Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

NEU: Longlist 4/2024, veröffentlicht am 5. Oktober 2024

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Saint-Saëns: Poèmes Symphoniques

Camille Saint-Saëns: Bacchanale aus »Samson et Dalila«, Phaéton, La jeunesse d’Hercule, Le rouet d’Omphale, Danse macabre. Sinfonieorchester Basel, Ivor Bolton. Prospero PROSP 0060 (Note 1)

Ivor Bolton, seit 2016 Chef des Sinfonieorchesters Basel, hat das französische Repertoire mit großem Erfolg stark akzentuiert. Die vorliegende CD mit drei weniger bekannten und zwei bekannteren Symphonischen Dichtungen von Saint-Saëns ist eine äußerst gelungene Huldigung zum 100. Geburtstag des Komponisten. Werke wie »Phaeton« oder »La Jeunesse d’Hercule« sind erstaunlicherweise im Konzertsaal selten zu hören. Das Ergebnis ist eine in allen Facetten überzeugende Produktion: kontrastreich, transparent und schlank im Klang mit farbenreicher Ausdrucksskala. Für die Jury: Peter Stieber

Orchestermusik und Konzerte

Takemitsu: Spectral Canticle

Tōru Takemitsu: Spectral Canticle; To the edge of dream; Vers, l’arc-en-ciel, Palma; Twill by twilight. Jacob Kellermann, Viviane Hagner, Juliana Koch, BBC Philharmonic, Christian Karlsen. SACD, BIS Records BIS-2655 (Klassik Center Kassel)

Nicht nur die Erstaufnahme von »Spectral Canticle«, dem letzten Werk von Tōru Takemitsu, verleiht dieser Sammlung von Orchesterwerken des japanischen Komponisten besonderen Rang. Das Programm kombiniert sinnfällig Takemitsus bedeutendsten Spätwerke, die zwischen 1983 und 1995 entstanden, und wirft ein erhellendes Licht auf Wesenszüge seiner hoch expressiven Tonsprache, die von raffinierter Farbigkeit und Lyrik lebt. Orchester und Dirigent, die Geigerin Viviane Hagner, der Gitarrist Jacob Kellermann und die Oboistin Juliana Koch sind feinsinnige Gestalter dieser Hommage an Takemitsu. Für die Jury: Norbert Hornig

Kammermusik

Haydn: Streichquartette op.33

Joseph Haydn: Streichquartette op.33 Nr. 1-3. Chiaroscuro Quartet. SACD, BIS Records BIS-2588 (Klassik Center Kassel)

Von einem Glücksfall kann man eigentlich nur sprechen, wenn ein Ensemble gestalterische Eloquenz mit hörbarer Spielfreude verbindet, instrumentales Können mit selbstverständlicher Lässigkeit, tiefes Eintauchen in eine Klangwelt, ohne dabei im Schlamm falscher Gefühligkeit zu versinken. Beim Chiaroscuro Quartett ist das alles der Fall. Die Vier integrieren dabei Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis, auch in der Instrumentenwahl. Alles in allem zieht ihr Spiel auch auf ihrer jüngsten CD mit Haydns ersten drei Quartetten op. 33 vergnüglich an den verschiedensten Nervensträngen seiner Zuhörerschaft. Das kann süchtig machen. Für die Jury: Benjamin Herzog

Kammermusik

Beethoven: Sämtliche Violinsonaten Vol. 1

Ludwig van Beethoven: Violinsonaten op. 12/2, op. 24, op. 47. Antje Weithaas, Dénes Várjon. CAvi 8553512 (Bertus)

Benötigt man noch eine weitere Gesamteinspielung aller Violinsonaten von Beethoven? Dieser Auftakt mit Antje Weithaas und Dénes Várjon beweist eindeutig: unbedingt! Beethoven erscheint in schönster Vollkommenheit. Revolutionäres, Emotionales, Unerhörtes. Aber mehr noch: Violine und Klavier finden in beeindruckender Selbstverständlichkeit zusammen, alle Schwierigkeiten dieser Werke scheinen wie weggewischt. Technische Perfektion in bislang kaum gekannter Souveränität paart sich mit geradezu beglückender Musikalität und Durchdringung. Diese Aufnahmen setzen höchste Maßstäbe. Für die Jury: Andreas Göbel

