Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

NEU: Longlist 2/2024, veröffentlicht am 5. April 2024

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Dvorák – Andris Nelsons

Antonín Dvorák: Symphonie Nr. 9 e-moll op. 95 »Aus der neuen Welt«, Heldenlied op. 111. Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Andris Nelsons. BR Klassik 900116 (Naxos)

Detailbeflissenheit und eine genau kalkulierte raumerfüllende Überschaubarkeit der Großform kennzeichnen dieses Dvořák-Dirigat von Andris Nelsons. Die sorgsam ausgependelte Balance im agogischen Freiraum erzeugt einen musikalischen Ausdruck von spontan ansprechender Natürlichkeit. Romantik pur – aber nie eine sich selbst überlassene. Für die Jury: Hanspeter Krellmann

Orchestermusik und Konzerte

Schostakowitsch: Werke für Cello – Emmanuelle Bertrand

Dmitri Schostakowitsch: Violoncellokonzert Nr. 1 op. 107, Sonate für Cello und Klavier op. 40, Moderato für Cello und Klavier. Emmanuelle Bertrand, Violoncello, Pascal Amoyel, Klavier; BBC National Orchestra of Wales, Pascal Rophé. harmonia mundi HMC 902142

Sie ist weder vom Programm her außergewöhnlich, noch sticht sie durch die Mitwirkung »großer Namen« der aktuellen Interpretenszene hervor. Aber in dieser Aufnahme mit dem ersten Cellokonzert von Dmitri Schostakowitsch trifft das charaktervoll artikulierende, anspringend lebendige Musizieren der Französin Emmanuelle Bertrand glücklich zusammen mit einer adäquat farbigen Orchesterleistung unter Leitung ihres bei uns noch wenig bekannten Landsmanns Pascal Rophé und einer räumlich hervorragend tiefengestaffelten Aufzeichnung. Die Darstellung der Sonate op. 40 überzeugt durch die Homogenität eines seit langem aufeinander eingespielten Duos. Für die Jury: Ingo Harden

Kammermusik

Ludwig van Beethoven: Streichquartette

op. 18,3 D-Dur; op. 18,5 A-Dur; op. 135 F-Dur. Hagen Quartett. Myrios Classics MYR 009 (harmonia mundi)

Zuletzt war es ein Beethoven aufbrechender Oberflächen-Sound, den die Quartett-Ensembles entdeckten, akzentreich, mit viel Vertikale. Nun binden die Hagens diesen Reichtum ein in ein Legato der Struktur, wie es nur reifen Musikern gelingen kann. In jener »unteilbaren Bewegung«, die Henri Bergson »Dauer« nannte, werden feinstkalibrierte Temposchwankungen zum Ausdrucksmittel. Nuancen wie Extreme sind bis ins Letzte durchdacht und entwickeln sich doch in einer Freiheit, in der alles lebt und atmet. Für die Jury: Volker Hagedorn

Tasteninstrumente

Volodos Plays Mompou

Federico Mompou: Musica callada, Prélude VII & XII, Damunt de tu només les flors, Scènes d’enfants, Le Lac, … pour appeler la joie. Arcadi Volodos. Sony Classical 88765433262

Der katalanische Komponist Frederic Mompou, der seine Ästhetik als eine Rückkehr zur Einfachheit und zugleich als einen Neuanfang bezeichnet hat, findet in Arcadi Volodos einen prominenten Fürsprecher. Volodos nimmt den Hörer bei der Hand und führt ihn, teils auch mit eigenen Transkriptionen, unmittelbar zu den Geheimnissen dieser Musik. Dynamische Schattierungen, dezente Übergänge, seifenblasendünne Akkorde, entrückte Melodien – als brillanter Klangfarben-Spürhund eröffnet Volodos lauter kleine Zauberkästchen. Für die Jury: Christoph Vratz

Tasteninstrumente

György Ligeti, Dominik Susteck: Volumina – Orgelwerke

Zwei Etüden »Harmonies« & »Coulée«, Musica ricercata, Volumina, Sprachsignale. Dominik Susteck. Wergo WER 6757 2 (New Arts International)

