches wirkt ein wenig roh und verstörend; doch gerade die wilden digitalen Tonverschiebungen machen den Reiz der Musik von Ekiti Sound aus und lassen sie so besonders sein. Für die Jury: Olaf Maikopf

Blues

The BB King Blues Band

feat. Taj Mahal, Joe Louis Walker, Kenny Wayne Shepherd, Michael Lee & Kenny Neal: The Soul of the King. Ruf 1268 (in-akustik)

Die langjährige Begleitband des Bluesgroßmeisters verbeugt sich mit dieser CD tief vor ihrem 2015 verstorbenen Chef. BB Kings Geist durchweht das Album, in jedem Song spürt man, wieviel die Band ihm zu verdanken hat. Gleiches galt jedoch auch umgekehrt. Ohne diese eingeschworene Truppe hätte sein Stern nicht ganz so strahlend geleuchtet. Zu welchen Höchstleistungen die Band auch ohne ihn immer noch fähig ist, demonstriert dieses Album. Eine exzellente Veröffentlichung, die durch die für die Aufnahmesessions engagierten und mittlerweile selbst zu Ruhm gelangten Schüler Kings zu einer echten Preziose wird. Hier findet keine museale Gedenkstunde statt, sondern eine überaus gelungene Party. So hört sich lebendige Nachlassverwaltung an. Für die Jury: Karl Leitner

R&B, Soul und Hip-Hop

Marvin Gaye: You’re the man

2 LPs, Motown 7716339 (Universal)

Ganz gleich, ob diese Platte als verschollen galt, als Rarität vermarktet oder als Sensationsfund versilbert wird – die Soloaufnahmen von 1972 hätten das Zeug zum zweiten »What’s going on« gehabt. Sie hätten als eigenständiges Album erscheinen können – und nur das zählt. Präsentiert werden Produktionen von Gaye selbst, von Willie Hutch, Arbeiten mit der Jackson-5-Hitmaschine Freddie Perren/Fonce Mizzel und museale Songkonservierung von Salaam Remi. Nie wäre diese Kombination so als Album erschienen, hätte aber genau so erscheinen können! Das ist das eigentlich Verblüffende: Es schließt sich eine Lücke, die es so eigentlich gar nicht gegeben hat. Für die Jury: Torsten Fuchs

Wortkunst

Alexander von Humboldt: Der unbekannte Kosmos

Feature von Hans Sarkowicz. Ulrich Noethen, Friederike Ott, Brigitta Assheuer, Moritz Pliquet, Reinhardt von Stolzmann, Regie: Leonhard Koppelmann. 8 CDs, Der Hörverlag 978-3-8445-3305-7

In diesem zehnstündigen Feature zeigt sich, was Hörkunst kann. Hans Sarkowicz webt aus Schriften Alexander von Humboldts, Interviews mit Experten, Hintergrundtexten und subtil eingesetzten Geräuschkulissen einen dichten Audio-Kosmos, der diesen neugierigen Forscher und Weltreisenden fast zu einem Zeitgenossen macht. Ulrich Noethen vermittelt einen nachdenklichen, aber unbestechlichen Alexander von Humboldt. Das Erzähltempo ist den Inhalten angemessen moderat. Das allein zeichnet diese Produktion des Hessischen Rundfunks schon aus. Aber es ist Sarkowiczs Verdienst, Humboldts Blick auf die Welt sehr gegenwärtig erscheinen zu lassen – egal, ob es um das Klima, den Kolonialismus oder kritisches, unabhängiges Denken geht. Für die Jury: Anja Reinhardt

Kinder- und Jugendaufnahmen

Fredrik Vahle: Zugabe

Interpretiert von Heinz Rudolf Kunze, Maren Kroymann, Max Mutzke, Wigald Boning & Roberto Di Gioia, De-Phazz feat. Pat Appleton, Deine Freunde, Mia Diekow, Eki & Kathrin, Johannes Falk, Hartmut Höfele, Pawel Popolskis & Fräulein Schneider, Stoppok & Fjarill, Tex, Kai & Funky von Ton Steine Scherben mit Gymmick, Max Prosa & Sarina Radomski, Randale. sauerländer audio 978-3-8398-4920-0 (edel)

An sich ist es nicht ungewöhnlich, dass Musik gecovert wird. Aber ein ganzes Album mit Cover-Kinderliedern? Wenn so außerordentliche Künstler der verschiedensten musikalischen Stilrichtungen zusammenkommen und das Ganze als eine Geburtstags-Hommage für Fredrik Vahle – den »Godfather of politischem Kinderlied« darbieten, dann wird daraus etwas Großes. Wie neu klingen die Ohrwürmer »Anne Kaffeekanne« (Maren Kroymann), »Die Rübe« (Hartmut Höfele), »Der Friedensmaler« (Max Mutzke) oder »Der Spatz« (Fräulein Schneider & Pawel Popolski) – sowohl musikalisch wie oft auch sprachlich. Ein lebensalter Schatz wird gehoben, köstlich vertraut für manche Eltern, einfach nur witzig, frech und poetisch für die Vahle-Anfänger. Für die Jury: Carola Benninghoven

Open