Tasteninstrumente

Fantasie. 7 Composers. 7 Keyboards

Werke für Tasteninstrumente von Johann Sebastian Bach, Carl Philipp Emmanuel Bach, Wolfgang Amadeus Mozart, Felix Mendelssohn, Frédéric Chopin, Ferruccio Busoni, Alfred Schnittke. Alexander Melnikov. harmonia mundi HMM 902702

Fantasie ohne Grenzen gibt es nicht: Jede Zeit, jeder Stil, jedes Instrument stellt der Kreativität Schranken in den Weg. Alexander Melnikov führt das an sieben Komponisten vom Barock bis in die Moderne auf sieben jeweils zeit-typischen Tasteninstrumenten vor. Das Museale ist dabei Nebensache. Das Programm ist so geschickt aufgebaut und so spannend musiziert, dass die Stationen auf dem Weg vom Cembalo bis zum Steinway-Flügel einander quasi gegenseitig befruchten. Die Fantasie bekommt laufend neue Nahrung. So öffnen sich Schranken, der Hörkosmos wird weiter, reicher und vielfältiger. Für die Jury: Kalle Burmester

Tasteninstrumente

Flamboyant Bien-Aimé: Le clavecin de Louis XV

Cembalowerke von Jean-Philippe Rameau, Claude Balbastre, Gabriel Dubuisson, Jacques Duphly u.a.. Clément Geoffroy. Château de Versailles Spectacles CVS108 (Note 1)

Während sich im übrigen Europa das Fortepiano zu etablieren beginnt, entsteht in Frankreich vor der französischen Revolution noch einmal eine Vielzahl virtuoser Cembalomusik. Zu den bedeutendsten Komponisten zählen u.a. Balbastre, Duphly, Rameau oder Forqueray, die unzählige »Pièces de Clavecin« hinterlassen haben. Dem jungen Cembalisten Clément Geoffray gelingt eine klanglich äußerst luzide und fantasievolle Interpretation dieses virtuosen und stilistisch vielfältigen Repertoires. Ein Klangzauber, der zudem von einem sehr reichhaltigen wie informativen Booklet begleitet wird. Für die Jury: Yvonne Petitpierre

Oper

Francesco Cavalli: L’Egisto

Marc Mauillon, Sophie Junker, Zachary Wilder, Ambroisine Bré, Romain Bockler, Le Poème Harmonique, Vincent Dumestre. 2 CDs, Château de Versailles Spectacles CVS076 (Note 1)

Eine klassische Schäfergeschichte, mal anders: Die beiden Paare verlieben sich überkreuz, die Emotionen kochen hoch und kulminieren in einer großen Wahnsinnsszene – eine »Così fan tutte« des Frühbarock. Francesco Cavalli übersetzte die Dramatik von Giovanni Faustinis Libretto in eine affektgeladene, verführerisch schöne Musik, und Vincent Dumestre, der die Partitur von 1643 ausgegraben hat, verhilft ihr zum prallen Leben. Die Solisten brillieren mit stilsicherer Deklamation, unterstützt durch eine die Affekte klug unterstreichende Instrumentierung. Venezianischer Frühbarock wird zum Leuchten gebracht. Für die Jury: Max Nyffeler

Oper

Eugen Engel: Grete Minde

Raffaela Lintl, Zoltán Nyári, Kristi Anna Isene u.a., Opernchor des Theaters Magdeburg, Magdeburgische Philharmonie, Anna Skryleva. 2 CDs, Orfeo C260352 (Naxos)

Eine junge Frau zündet aus Rache für erlittenes Unrecht ihre Heimatstadt an und kommt selbst im Feuer um. Das ist der dramatische Endpunkt der Oper »Grete Minde« von Eugen Engel (1875-1943). Der deutsch-jüdische Textilkaufmann war als Komponist im Wesentlichen Autodidakt. Er starb im Vernichtungslager Sobibor, sein Werk wurde erst 2006 aus dem Familienbesitz publik, die Uraufführung fand 2022 in Magdeburg statt. Der von Anfang an leidenschaftliche Einsatz von Anna Skryleva und allen Beteiligten entreißt eine spätromantisch-farbintensive Oper mit erstaunlich eigener Note dem Vergessen. Meisterlich. Für die Jury: Karl Harb