Dieses Album von Dominik Susteck mit eigenen Werken und denen Ligetis ist ein herausragendes Ereignis. Hier ist ein Komponist als Interpret am Werk, der die schon fast in den Kanon aufgenommenen Orgelwerke Ligetis mit enormer Klangfantasie den Möglichkeiten seiner eigenen »Orgel für neue Musik« in Sankt Peter zu Köln anverwandelt. So tritt eine im wahrsten Wortsinn nachschöpferische Kraft zu den atemraubenden Werken Ligetis. Und Sustecks eigene Kompositionen müssen sich daneben keineswegs verstecken. Mit »seiner« Kölner Orgel hat Dominik Susteck das ideale klangliche Medium gefunden. Für die Jury: Michael Gassmann

Oper

Giuseppe Scarlatti: Dove è Amore è Gelosia

Lenka Macikova, Ales Briscein, Katerina Knezikova, Jaroslav Brezina, Hoforchester Schwarzenberg, Vojtech Spurny. DVD Opus Arte OA 1104 D / Blu-ray OA BD 7120 D (Naxos)

Hier kommt alles zusammen, was eine gelungene Opernaufzeichnung ausmacht: eine federleichte neapolitanische Buffa, von den Darstellern musikalisch überzeugend und mit spielerischem Witz auf die Bühne gebracht, dazu eine Inszenierung, die den auratischen Ort der Erstaufführung von 1768 kongenial ins Geschehen einbezieht. Das Schlosstheater im böhmischen Český Krumlov, ein frisch renoviertes Barocktheater, ist mit seiner Bühnenmaschinerie aus dem 18. Jahrhundert der heimliche Star dieser bezaubernden Produktion. Für die Jury: Max Nyffeler

Oper

Vincenzo Bellini: Norma

Cecilia Bartoli, Su Mi Jo, John Osborn, Michele Pertusi, Orchestra La Scintilla, Giovanni Antonini. 2 CDs. Decca 4783 517 (Universal)

Als Norma entwendet Mezzo-Sopranistin Cecilia Bartoli den Primadonnen des 20. und 21. Jahrhunderts eine der Pracht- und Schlüsselrollen des Belcanto. Bartoli folgt nämlich der Besetzung der Uraufführung von 1831 – mit Giuditta Pasta, einem in den unteren Registern basierten »soprano sfogato«. Das Verhältnis der Stimmen zum Orchester wird durch die Wahl historischer Instrumente neu balanciert. So gelingt eine Neubewertung Vincenzo Bellinis, der bislang als orchestral blass galt und als Diven-Vehikel missverstanden wurde. Eine der meinungsstärksten, impulsfreudigsten Opern-Gesamtaufnahmen seit Jahren. Für die Jury: Kai Luehrs-Kaiser

Chor und Vokalensemble

Paul Hindemith

Apparebit repentina dies, Six chansons, Lieder nach alten Texten op. 33, Messe (1963). SWR Vokalensemble Stuttgart, Mitglieder des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR, Marcus Creed. Hänssler CD 93.295 (Naxos)

Paul Hindemith war Protestant und im besten Sinn ein Handwerker der Musik – Sonaten hat er für fast alle Instrumente geschrieben, sogar eine für die Tuba. Dass er in seinem Todesjahr 1963 auch diese Messe für Chor a cappella komponierte, ist wenig bekannt: eine kontrapunktisch-theologische Spezialarbeit, zugleich ein Werk später Freiheit von allen selbst auferlegten satztechnischen Beschränkungen seiner mittleren Phase. Die Messe durchmisst das chromatische Total, sie ist komplex in ihrer Freitonalität. Schwer zu singen, noch schwerer zum Klingen zu bringen. Das SWR Vokalensemble unter Marcus Creed stellt das Opus überwältigend kompetent und eindringlich dar – das gilt auch für die nicht minder wertvolle Kantate »Apparebit repentina dies« und die sechs Chansons. Für die Jury: Wolfram Goertz

Klassisches Lied und Vokalrecital

Licht und Liebe

Franz Schubert: Lieder und Vokalquartette. Marlis Petersen, Anke Vondung, Werner Güra, Konrad Jarnot; Christoph Berner, Klavier. harmonia mundi HMC 902130

Der heitere Schubert ist nicht ohne den todtraurigen, oder besser, tief erschütterten zu haben, der seelisch verwundete nicht ohne den frohsinnigen. Dieses Album mit selten aufgeführter Gesellschaftsmusik – Stücke für zwei bis vier Solostimmen mit Klavierbegleitung – macht beides deutlich. Es ist dramaturgisch klug aufgebaut und bietet beste Ensemblekunst, ohne dass die sängerischen Individualitäten sich verleugnen müssten. Für die Jury: Stephan Mösch

