Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Bernd Alois Zimmermann: Recomposed

Originalkompositionen & Bearbeitungen nach Werken von Darius Milhaud, Heitor Villa-Lobos, Alfredo Casella, Franz Liszt, Ferruccio Busoni u.a. Sarah Wegener, Marcus Weiss, Ueli Wiget, WDR Sinfonieorchester, Heinz Holliger. 3 CDs, Wergo WER 7387 2 (Naxos)

Die kleine Box mit drei CDs ist in gleich dreifachem Sinne exzeptionell. Zum einen dokumentiert sie mit Aufnahmen aus einem Zeitraum von 18 Jahren das anhaltende Engagement Heinz Holligers und des WDR Sinfonieorchesters für die Musik von Bernd Alois Zimmermann. Zum anderen wurden neben einigen nur noch selten zu hörenden Kompositionen erstmals bisher vollkommen unbekannte Orchesterarrangements eingespielt – farbenfrohe Bearbeitungen zwischen Broterwerb und künstlerischer Originalität. Und zum dritten macht diese verblüffende »Fundgrube« eindringlich klar, wie vielfältig der Rundfunk in den 1950er-Jahren noch war. Für die Jury: Michael Kube

Orchestermusik und Konzerte

Beethoven, Strawinsky: Violinkonzerte

Ludwig van Beethoven: Violinkonzert D-Dur op. 61; Igor Strawinsky: Violinkonzert D-Dur. Vilde Frang, Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, Pekka Kuusisto. Warner 0190296677403

Mit Esprit und müheloser Leichtigkeit entwerfen Vilde Frang und die Bremer Kammerphilharmonie unter Leitung von Pekka Kuusisto ein wunderbar transparentes Bild von Beethovens Violinkonzert. Das vielstrapazierte Gipfelwerk der klassischen Violinliteratur erscheint in einem neuen Licht, im Solopart wie im Orchester mit Bedacht ausgeformt und subtil abgestuft in Klangfarbe und Dynamik. Zudem setzen die Kadenzen nach Beethovens Klavierfassung des Werkes einen besonderen Akzent. Unkonventionell aber reizvoll ist die Kopplung mit Strawinskys Violinkonzert, das hier in einer Interpretation voller Energie und rhythmischer Prägnanz zu erleben ist. Für die Jury: Norbert Hornig

Kammermusik

Williams, Holst: Streichquartette

Ralph Vaughan Williams: Streichquartette Nr. 1 & 2; Gustav Holst: Phantasy Quartet on British Folksongs op. 36. Tippett Quartet. Somm Recordings SOMMCD 0656 (Naxos)

Eine Liebesgabe, weit über den 150. Geburtstag von Vaughan Williams hinaus: Das Tippett Quartet lässt keinen Zweifel aufkommen, wohin die beiden Streichquartette aus den Jahren 1922 und 1942 gehören: ins allgemeine Repertoire. Könnte das erste noch als das klangsinnliche Werk eines unbekannten Franzosen gelten, so wirkt das zweite mit seinem fahlen Largo wie ein aktueller Kommentar zu den seelischen Verwüstungen des Krieges. Außerdem ist dieses Werk ein Fest für jeden Quartett-Bratscher. Im Tippett Quartet ist das Lydia Lowndes-Northcott, die den dunklen Grundton suggestiv vorgibt. Für die Jury: Lotte Thaler

Kammermusik

Debussy, Hahn, Strawinsky: Werke für Violine & Klavier

Claude Debussy: Sonate Nr. 3 für Violine und Klavier; Reynaldo Hahn: Sonate C-Dur für Violine und Klavier; Igor Strawinsky: Duo Concertant. Aylen Pritchin, Lukas Geniušas. Mirare MIR 572 (harmonia mundi/Bertus)