Chor und Vokalensemble

Ligeti: Sämtliche Werke für Chor

György Ligeti: Sämtliche Werke für Chor a cappella. SWR Vokalensemble, Yuval Weinberg. 2 CDs, SWR Classic SWR19128CD (Naxos)

György Ligetis A-cappella-Werke füllen zwei Stunden und zwei CDs, umfassen aber ein weites Spektrum der Stile vom Choral über ungarische Volksmusik-Bearbeitungen bis zu mikrotonalen Cluster-Kompositionen: »gefundenes Fressen« für einen hochprofessionellen Allrounder-Chor wie das SWR-Vokalensemble. Unter Leitung des jungen Chefdirigenten Yuval Weinberg präsentieren die Sängerinnen und Sänger aus Stuttgart eine glänzende Hommage zum 100. Geburtstag des Komponisten: mal nüchtern, mal theatralisch, sehr intonationssicher, in den Höhen makellos und dabei ungemein klangsinnlich. Spitzenklasse! Für die Jury: Susanne Benda

Klassisches Lied und Vokalrecital

Contra-Tenor

Arien von Jean-Baptiste Lully, Georg Friedrich Händel, Antonio Vivaldi, Leonardo Vinci, Nicola Porpora u.a.. Michael Spyres, Il pomo d’oro, Francesco Corti. Erato 5054197293467 (Warner)

Wie kein zweiter sprengt der Tenor Michael Spyres die Kategorien seines Fachs. Nachdem er im vergangenen Jahr als »Bari-Tenor« sowohl Bariton- als auch (sehr hoch liegende) Tenor-Arien mit einer Stimme präsentiert hatte, widmet er sich auf seiner Folge-CD einem Phänomen des 18. Jahrhunderts: dem Contra-Tenor, der, die Kastraten ablösend, das goldene Zeitalter der hochbarocken Gesangskunst, des Belcanto, einleitete. Der Amerikaner verblüfft mit schwindelerregenden Koloraturen, Arpeggien, Trillern, Doppelschlägen, Mordenten – immer aber im Dienst der musikalischen Expression. Für die Jury: Jürgen Kesting

Alte Musik

Ein Deutsches Barockrequiem

Werke von Andreas Scharmann, Johann Hermann Schein, Christian Geist, Andreas Hammerschmidt u.a.. Vox Luminis, Lionel Meunier. Ricercar RIC 445 (Note 1)

Mit dreizehn Stücken von neun Komponisten wird auf dieser CD der Frage nachgegangen, wie Brahms’ besondere Textauswahl für das »Deutsche Requiem« schon im 17. Jahrhundert vertont worden wäre. Das Ergebnis ist ein beeindruckendes Zeugnis barocker »Ars moriendi« mit einer berührenden Atmosphäre voller Demut, Trost und Zuversicht. Vox Luminis trifft den lutherischen Predigtton dieser Musik perfekt und arbeitet auf der Basis eines ungemein fülligen Vokal- und Instrumentalklangs sehr detailgenau, ohne die weiten Bögen und den organischen Fluss zu vernachlässigen. Für die Jury: Matthias Hengelbrock

Zeitgenössische Musik

Gérard Grisey: Dérives

WDR Sinfonieorchester, Katrien Baerts, Kora Pavelić, Sylvain Cambreling, Emilio Pomàrico. bastille musique bm024 (rudi mentaire distribution)

Sein früher Tod vor 25 Jahren war ein Schock. Was bleibt, ist ein Schaffen, das vielgestaltiger ist als das Label »Spektralmusik«. Das offenbart dieses Grisey-Porträt. Alles beginnt mit einem Scherz: Während das Publikum applaudiert, scheint sich das Orchester in »Dérives« einzustimmen, doch es erwächst ein klangsinnlicher Organismus. In »L’icône paradoxale« wird der Wandlungsprozess um zwei Gesangsstimmen samt Echowirkungen ergänzt. Mustergültig die Ausgestaltungen: Hier glühen Leidenschaften, die einen ungeheuren Sog entfachen. Mit »Mégalithes« von 1969 ist eine Ersteinspielung vertreten. Für die Jury: Marco Frei