Alte Musik

Conjuratio

Matthias Weckmann: Geistliche Konzerte Nr. 1-4. Maria Keohane, Carlos Mena, Hans-Jörg Mammel, Stephan MacLeod, Maude Gratton, Ricercar Consort, Philippe Pierlot. Mirare MIR 204 (harmonia mundi)

Als in Hamburg 1663 die Pest wütete, schrieb sich Matthias Weckmann, ohne dass er ahnen konnte, zu den Überlebenden zu gehören, seine tiefe Betroffenheit in mehreren geistlichen Konzerten von der Seele. Zugrunde liegen diesen Concerti biblische Texte. Sie werden auf diesem Album ergänzt um weitere höchst originelle Werke. Die perfekte Darbietung des Ricercar Consorts und der Solisten überzeugt und begeistert durch höchste Ausdrucksintensität. Für die Jury: Uwe Schweikert

Zeitgenössische Musik

Morton Feldman: Violin and Orchestra

Carolin Widmann, Radio-Sinfonieorchester Frankfurt, Emilio Pomàrico. ECM New Series 2283 (Universal)

Morton Feldmans Musik gleicht gedämmtem Licht, und sie greift über gewohnte Dauer hinaus. »Violin and Orchestra« ist ein Paradebeispiel für sein Musikdenken, das der abstrakten Malerei verwandt ist. Dieses fünfzigminütige »Anti-Violinkonzert« wird von Carolin Widmann inmitten des vorzüglichen Frankfurter Radio-Sinfonieorchesters hinreißend gestaltet, als eine pure Zeitleinwand. Für die Jury: Ludolf Baucke

Historische Aufnahmen

Leon Fleisher – The Complete Album Collection

Mit Leon Fleisher, Rudolf Serkin, Yo-Yo Ma, Benita Valente, Cleveland Orchestra, George Szell u.a. 23 CDs. Sony Classical 88725459972

Der Untertitel dieser Edition, »Die vielen Leben eines klugen Virtuosen«, darf auch für Leon Fleishers musikalische Vielseitigkeit stehen, die durch die krankheitsbedingten Sprünge in seiner Karriere und seine »Linke-Hand-Phase« eher noch herausgefordert denn behindert wurde. Das hier versammelte Repertoire bewegt sich auf durchgehend hoher bis höchster Interpretationsebene. Man hört viele der Schlachtrösser wieder neu, auch wenn seit der Aufnahme ein halbes Jahrhundert vergangen sein mag. Kurzum: Der bis heute konzertierende Leon Fleisher, der noch bei Artur Schnabel studierte, gehört zu den Pianisten, die eine Epoche verkörpern. Für die Jury: Wolfgang Wendel

Grenzgänge

Iva Bittová: Fragments I-XII

ECM 2275 (Universal)

Zart gurrende oder zwitschernde Intonationen, mediterrane und südmährische Folk-Anklänge, mystisch gehauchte Madrigale zu Solovioline und Daumenklavier, lyrisch inspiriert von Gertrude Stein und Chris Cutler – damit rückt die in der tschechischen Vielvölkerstadt Bruntál geborene Iva Bittová auf in die Reihe großer Performer-Vokalisten wie Laurie Anderson und Meredith Monk. Für die Jury: Nikolaus Gatter

Filmmusik

Clint Mansell: Stoker

Milan 3994562 (Warner)

Der fünfzigjährige Clint Mansell rechtfertigt die Hoffnungen, die seine Arbeiten für den amerikanischen Regisseur Darren Aronofsky weckten. Seine Kompositionen für den englischen Thriller »Stoker« fügen sich variationsreich zu einem akustischen Spannungskonzept, in dem gegenläufige Klavierfolgen, synkopische Nervosität und sparsamer Orchestergebrauch sich zu einem dichten akustischen Klangteppich verknüpfen, der auch melodischen Ansprüchen schmeichelt. Mansell entwickelt sich zum würdigen Nachfolger des großen Filmmusik-Komponisten Bernard Herrmann. Für die Jury: Uwe Mies

Musikfilm

The Second Life. Karajan

Ein Film von Eric Schulz. Deutsche Grammophon DVD 44007349830 (Universal)