Die Welt geriet Anfang des 20. Jahrhunderts aus den Fugen, sie musste sich neu finden. Politisch-gesellschaftliche oder persönliche Ereignisse, künstlerisches Suchen spiegeln sich in den drei Werken des Albums aber nicht vordergründig plakativ, sondern in einer poetisch-individuellen Handschrift. Der Geiger Aylen Pritchin und der Pianist Lukas Geniušas agieren mit unglaublicher Klangsinnlichkeit, sei es in Debussys beschwörend-schwebender Sonate, sei es in Reynaldo Hahns Sonate voller Zärtlichkeit und Nostalgie oder in dem von Lyrismus durchzogenen modernistischen »Duo Concertant« von Strawinsky. Für die Jury: Elisabeth Richter

Tasteninstrumente

Szymanowski: Klavierwerke

Karol Szymanowski: Preludes op. 1 Nr. 1, 2, 7, 8, Masques op. 34 Nr. 1-3, Mazurken op. 50 Nr. 13-16, Variationen über ein polnisches Volksthema op. 10. Krystian Zimerman. Deutsche Grammophon 486 3007 (Universal)

Hut ab, Krystian Zimerman, für eine mitreißende Aufnahme, die so detailliert wie vielschichtig die Handschrift des weithin unterschätzten Polen Karol Szymanowski (1880-1937) präsentiert. Dessen Musik erscheint vielen irgendwie »dazwischen«: zwischen Chopin und Bartók, zwischen Debussy und Strawinsky, zwischen Im- und Expressionismus, zwischen Folklore und Faible fürs Orientalische. Krystian Zimerman gelingt das Kunststück, all diese diversen Elemente zu einem in sich schlüssigen Szymanowski-Porträt zu verschmelzen. Und dieses Sowohl-als-auch-Dazwischen passt doch auch perfekt ins Hier und Jetzt. Für die Jury: Kalle Burmester

Tasteninstrumente

Belgian Symphonic Organ

Werke von Camille Jacquemin, Raymond Moulaert, Léon Jongen, Joseph Jongen, Jean-Marie Plum, Pierre Froidebise. Peter Van de Velde. SACD, Aeolus AE-11351 (Note 1)

Mit der belgischen Orgelsymphonik verhält es sich oft wie überhaupt mit Belgien, wenn es um den frankophonen Sprachraum geht. Gegenüber der »Grande Nation« Frankreich nimmt man das Land kaum wahr. Dass das ein Fehler ist, zeigt die Einspielung von Peter van de Velde eindrücklich. Namen wie Jacquemin, Moulaert, Plum oder Froidebise sind selbst in der Orgelszene kaum bekannt. Van de Velde hebt hier einen Schatz, den es noch viel intensiver zu entdecken gilt, und er tut dies an einem belgischen Instrument, das nicht besser dafür geeignet sein könnte. Hinzu kommt die bei Aeolus wie immer ausgezeichnete editorische Aufbereitung. Herausragend! Für die Jury: Guido Krawinkel

Oper

Jean-Baptiste Lully: Acis et Galatée

Cyril Auvity, Ambroisine Bré, Edwin Crossley-Mercer, Bénédicte Tauran, Robert Getchell, Deborah Cachet, Enguerrand de Hys, Philippe Estèphe, Les Talens Lyriques, Chœur de chambre de Namur, Christophe Rousset. 2 CDs, Aparté AP269 (harmonia mundi/Bertus)

»Acis et Galatée«, Lullys letzte vollendete Oper, findet selten Beachtung. Steht sie doch nicht nur im Schatten von Händels Vertonungen desselben antiken Mythos, sondern ist auch im Aufwand bescheidener als Lullys vorangegangene Opern. Mit seiner dramatisch straffen Einspielung zeigt Christophe Rousset, wie sehr ein solcher Zugriff der Stringenz der Handlung und der emotionalen Intensität der Figuren nützt. In leichtem Grundton erhellt das Ensemble Les Talens Lyriques die formalen Raffinessen des späten Lully, der der Figur des wütenden Riesen Polyphem auch komische Glanzlichter aufsetzt. Für die Jury: Michael Stallknecht

Oper

Nikolai Rimski-Korsakow: Die Nacht vor Weihnachten

Georgy Vasiliev, Julia Muzychenko, Enkelejda Shkoza, Alexey Tikhomirov, Andrei Popov, Frankfurter Opern- und Museumsorchester, Chor der Oper Frankfurt, Sebastian Weigle, Regie: Christof Loy. DVD/Blu-ray, Naxos 2.110738/NBD 0154V