Historische Aufnahmen

The Art of Erica Morini

Werke von Peter Tschaikowsky, Max Bruch, Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms, César Franck, Giuseppe Tartini u.a.. Erica Morini, Igor Kipnis, Albert Fuller, Felix Galimir u.a., Royal Philharmonic Orchestra, Radio-Symphonie-Orchester Berlin u.a.. 13 CDs, Deutsche Grammophon 0028948632558 (Universal)

Die 1904 in Wien geborene, hoch begabte Erica Morini gehörte schon früh zu den wenigen Geigerinnen, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf dem Konzertpodium etablieren konnten. Diese wertig aufgemachte Edition enthält alle Aufnahmen, die Morini zwischen 1955 und 1965 für Westminster, Deutsche Grammophon und American Decca einspielte. So ist ein aussagekräftiges Porträt entstanden. Wir erleben Morini als eine tonschön und unprätentiös gestaltende Geigerin, die nie den Effekt suchte und vielen ein Vorbild war. Für die Jury: Norbert Hornig

Grenzgänge

Christopher Dell: Monodosis III

CD/LP/Digital, edition niehler werft enw 015 (Direktvertrieb)

»Monodosis III« ist das dritte Experiment von Christopher Dell, dem Begründer eines »Instituts für Improvisationstechnologie« auf der Insel Hombroich. Musizieren in offener Form versteht Dell nicht als Reparaturbetrieb, sondern als konstruktives Handeln mit Unbestimmtheit, als Umgang mit dem Nicht-Kalkulierbaren in Gefügen menschlicher und nicht-menschlicher Akteure. Das Vibraphon wird weder perkussiv beharkt noch (wie das Triangel in Georg Kreislers Chanson) illustrativ getupft. Achtsamkeit, Hingabe an die Bewegung des Klangs im Raum sind gefragt bei dieser CD – Risiken sowie Nebenwirkungen beabsichtigt! Für die Jury: Nikolaus Gatter

Filmmusik

Daniel Pemberton: Spider-Man

Across The Spider-Verse (Original Score). Digital, Sony Classical G0100050589533

Nach fünf Jahren kehrt der Brite Daniel Pemberton, Jahrgang 1977, zurück ins »Spider-Verse« – mit einem Soundtrack, der die ganze stilistische Bandbreite des Komponisten zeigt. Denn Spider-Man, Spider-Woman und sämtliche Mitstreiter dieses »Spiderversiums« erhalten ihre ganz eigenen Charakterthemen – von Miguel O’Haras Techno-Sound über Spider-Punk und -Rock bis hin zu indischen Klängen. Ohne Zweifel einer der ambitioniertesten Soundtracks der jüngeren Kinogeschichte! Für die Jury: Matthias Keller

Musikfilm

Dancing Pina

Ein Film von Florian Heinzen-Ziob. Blu-ray, mindjazz pictures 6422680 (Alive)

Pina Bauschs Erbe in zwei Welten: Glucks »Iphigenie« in Dresden, Strawinskys »Sacre« im Senegal. Klassizismus reibt sich mit archaischer Moderne. Die Probenräume der Semperoper kontrastieren mit sonnengleißenden offenen Studios, die Anmut des europäischen Ballettensembles unterscheidet sich diametral von den kraftvollen Tänzern an der Westküste Afrikas. Beide Gruppen kämpfen mit der gleichen Herausforderung: die einstudierten Körperbewegungen wirklich zu fühlen und damit die Figuren der Werke in sich selbst zu entdecken. Eine hinreißend gefilmte Hommage an das Tanztheater. Für die Jury: Andreas Kunz

Jazz

Richie Beirach: Leaving

(A Solo Piano Concert). Jazzline D 77126 (Broken Silence)