Herbert von Karajan, der mehr Aufnahmen als irgendein anderer Musiker hinterließ, führte im geschützten Bereich des Abhörraums ein gleichsam zweites Leben. Eric Schulz bietet einen Blick hinter die Kulissen, er erörtert in Gesprächen mit Musikern und Zeitzeugen die Motivationen, die Karajan bei seiner Aufnahmetätigkeit bewegten. Zu erleben ist ein Künstler, beeindruckend in seiner Disziplin, in seiner Seriosität sowie dem Streben nach Perfektion im besten Sinne – Tugenden, die so gar nicht dem Karajan angehefteten Image entsprechen. Für die Jury: Helge Grünewald

Musikfilm

Sixto Rodriguez: Searching For Sugar Man

Ein Film von Malik Bendjelloul. DVD 1706513 / Blu-ray 1706521. Rapid Eye Movies (Alive)

Dieser Film erzählt die unglaubliche Geschichte des verloren geglaubten Songwriters Sixto Rodriguez, ohne allzu konstruiert zu wirken. Dem »Searcher« Malik Bendjelloul gelingt es, einen atemraubenden Spannungsbogen bis hin zu dem Moment aufzubauen, da Rodriguez schließlich leibhaftig vor seiner Kamera steht. Die wunderbaren Songs, von denen man kaum glauben kann, dass sie außerhalb Südafrikas so lange vergessen waren, bilden dazu den grandiosen Soundtrack. Für die Jury: Juan Martin Koch

Jazz

Barbara Bruckmüller Big Band

Bicolorious Music BicoMR 2013-01. Eigenvertrieb:

Die Leitung einer Bigband ist heute ein äußerst unwirtschaftliches Unternehmen, erst recht, wenn man keine Reproduktionen alter Hits liefert. Das schreckt die geistreiche Komponistin und Bandleaderin Barbara Bruckmüller nicht. Mit Mut zur eigenen Handschrift hat sie einem Team aus österreichischen »rising stars«, Vollprofis aus den Nachbarländern und Gästen aus dem fernen Brasilien prachtvolle Kabinettstücke nuancenreicher Arrangierkunst auf den Leib geschrieben. Berührende Hommagen stehen neben von subtilem Humor getragenen Stücken. Das kommt so entspannt daher, dass man kaum wahrnimmt, wie diesem mitreißend musizierenden Enthusiasten-Ensemble technisch sehr Anspruchsvolles abverlangt wird. Am Stamm eines altehrwürdigen, gelegentlich gar totgesagten Genres wie des großorchestralen Jazz wachsen also immer noch frische Früchte! Für die Jury: Marcus A. Woelfle

Jazz

Sylvie Courvoisier – Mark Feldman Duo

Live At Théâtre Vidy-Lausanne. Intakt Records CD 210/2013 (harmonia mundi)

Das Duo Sylvie Courvoisier & Mark Feldman, als Mittelpunkt eines Quartetts mit Thomas Morgan und Gerry Hemingway, spielt Musik, die in gemeinsamer kompositorischer und improvisatorischer Arbeit entstanden ist. Beide formenden Prozesse sind weder im Verlauf noch im Ergebnis voneinander unterscheidbar, und die Musik folgt unbekannten idiomatischen Wegen. Sie ist ganz und gar für das klangliche und dynamische Vermögen der beiden Musiker maßgeschneidert, so zugleich augenblicksgesättigt wie ausgehärtet. Eine Musik von großer Konsequenz und Eigenständigkeit, von tiefer Klarheit und einem immensen Reichtum an Emotionen. Für die Jury: Hans-Jürgen Linke

Weltmusik

DaWangGang: Huang Qiang Zou Ban

Wild Tune Stray Rhythm. JARO 4312-2

Traditionsbewusste Psychedelic-Avantgarde aus China: Der Multi-Instrumentalist und frühere Rockmusiker Song Yuzhe verknüpft mit seinem Ensemble DaWangGang Überlieferungen aus Tibet, der Mongolei oder auch der Peking-Oper zu souveränen Klangkunst-Erzählungen, kraftvoll, entrückt und ganz und gar zeitgenössisch. Für die Jury: Jürgen Frey

Liedermacher

Bernd Köhler & ewo2: Keine Wahl

Jump Up Records JU 30 (Plattenbau)