Wie schafft Frankfurts Opernhaus des Jahres auch noch die »Aufführung des Jahres«? Vorhang auf – und: Bühnen-Zauber (Johannes Leiacker); Licht-Zauber (Olaf Winter); Darsteller-Zauber (Hexe, Teufel u.a. fliegen durch den Bühnen-Kosmos); Phantasie-Bezauberung (Schnee aus dem Plastiksäckchen; ein Primaballerina-Traum von »allem« und und und…); Klang-Zauber (GMD Sebastian Weigle, Orchester und Chor); Vokal-Zauber (Sopran Julia Muzychenko und Tenor Georgy Vasiliev vor einem Traum-Ensemble)… und schließlich Regie-Zauber von Christof Loy. Eigentlich ganz einfach! Für die Jury: Wolf-Dieter Peter

Chor und Vokalensemble

Mateo Flecha »El Viejo«: Ensaladas

El Fuego, El Toro u.a. Cantoría, Jorge Losana. Editions Ambronay AMY315 (Note 1)

Diese »Beilagensalate« zu politischen oder geistlichen Anlässen haben es in sich. Mit aller Metaphorik und allerlei Metrik und Melodik richtet Renaissancemeister Mateo Flecha seine »Ensaladas« an. Das Quodlibet-Rezept selbst schmeckt nach dem französischem »Fricassée« des »Küchenmeisters« Clément Janequin. Wo Töne dermaßen durch den Magen gehen, werden die ernsten Abstraktionen des Spirituellen wie Profanen köstlich sinnlich – und komisch wie Slapstick. Mit Witz und Temperament lässt Cantoría, ein Quartett vokaler Feinschmecker, diese sehr mediterrane Klangkulinarik auf Zunge und Stimmbändern zergehen. Für die Jury: Martin Mezger

Alte Musik

Vicente Lusitano: Motetten

The Marian Consort, Rory McCleery. Linn Records CKD 694 (Note 1)

Vicente Lusitano, Sohn einer Afrikanerin und eines Portugiesen, war wohl der erste schwarze Komponist der europäischen Musikgeschichte. Rory McCleery, der Leiter des englischen Vokalensembles »The Marian Consort«, hat Lusitanos einzigen, 1551 in Rom erschienen Druck entdeckt und präsentiert den spektakulären Fund erstmals in einer auch interpretatorisch überragenden Aufnahme. Die zehn Motetten entpuppen sich in ihrer dichten, komplexen Kontrapunktik wie in der kühnen Chromantik als Meisterwerke der Renaissance-Polyphonie. Das Marian Consort lässt ihre hohe Kunst in magischer Klarheit und Schönheit erstrahlen. Für die Jury: Uwe Schweikert

Zeitgenössische Musik

Brigitta Muntendorf: Trilogie für zwei Flügel, Theater des Nachhalls

GrauSchumacher Piano Duo. CD mit Blu-ray, bastille musique bm022 (rudi mentaire distribution)

Diese Trilogie für zwei Klaviere, Live-Elektronik und Zuspielung hat es in sich, zumal ihr die audiovisuelle Konzertinstallation »Theater des Nachhalls« an die Seite gestellt ist. Das faszinierend virtuose Piano Duo GrauSchumacher begegnet der Musik Brigitta Muntendorfs mit dem Versuch, ihrer Vergänglichkeit entgegenzutreten. Dabei haben auch die Stimmen der beiden Pianisten einen besonderen Stellenwert, wenn sie sich z.B. über Anwesenheit oder Bedeutung der von ihnen erzeugten Klänge äußern: »Ich wünschte, das klang, wie es nie wieder klingen wird.« Es klang so! Für die Jury: Marita Emigholz