Dies ist das erste Live-Soloalbum des Pianisten seit 1981 und für ihn in mehrfacher Hinsicht besonders. Auf einem Weingut in Südfrankreich spielt Richie Beirach vor einem kleinen Publikum bekannte Standards, darunter zwei aus eigener Feder. »Leaving« zählt längst selbst zum Standards-Repertoire. Die meisten Stücke bilden Medley-Paare. Schon der neue Kontext, die Paarungen, die Übergänge vom einen zum anderen setzen die altgedienten »Schlachtrösser« des Jazzkanons in neues Licht. Schlichtweg großartig ist, wie Beirach sich an die Themen heranimprovisiert. Für die Jury: Berthold Klostermann

Jazz

Arooj Aftab, Vijay Iyer, Shahzad Ismaily: Love In Exile

CD/2 LPs, Verve 0060202448967640 (Universal)

Klänge jenseits unserer festgefügten Kategorien, mystisch anmutende, andächtige, tief in spiritueller Tradition fundierte Klänge und zugleich auch aktuelle Sounds mit starker Suggestivkraft entstehen in diesem Zusammenwirken. Arooj Aftab, die aus Pakistan stammende, mit großer Kunstfertigkeit und enormem Improvisationstalent aufstrebende Sängerin, findet im Pianisten Vijay Iyer und dem Bassisten Shahzad Ismaily, die beide auch an Synthesizern agieren, zwei hochsensible Partner. Gemeinsam gelingt es ihnen, große Bögen auszugestalten und die Zuhörenden in die Magie einzubeziehen. Für die Jury: Bert Noglik

Weltmusik

Samuel Blaser: Routes

CD/LP, Enja & Yellowbird 7835 (Edel)

Ein Brückenschlag über Raum und Zeit: Der Schweizer Posaunist Samuel Blaser ehrt seinen jamaikanischen Vorgänger Don Drummond (1934-1969), einen Pionier des Ska mit starkem Jazz-Appeal, dessen Leben so tragisch endete. Eine profilierte internationale Besetzung (Soweto Kinch, Michael Blake, Ira Coleman, Dion Person u.a.), ein Latin-Touch durch Pianist/Organist Alex Wilson, ein Posaunenchor im Stück »Green Island« und ein Gastauftritt des inzwischen verstorbenen, exaltierten Reggae-Musikers Lee »Scratch« Perry sorgen für die swingenden Höhepunkte des stilistisch bunten, auch musikalisch farbenfrohen Albums. Für die Jury: Johann Kneihs

Traditionelle Ethnische Musik

Driss El Maloumi: Aswat

CD/LP, Contre-Jour cj038 (Broken Silence)

Die orientalische Laute Oud gilt in der arabischen Welt als Königin der Instrumente; ihr zarter Klang betört die Sinne und lässt die Zeit stillstehen. Der marokkanische Meister Driss El Maloumi legt mit »Aswat« ein poetisches Album vor: musikalische Miniaturen, in denen das Flüstern der Bäume, das leise Rauschen des Regens, die Rufe und Geräusche in den Straßen von Agadir hörbar werden. In seiner Heimatstadt an der Atlantikküste leitet Maloumi das Konservatorium. Seine Konzertreisen führen ihn in die ganze Welt, wo er mit herausragenden Interpretinnen und Interpreten verschiedenster Genres musiziert. Für die Jury: Tom Daun

Liedermacher

Jan Degenhardt: Inshallah

Sturm & Klang Musikverlag S+K 076 (Alive)

Flucht und Migration sind zentrale Themen der vierten CD von Jan Degenhardt – und im Titelstück »Inshallah« wählt er eine besondere Perspektive: Ein Mensch aus dem Irak erzählt von der Solidarität, die schnell verschwand. Als sie – oder er – protestierte gegen die Mächtigen, waren noch alle dabei; dann aber fielen die Menschenrechte vom Himmel (in Form amerikanischer Bomben) und wurden zugleich zerstört – im Folter-Gefängnis von Abu Ghraib. »Wo warst Du da?«, fragt das Lied. Und jetzt, wo Islamisten das Erbe des Widerstands missbrauchen – wo sind wir jetzt? Melancholisch erzählt Jan Degenhardt vom Verlust der Menschlichkeit. Für die Jury: Michael Laages