Bernd Köhler setzt mit der Formation ewo² neue Maßstäbe für »Lieder, Balladen und Gesänge aus Arbeitskämpfen«, wie es im Untertitel dieses Albums heißt. Steine- oder Scherben-Agitprop war einmal. Heute bilden durchdachte Band-Strukturen mit eher Mut- als Wut-Texten eine logische Fusion – das linke, rote Lied ist 2013 geprägt durch fein gesponnene Arrangements bis hin zu leicht wagnernder Rock-Ästhetik. In diesem Sinne sind Bernd Köhler und ewo² musikalisch wegweisend wie auch radiotauglich, für die notwendigen politischen Botschaften über den Tag hinaus. Für die Jury: Jochen Arlt

Folk und Singer/Songwriter

The Outside Track: Flash Company

Lorimer Records LORR CD 04 (New Music Distribution)

Was ist das Resultat, wenn sich vier junge, aber erfahrene und ausgezeichnete Musikerinnen aus Schottland, Irland und dem Westen sowie Osten Kanadas mit einem ebenso jungen Herrn aus Irland zusammentun? Im Fall des Debüts von The Outside Track ergibt sich eine enorm frische keltische Mixtur aus Flöten, Geige, Harfe, Akkordeon, Gitarre und zweistimmigem Gesang. Zum Tanzen und Träumen! Für die Jury: Mike Kamp

Pop

David Bowie: The Next Day

Columbia 88765461922 (Sony)

Dieser Stilakrobat der Pop-Anmutungen verweigert sich souverän den diffusen Erwartungen eines Musikmarktes, der so heterogen wie nur möglich geworden ist. Bowies Songs klingen schmucklos rockig und ausgezeichnet ausgewogen. Sie spielen mit der Melancholie, dem Starrummel, der Dunkelheit, den Grenzen des Alltäglichen, auch mit der Liebe in ihren lebensalterlichen Transformationen. Vor allem aber haben sie eine sanfte Nachhaltigkeit, die sich nicht beim ersten Konsum erschließt. Gerade dieser fehlende Anspruch auf Hipness ermöglicht es, »The Next Day« vom Sockel der Verehrung zu heben, um es auf der anderen Seite als Sammlung zeitlos guter Lieder wahrzunehmen. Für die Jury: Ralf Dombrowski

Nu & Extreme (bis 2014)

DJ Koze: Amygdala

Pampa Records CD007 (Rough Trade)

Die Amygdala ist ein Teil des Gehirns: Abgeleitet vom griechischen Amygdalon, zu Deutsch: »Mandel«, ist der Amygdala-Kern im Limbischen System verantwortlich für die Entstehung von Emotionen und Trieben. Wie ein Rausch klingt dieses Album »Amygdala« von DJ Koze: verträumt, versponnen, psychedelisch. Die Sounds zu den synthetischen Beats wirken häufig, als liefen sie rückwärts oder als würden sie in der falschen Geschwindigkeit abgespielt. Koze singt nicht selbst, er bittet Gäste wie Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow, die Kölner Techno-Musikerin Ada, den Amerikaner Matthew Dear oder Dan Snaith aus Kanada ans Mikrophon. Einmal ist sogar die 2002 verstorbene Hildegard Knef zu hören. Knefs »Ich schreib’ dir ein Buch« von 1975 inszeniert DJ Koze auf wunderbare Weise neu, indem er Gesang und Instrumenten der Originalversion die Schnipsel eines Soul-Klassikers von Marvin Gaye und Tammi Terrell gegenüberstellt: »Ain’t No Mountain High Enough«. Ein Trip für die Ohren! Für die Jury: Ruben Jonas Schnell

Blues

Hugh Laurie: Didn’t It Rain

Warner Music 5053105713721 (Warner)

Der britische Schauspieler und Musiker Hugh Laurie greift geschmackssicher die Tradition des Urban Blues auf, verortet zwischen New-Orleans-Jazz, Gospel und Tango. Jelly Roll Morton, Bessie Smith und Dr. John lassen grüßen, aber Lauries Konzept ist keineswegs »retro«, die Musik klingt heutig und vielleicht sogar zukunftsweisend. Für die Jury: Christian Pfarr

R&B, Soul und Hip-Hop

Tricky: False Idols

!K7 Records K7 308 (Alive)