Grenzgänge

Barry Guy, London Jazz Composers Orchestra: Kraków 2020

6 CDs, Not Two Records MW-2 1027-2 (Direktvertrieb)

Mit einem großen Ensemble erstklassiger, aus ganz Europa angereister Improvisatoren drei Tage lang durchweg spannende Verlaufsformen zu entwickeln und das Ganze schließlich auf sechs CDs zu dokumentieren, gleicht einer Glanzleistung. Das vom Kontrabassisten Barry Guy gegründete London Jazz Composers Orchestra feierte mit den Konzerten in Kraków sein 50-jähriges Bestehen und demonstrierte zugleich auf eindrucksvolle Weise die unverminderte Aktualität einer Synthese aus spontanem Spiel und struktureller Einflussnahme, hochindividuellen Musiksprachen und gemeinsam realisierter Klanggestalt. Für die Jury: Bert Noglik

Filmmusik

John Williams: The Fabelmans

(Original Motion Picture Soundtrack). Joanne Pearce Martin, Studioorchester, John Williams. Digital, Sony Classical 196587800727

31 Filme haben Regisseur Steven Spielberg und Komponist John Williams seit 1974 miteinander herausgebracht. »The Fabelmans« markiert vermutlich den Schlusspunkt dieser Zusammenarbeit: nicht mit einem lauten Schlussakkord, sondern eher auf minimalistische Art. Im Zentrum steht das Klavier der Mutter, einer verhinderten Konzertpianistin, der Spielberg maßgeblich seine Karriere verdankt. Ihr nostalgisch-sentimentales Hauptthema zieht sich wie ein roter Faden durch die Handlung. Diese bewusste Reduzierung – auch in der Orchesterbesetzung – verrät Größe und filmisches Einfühlungsvermögen zugleich. Für die Jury: Matthias Keller

Musikfilm

»Fuoco sacro« – A Search for the Sacred Fire of Song

Ein Film von Jan Schmidt-Garre. Asmik Grigorian, Barbara Hannigan, Ermonela Jaho. DVD/Blu-ray, Naxos 2.110710/NBD 0141

Jan Schmidt-Garre ist mit seinem Film das Kunststück gelungen, drei Ausnahmesängerinnen in ihrer Persönlichkeit und Gestaltungskunst sehr nahe zu kommen. Wir erleben Asmik Grigorian, Ermonela Jaho und Barbara Hannigan nicht nur im Gespräch oder in Proben- und Aufführungssituationen, sondern auch dabei, wie sie Mitschnitte ihrer Performances abhören und kommentieren, was ihnen dabei auf der Bühne durch den Kopf geht. Der Film gewährt faszinierende Einblicke in die körperlichste, intensivste Form des Musikmachens. Für die Jury: Juan Martin Koch

Jazz

Martial Solal: Live In Ottobrunn

2 CDs, Edition Collage EC 607-2 (Edel)

Mit 91 Jahren beschloss der französische Jazzpianist Martial Solal, nun sei es genug. Und das, obwohl der Virtuose bei seinem vorletzten Konzert am 14. Dezember 2018 keinesfalls alt und verbraucht wirkte. Voll Spielwitz, Humor und Spaß an Überraschungen griff er bei diesem Soloabend in die Tasten und ließ Jazzstandards wie weniger Bekanntes in einem individuellen Stilmix aufleben. Er deutet die Themen an, er wechselt Rhythmen und Tempi, er schweift ab, er stoppt die Hauptmelodie und holt sie aus der Begleitung in einer verblüffend neuen Form wieder hervor: ein brillantes Abschiedskonzert. Für die Jury: Werner Stiefele

Jazz

Michael Wollny Trio: Ghosts

CD/LP, ACT 9956-2 (Edel)

Wollny lässt wieder Phantome tanzen. Seine Heimsuchung durchs Geisterreich ließ die britische »Times« gar von einem neuen Genre schwärmen: Gothic Jazz. Dieses Etikett ist zwar auch eine Art Spukschloss, zeigt aber, wie unheimlich uns der Pianist (mit Tim Lefebvre am Bass und Eric Schaefer an den Drums) in der Geisterbahn in Atem hält. Ein Faible fürs Schaurige hat Wollny schon lange. Mit »Ghosts« krönt er die Versammlung der Gespenster: Sound-Verwehungen von Schuberts »Erlkönig« bis zu Ellingtons »In A Sentimental Mood«. – »Songs sind wie Geister«, so der Meister. Es lebe die Hauntology! Für die Jury: Guenter Hottmann