Folk und Singer/Songwriter

the Young’uns: tiny notes

CD/LP, Hudson Records HUD036 (Rough Trade)

the Young’uns: tiny notes. CD/LP, Hudson Records HUD036 (Rough Trade)
The Young’uns sind ein vorwiegend a cappella singendes Trio aus dem Nordosten Englands. Auf diesem Album unterstützen Arrangements mit Piano und Streichern die bestens aufeinander eingestellten Stimmen. Sean Cooney, David Eagle und Michael Hughes widmen ihre Lieder Heldinnen und Helden »von nebenan«. Mit der Nutzung überlieferter musikalischer Formen erzielen sie eine starke emotionale Wirkung und sind dennoch aktuell. Ohne Politik direkt zu erwähnen, geben sie ein starkes Statement für Humanität und das Überwinden von Spaltungen ab. Für die Jury: Almut Kückelhaus

Rock

Bob Dylan: Shadow Kingdom

CD/2 LPs, Sony Music 19658767492

Bob Dylans Soundtrack aus der Corona-Zeit wirkt wie die Live-Aufnahme eines Privatkonzerts, ist aber die von der Filmemacherin Alma Har’el durchkomponierte Illusion eines solchen. In der schummrigen Schwarzweißwelt eines Nachtclubs, unterstützt von schutzmaskierten Schauspielern, führt Dylan durch einen Reigen seiner zeitlosen Songs – von »It’s All Over Now, Baby Blue« bis zu »What Was It You Wanted«. Stimmlich trifft er jede blue note, minimale Arrangements sorgen zusätzlich für Soul. Nie klang »Forever Young« inniger als in dieser Performance, die auch ohne Bilder ihre Wirkung entfaltet. Für die Jury: Fritz W. Haver

Hard und Heavy

Night Demon: Outsider

CD/LP, Century Media Records 19658761462 (Sony)

Du magst Metal traditionell, aber lieber ohne Klischees? Dann ist »Outsider« der richtige Langspieler für Dich: Night Demon bieten auf ihrem dritten Album galoppierenden, von Gitarren getriebenen Sturm-und-Drang-Metal. Der klingt trotz historischer Anknüpfungspunkte an Classic Rock (Thin Lizzy) über die NWOBHM (Diamond Head) bis hin zu Proto-Speed (Jaguar) frisch und jugendlich. Nicht immer wird das Gaspedal durchgetreten, sondern auch mal ein Gang zurückgeschaltet, wenn es der Straßenlage dient. Am wichtigsten: Trotz strotzender Triebkraft bleiben die Melodien nicht auf der Strecke. So dass der Titeltrack oder die Powerballade »A Wake« die Gehörgänge nicht verlassen. Für die Jury: Felix Mescoli

Club und Dance

Surgeon: Crash Recoil

2 LPs/Digital, Tresor Records Tresor.351 (Direktvertrieb)

Techno auf Album-Länge bemüht oftmals dramaturgische Konzepte, die das Genre vom funktionalen, den Tanzenden im Club gewidmeten Ursprung auf ein für den Heimgebrauch vermeintlich tauglicheres Podest bewegen sollen. Derlei hat Anthony Child alias Surgeon auf »Crash Recoil« nicht nötig. Sein Album entspringt den improvisierten Live-Sets, für die der Brite seit bald dreißig Jahren bekannt ist. Dabei hat es die unmittelbare Qualität eines DJ-Sets und die Detail-Tiefe einer auskomponierten Arbeit. Ein ebenso düsterer wie erhabener Hörgenuss. Für die Jury: Christian Tjaben

Electronic und Experimental

IzangoMa: Ngo Ma

CD/LP/Digital, Brownswood Recordings BWOOD0291 (Rough Trade)

Hinter »IzangoMa« steht ein Kollektiv aus mosambikanischen und südafrikanischen Musikerinnen und Musikern um den autodidaktischen Keyboarder, Gitarristen und Sänger Sibusile Xaba und den gefragten Beatproduzenten Ashley Kgabo aus Südafrika. Diverse Township-Stile verbinden sich mit westlichen Clubsounds, hektische elektrische Beats und verstörende Synth-Sounds treffen auf analoge Percussion, Chants wie bei der Jazz-Legende Sun Ra, flirrende Highlife-Gitarren und jubilierende Bläserfanfaren – ein furioser Soundclash, der auf Gilles Petersons Label »Brownswood« eine passende Heimat gefunden hat. Für die Jury: Guido Halfmann