Tricky hat ein Meisterstück gedrechselt, das unweigerlich an »Maxinquaye«, sein erstes großes Epos von 1995, erinnert. Die Songs sind wieder im Spannungsfeld zwischen TripHop, R&B und Dub verdrahtet. Von Beginn an – der Opener ist ein groovendes Cover des Patti-Smith-Stücks »Somebody’s Sins« – bis zum letzten Akkord fasziniert dieses Album, das für Tricky zugleich eine Wegmarke bedeutet. Er hat damit ein gleichnamiges Label ins Leben gerufen, und er führt gute Gründe für den Titel an: »Die Leute hängen an den Lippen der Stars und Sternchen. Sie informieren sich über jeden Schritt, den diese machen, über die banalsten Dinge, die sie tun. Leute, wacht auf. Führt euer eigenes Leben. Dieser ganze Mist – das sind die ,False Idols’.« Für die Jury: Torsten Fuchs

Wortkunst

Daniel Kehlmann: Geister in Princeton

Hörspiel. Wolfram Berger, Wenzel Votava, Petra Morzé, Marcus Kiepe, Yuki Iwamoto u.a. Argon ISBN 978-3-8398-1249-5

Kurt Gödel gilt der Fachwelt als genialer Mathematiker und Logiker. Daniel Kehlmann hatte ihm in seinem Theaterstück »Geister in Princeton«, vor zwei Jahren uraufgeführt in Salzburg, zu einer breiteren medialen Öffentlichkeit verholfen. Ausgehend von diesem Text führt nun der Regisseur und Autor Norbert Schaeffer, gestützt auf ein herausragendes Sprecherensemble, mit akustischer Perfektion, Eleganz und Komik durch das Leben und Wirken dieses in Wahnvorstellungen endenden Genies. Dieses von NDR und ORF koproduzierte Hörspiel nimmt den Hörer mit auf eine Zeitreise, deren grundsätzliche Möglichkeit Kurt Gödel selbst bewiesen hat. Für die Jury: Wolfgang Schiffer

Kinder- und Jugendaufnahmen

Felix Mendelssohn Bartholdy: Ein Sommernachtstraum

Die Taschenphilharmonie, Peter Stangel. Große Musik für kleine Hörer. der Hörverlag ISBN 978-3-8845-1002-7

Ein Traum für jeden Schauspieler, in alle Rollen schlüpfen zu dürfen: »Lasst mich den Löwen auch spielen!« Bei diesem Album aus der Reihe »Große Musik für kleine Hörer« spricht Peter Stangel vielstimmig, aber immer deutlich artikulierend Ausschnitte von und verbindende Worte zu Shakespeares Werk. Stangel selbst hat Felix Mendelssohn Bartholdys Bühnenmusik für das Ensemble Taschenphilharmonie neu instrumentiert. Er ist auch der Dirigent dieser lebendigen Produktion, die gerade in ihrem Minimalismus Theateratmosphäre in der eigenen Phantasie entstehen lässt. Ein Vergnügen, nicht nur für kleine Hörerinnen und Hörer! Für die Jury: Regina Himmelbauer

Oper

Christoph Willibald Gluck: Iphigénie en Aulide & Iphigénie en Tauride

Véronique Gens, Mireille Delunsch, Anne Sofie von Otter, Frédéric Antouin, Jean-François Lapointe u.a., Les Musiciens du Louvre, Grenoble Chorus of de Nederlandse Opera, Marc Minkowski, Regie: Pierre Audi. 2 DVDs Opus Arte OA 1099 D / Blu-ray OA BD 7115 D (Naxos)

Diese Doppelinszenierung der beiden in den 1770er Jahren entstandenen Opern von Christoph Willibald Gluck kam 2011 an der Nederlandse Opera heraus. Minimalistisch, aber konzentriert in Szene gesetzt, befriedigen beide Aufführungen vor allem musikalisch, mit durchweg guten Sängern und dank dem engagierten Dirigat von Marc Minkowski. Eindrucksvoll auch die Bildregie. Ein besonderer editorisch-ästhetischer Gewinn ist die Koppelung dieser beiden operngeschichtlich bedeutsamen Werke, die auch inhaltlich miteinander verknüpft sind. So kann ein wesentlicher Abschnitt in der Entwicklung von Glucks legendärer Opernreform erlebt werden. Für die Jury: Martin Elste

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