Weltmusik

Callejera: La Perla

Digital, Mambo Negro Records (Direktvertrieb)

Von den Straßen Bogotás auf die Bühnen dieser Welt. Schon seit acht Jahren ziehen die drei Frauen von La Perla rund um den Globus. Und doch ist »Callejera« die erste komplette Studioproduktion von Karen Forero, Giovanna Mogollón und Diana Sanmiguel. Kolumbien ist ein Land des Chorgesangs, der Trommeln und Flöten. In den Städten blüht der Hip-Hop. Das ist die musikalische Melange von La Perla. Ihre Themen sind soziale Ungerechtigkeit, Frauen-Power, Solidarität, auch gegenüber der Natur. Interpretiert wird diese Haltung mit Stolz, Engagement und Glaubwürdigkeit. Für die Jury: Jodok W. Kobelt

Traditionelle Ethnische Musik

Prima Materia – Al-Rahem Al-Aoual

Sanstierce, Ars Choralis Coeln, Nouruz Ensemble. Heaven & Earth HE 29 (Direktvertrieb)

Aus dem Urgrund des Seins, dem Schoß der Mutter, Mater, Maria in Bibel und Koran, PRIMA MATERIA – dieser Kosmos wird hier Musik. Das Titelbild der CD zeigt die Vision vom Lebenskreis, die Hildegard von Bingen selbst gestaltete. Ihre tausendjährigen Melodien fließen ein wie auch Melismen und Rhythmen der arabisch-islamischen Musik. Gewiss ist es eine Sache des Glaubens, der großen interkulturellen Begegnung, in die man eingesponnen wird: im Geist der Gregorianik, der frühen deutschen Mystik und eines Lyrikers aus Bethlehem. Eine unglaubliche Gemeinschaftsarbeit nach Ideen von Maria Jonas und Bassem Hawar. Für die Jury: Jan Reichow

Liedermacher

Helmut Debus: Angst legg di slapen

Fuego 3396-2 (Jaro Medien)

Seinesgleichen ist nirgendwo zu hören von Rostock bis Garmisch. Das gilt auch für dieses Album. Ein Meisterwerk. Helmut Debus macht seit 50 Jahren von der Wesermarsch aus per Plattdeutsch, Gitarre, Band plus reifender sonorer Stimme emotionale Bewegtheit spürbar. Müßig, seine seelentiefe Mundartpoesie nicht sogleich Wort für Wort zu verstehen. Schon die ersten aufgeschnappten Textfragmente wirken wie das Aroma der auch zeitkritischen Botschaften. Sie sind Dylan und Waits, Cohen wie Jeff Hardy verhalten zugetan. Alles vermittelt durch edel schmelzende, aber nie schmalzige Sounds. Debus steht längst in einer Reihe mit May, Wader, Wecker oder Wenzel. Für die Jury: Jochen Arlt

Folk und Singer/Songwriter

Breabach: Fàs

Breabach Records BRECD7 (Bertus)

Die achte CD der fünf Schotten, die seit über 15 Jahren mit der Doppeldröhnung der Drones, sprich: zweier Highland Bag Pipes, aktiv sind. Den roten inhaltlichen Faden bilden Umweltschutz und Regeneration gemäß dem Albumtitel, der so viel wie wachsen, entwickeln oder sprießen bedeutet. Diese Inhalte bettet das Quintett in einen mehrschichtigen Sound ein, in dem unendlich viele Klangideen versteckt sind. Und nicht nur das, die Produzentin Inge Thomson hat auch ein Augen- oder besser Ohrenmerk auf diverse rhythmische Feinheiten gelegt. Ein Meisterwerk zeitgenössischer schottischer Folkmusik! Für die Jury: Mike Kamp

Pop

Arctic Monkeys: The Car

CD/LP/MC, Domino Records WIGCD455 (GoodToGo)