Blues

Eric Bibb: Ridin’

CD/2 LPs, Dixie Frog DFGCD 8840 (Indigo)

Eric Bibb ist gleich beim ersten Ton identifizierbar. Diese Stimme und die Farbe seiner Musik sind unverkennbar. Nach »America« (2021) legt er mit »Ridin’« gleichermaßen überzeugend nach. Wie immer offenbart er seine Haltung gegenüber dem, was um ihn herum im Kleinen wie im Großen geschieht. Seine Texte sind die eines politisch denkenden Menschen und gleichermaßen durchdrungen von Spiritualität auf der Basis einer positiven und optimistischen Weltsicht. Seine Kritik bedient sich der Sprache der Liebe. Mit diesem Album wird er seinem Ruf als »The Boss« des Blues mehr als gerecht. Für die Jury: Karl Leitner

R&B, Soul und Hip-Hop

Peter Fox: Love Songs

CD/Digital, Warner 5054197645785

Mit Seeed hat Pierre Baigorry alias Peter Fox den ersten eigenen Berliner Urban-Style überhaupt begründet – und diesen auf »Stadtaffe« 2008 ausdiffundieren lassen. Das zweite Solo-Album von Peter Fox kam nach 15 Jahren, und »Love Songs« überrascht mit einer – positiv konnotierten – Eingängigkeit, die den hiesigen Nach-Corona-Zeitgeist aufgreift. Dass Fox sich absurder Aneignungsvorwürfe erwehren musste – geschenkt. Was bleibt, sind 2023er-Sommerhits wie »Ein Auge blau« und »Tuff Cookie«. Peter Fox ist mit seinen Liebesliedern fürs Leben der Mann der Stunde – zweifelsohne: Die Zukunft ist pink … Für die Jury: Torsten Fuchs & Jörg Wachsmuth

Wortkunst

Ingrid Lausund: Bin nebenan

Monologe für zuhause. Lina Beckmann, Matthias Brandt, Fritzi Haberlandt, Jens Harzer, André Jung, Bjarne Mädel, Bastian Pastewka, Angelika Richter, Sophie Rois, Bettina Stucky, Katrin Wichmann, Michael Wittenborn, Regie: Bjarne Mädel. mp3-CD, speak low ISBN 978-3-948674-16-8

Das Zuhause, in dem wir uns eigentlich geborgen fühlen sollten, offenbart sich in diesen Monologen der Theaterautorin Ingrid Lausund als Ort, in dem sich Abgründe der Seele auftun, wilde Fantasien ausgelebt werden, Ängste sich Bahn brechen, Aggressionen und Obsessionen zu Tage treten. Dieses Versuchslabor des ganz persönlichen Irrsinns wird zur fantastischen Vorlage für zwölf Stimmen aus der ersten Liga deutscher Schauspielkunst, die zu interpretatorischen Höchstleistungen auflaufen. Man hört gebannt zu und schwankt zwischen tiefem Erschrecken und herzhaftem Lachen. Für die Jury: Dorothee Meyer-Kahrweg

Kinder- und Jugendaufnahmen

Markus Orths: Crazy Family

Die Hackebarts räumen ab! Stefan Kaminski. 2 CDs, Hörcompany ISBN 978-3-96632-076-4

Wer hat nicht mal mit dem Gedanken gespielt, bei einem TV-Quiz den Höchstgewinn zu kassieren? Auch Familie Hackebart entscheidet sich nach langen Diskussionen schließlich für die Teilnahme. Denn sie sind davon überzeugt, in ihrer Mitte DIE »Geheimwaffe« gegen Günther Jauchs Fragen zu haben! Markus Orths Geschichte, gewohnt genial von Stefan Kaminsky ins Leben gerufen, nimmt das verrückte Treiben des Fernsehgeschäfts aufs Korn, macht sich über Sitten und Gebräuche im Schatten des Glamours lustig und zeigt, was eine Familie ausmacht: Liebe, Respekt und Vertrauen auf die Fähigkeiten der anderen. Und vor allem: Zusammenhalten! Sehr vergnüglich und »ur-cool«! Für die Jury: Friederike C. Raderer

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