Es ist ein Album der Transformation. Zwei Jahrzehnte nach ihren Anfängen wagen die Arctic Monkeys den Schritt in die Ungewissheit. »The Car« bietet keine Stadionhymnen, keine Garagen-Sounds mit Indie-Mythen, sondern starkes, erwachsenes Songwriting rund um das Thema Selbstwahrnehmung und Gesellschaft. Alex Turner und sein Team blicken zurück auf Erfolg und Starrummel, ohne Nostalgie und mit den musikalischen Mitteln eines im Mid-Tempo gehaltenen Gitarrenrocks, über die Stimme stellenweise gewagt, aber gekonnt ornamentiert. Dabei geht es auch ums künstlerische Altern im Kontext musikalischer Jugend. Die Arctic Monkeys schaffen diese ästhetische Verwandlung mit Bravour. Für die Jury: Ralf Dombrowski

Rock

Jeb Loy Nichols: The United States Of The Broken Hearted

CD/LP, On-U Sound ONUCD161 (Rough Trade)

Der seit zehn Jahren im ländlichen Wales lebende Amerikaner Jeb Loy Nichols rät seinen Mitmenschen: Don’t get rich. Aufgewachsen mit Country und Soul, stieß er im London der 80er auf Punk, Reggae, Hip-Hop und Dub, bewohnte besetzte Häuser und strebte das Unmögliche an: die Verbindung von Urban und Folk. Nun realisiert er seine Vision einer Cosmic American Music, die Platz für viele bietet: Woody Guthrie, Johnny Cash, Elvis Presley, alles verarbeitet in Nichols’ country-souligem Reggae Style. Produzent Adrian Sherwood bereichert ihn um feine Dub-Nuancen, rundet das Ganze aus einem radikalen Geist mit alter Seele und musikalischer Tiefenkenntnis zu einem stimmigen Album. Für die Jury: Christine Heise

Hard und Heavy

Candlemass: Sweet Evil Sun

CD/2 LPs, Napalm Records NPR1052DGS (Universal)

Mit ihrem Comeback-Album »The Door To Doom« und der Wiederkehr von Ur-Sänger Johan Langquist war Candlemass 2019 ein echter Coup gelungen. Auch mit »Sweet Evil Sun« wissen die Skandinavier zu überraschen: Band-Kopf Leif Edling hat dem Frontmann individuelle Gesangslinien auf den Leib geschrieben. Es gibt mehr Doom-Elemente, weniger Epic-Metal-Anteile. Die Songs wirken langsamer, minimalistischer, dennoch dynamisch und eingängig. Dezente Hammonds, Ohohohoh-Backing-Vocals, unpolierte Gitarrenklänge verleihen dem Sound latentes 70er-Flair. Und Eigenständigkeit innerhalb des Band-Œuvres. Für die Jury: Felix Mescoli

Alternative

Die Nerven

CD/LP, Glitterhouse Records 4015698053173 (Indigo)

Das Stuttgarter Trio trifft den Nerv düsterer Zeiten – mit Post-Punk, der zugänglich genug ist, dass niemand den scharfsinnigen Beobachtungen zu unserer Gegenwart ausweichen kann. Brachiale Gitarren, Drums und Gesang ziehen bombastische Soundwände hoch, die in sich zusammenfallen. Sehnsucht nach Hoffnung schwingt mit. So hart die Musiker uns ihre ungeschönte Gesellschaftskritik um die Ohren hauen, es kommt Erleichterung auf, dass all das ausgesprochen wird. Auch deshalb sind die Drei mit dieser in puncto Songwriting, Produktion und Textgespür großartigen Platte zu einer der wichtigsten deutschen Bands geworden. Für die Jury: Sandra Gern

Club und Dance

Massimiliano Pagliara: See You In Paradise

2 LPs/DL, Permanent Vacation PERMVAC247-1 (Rough Trade)

»See you in paradise«, so verabschiedet sich Hi-NRG-Pionier Patrick Cowley in seinem Tagebuch Ende der 70er von einem Liebhaber. Was für den an AIDS verstorbenen Produzenten zu früh traurige Realität wurde, inspirierte den italienischen Wahlberliner Massimiliano Pagliara zu seinem jüngsten Album. Darauf liefert der Panorama-Bar-Resident nicht nur Disco-infizierte Dancefloor-Banger, sondern bildet zwischen Dub Techno, Acid, New Wave und Chicago House die Bandbreite seiner Virtuosität ab. Pagliara trifft den sweet spot zwischen Weltschmerz und enthemmter Euphorie auf dem Dancefloor: Himmlisch! Für die Jury: Laura Aha

Electronic und Experimental

Y Bülbül, Yumurta: Not One, Not Two

DL/LP, Pingipung 076 (Kompakt)

Bülbül ist der türkische Name für die Nachtigall, und Yumurta bedeutet Ei. Das mag die Frage aufwerfen, was zuerst war: die improvisierten Percussion-Tracks des Istanbuler Musikers Yumurta oder die synthetisch-realen Ambient-Dub-Kraut-Sounds des in London lebenden Multiinstrumentalisten Y Bülbül, die zwischen den beiden Städten hin- und hergeschickt wurden. Die Musik lässt solche Fragen obsolet werden. Das Ergebnis des musikalischen Austauschs ist – wieder ein naheliegendes Wortspiel – »Not One, Not Two«, sondern ein facettenreiches Klang- und Groove-Kaleidoskop. Für die Jury: Guido Halfmann

Blues

Larkin Poe: Blood Harmony

CD/LP, Tricki-Woo Records TWR01CD (Indigo)

Die Schwestern Rebecca und Megan Lovell, die sich als Band nach einem ihrer Vorfahren Larkin Poe nennen, schicken sich mit ihrem achten Album »Blood Harmony« an, den Southern Rock – eine seit den Siebzigern populäre Spielart des Blues-Rock, die Elemente der in den US-Südstaaten heimischen Genres wie Country, Gospel, Soul und Jazz in sich aufnimmt – zu neuer Blüte zu führen. Die aus Atlanta stammenden, mittlerweile in Nashville lebenden Sängerinnen, Songschreiberinnen und Multiinstrumentalistinnen setzen die Musik unter (Stark-)Strom, ohne dabei die »Roots« zu kappen. Für die Jury: Christian Pfarr

Wortkunst

Franz Schubert/Wilhelm Müller/Stefan Weiller: Die schöne Müllerin

Brigitta Assheuer, Jens Harzer, Dagmar Manzel, Klavier: Hedayet Djeddikar. 2 CDs, speak low ISBN 978-3-948674-14-4

Schuberts Liederzyklus bildet den Grund für dieses berührende und einfühlsam komponierte Hörbuch. Musik und Gedichte werden mit heutigen Schicksalen voller Liebesleid und Verzweiflung, Abstieg und Verrat verknüpft. Stefan Weiller hat in Beratungsstellen, Obdachlosenunterkünften und Frauenhäusern traurige Lebensgeschichten notiert, die hier eindrucksvoll interpretiert werden. Wenn Dagmar Manzel etwa in die Rolle der Frau schlüpft, die nach langer Ehe von ihrem Mann verlassen wurde, kein Geld mehr und nun auch noch Krebs hat, hört man den typisch berlinerischen Trotz gegen das Schicksal: Ich lasse mich nicht unterkriegen. Für die Jury: Manuela Reichart

Kinder- und Jugendaufnahmen

Jens Digel: Vielfalter

Eigenverlag 4064832932157 (Direktvertrieb)

Beim Öffnen der CD-Hülle entfalten sich ihre Flügel. Solch liebevoll gestaltete Details machen neugierig auf die 13 Lieder, die Jens Digel getextet und in Musik gesetzt hat, die er auch selbst singt: inspirierende Miniaturen der inneren Stärkung, der Fantasie, der lebensfrohen Bejahung, des verspielten Sprachjonglierens für die Jüngeren. Farbenfroh wie das ausführliche Booklet ist die musikalische Gestaltung, die eifrig mitsingende Kinder miteinbezieht. Ein schwungvoller Hörspaß, bei dem auch Erwachsene sicherlich nicht so schnell müde werden. Für die Jury: Regina Himmelbauer

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