Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

NEU: Longlist 2/2024, veröffentlicht am 5. April 2024

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Mahler: Symphonie Nr. 6

Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Dokumentation: Echos einer Ära 2002-2018, ein Film von Eric Schulz. 2 CDs & 1 Blu-ray, Berliner Philharmoniker Recordings BPHR 180231

Als Simon Rattle 1987 zum ersten Mal zu den Berliner Philharmonikern kam, dirigierte er Mahlers sechste Symphonie. Nach 31 Jahren, davon 16 Jahre als Chefdirigent, verabschiedete sich Rattle mit eben dieser Sechsten von den Berlinern. Die reich ausgestattete Luxusedition des Konzerts zeigt Rattle auf der Höhe seiner Meisterschaft. War die frühe Interpretation noch durch jugendliche Ruppigkeit und Überakzentuierung gekennzeichnet, erleben wir nun die gelassene Souveränität eines erfahrenen Musikers. Unverändert sind der Furor und das energetische Musizieren, doch Rattle formt die zerklüftete Klangwelt Mahlers heute in zwingenden Proportionen. Nicht zeitlose Schönheit ist prägend, vielmehr kühle Virtuosität und Dramatik, inklusive eines beseelten Orchestergesangs im Andante. Der leidenschaftliche Rhythmiker ist geblieben, hinzugekommen ist der prosaische Visionär. Für die Jury: Peter Stieber

Orchestermusik und Konzerte

Magnus Lindberg: Tempus fugit, Violinkonzert Nr. 2

Frank Peter Zimmermann, Finnish Radio Symphony Orchestra, Hannu Lintu. SACD, Ondine ODE 1308-5 (Naxos)

Magnus Lindberg schreibt eine hochkomplexe Musik, die bei größer besetzten Werken zudem mit eleganter Orchestrierung fasziniert. Im fünfsätzigen »Tempus Fugit« wechseln in rascher Folge die Klangcharaktere, was Hannu Lintu mit den vielgeforderten Solisten seines Orchesters hervorragend analysiert. Noch mehr muss Widmungsträger Frank Peter Zimmermann als Solist im Violinkonzert geben. Quasi im perpetuummobilen Dauereinsatz meistert er auch in höchsten Lagen abgezirkelte Melodik, er interagiert perfekt mit dem Orchester. Nicht zuletzt überzeugt die vorzügliche Klangqualitat dieser im Helsinki Music Centre entstandenen Aufnahme. Für die Jury: Lothar Brandt

Kammermusik

Debussy: Les Trois Sonates – The late Works

Claude Debussy: Troisième Sonate pour violon et piano; Berceuse héroique pour piano; Page d’album – Pièce pour piano pour l’Œuvre du Vêtement du blessé; Deuxieme Sonate pour flûte, alto et harpe; Élégie pour piano; Première Sonate pour violoncelle et piano; Les Soirs illuminés pour piano. Isabelle Faust, Alexander Melnikov, Jean-Guihen Queyras, Javier Perianes, Xavier de Maistre, Antoine Tamestit, Magali Mosnier, Tanguy de Williencourt. harmonia mundi HMM902303

Hundert Jahre nach dem Tod von Claude Debussy sind viele exzellente Aufnahmen erschienen. Dieses Album der späten Sonatentrias ist exemplarisch für das enorme Niveau, auf dem sich längst nicht nur die französischen Musiker diesem Genie der Klarheit nähern. Wie Farbe, Struktur, Kontur ineins fallen, mit Sensibilität und Präzision – das Spiel der an dieser Aufnahme beteiligten Künstler, von Geigerin Faust bis Harfenist de Maistre zu beschreiben, hieße: Debussy zu beschreiben. Alles wird transparent und umso poetisch abgründiger, stets »léger et nerveux«. Den Tonmeister könnte man in einem Atemzug mit den Musikern nennen. Eine Kostbarkeit! Für die Jury: Volker Hagedorn

Tasteninstrumente

Johann Sebastian Bach: Die Kunst der Fuge BWV 1080

Bob van Asperen. SACD, Aeolus AE-10154 (Note 1)

Bob van Asperen, Altmeister seines Fachs, stellt mit diesem Album erneut sein Können als Gelehrter und Musiker unter Beweis. Warum Bachs Kunst der Fuge ein vollendetes Werk ist, legt er in einem Aufsatz dar. Seine Anordnung der Kanons und Fugen – ohne die berühmte unvollendete – gipfelt in den Spiegelfugen für zwei Cembali, in denen er sich von Bernhard Klapprott unterstützen lässt. Grandios der weite Atem dieser Interpretation! Nicht Strenge, vielmehr unendliche Freiheit kennzeichnet van Asperens Spiel, nicht zuletzt beglaubigt durch den Einsatz französischer Ornamente. So wird unter seinen Händen aus dem kontrapunktischen Kompendium eine jederzeit aufregende Reise zum Wunder Bach. Für die Jury: Michael Gassmann

Tasteninstrumente

Schubert 1828

Franz Schubert: Klaviersonaten c-moll D 958, A-Dur D 959, B-Dur D 960; Drei Klavierstücke D 946. Alexander Lonquich. 2 CDs, Alpha 433 (Note 1)

Die nackte Wahrheit: Alexander Lonquich unterstreicht im Booklet-Text den »betont erzählerischen Charakter« von Schuberts letzten drei Sonaten, durchleuchtet ihre strukturelle Komplexität dann aber mit Beethovenscher Rigorosität und einer dem Kompositionsprozess folgenden »nackten« Klarheit und Stringenz, die sie als Manifeste visionärer Modernität ausweisen. Seine faszinierende Anschlagskultur, sein perfektes, flexibles Timing, eine schlackenlose Prägnanz und der dramatisch geschärfte Erzählstrom enthüllen die tiefe Trost- und Ausweglosigkeit dieser Werke in ungeschützter Offenheit und verweigern entschieden jede Spur von falscher Gefühligkeit: Das ist fesselnd und erschütternd zugleich. Für die Jury: Attila Csampai

Oper

Alessandro Stradella: La Doriclea

Emöke Barath, Giuseppina Bridelli, Xavier Sabata, Gabriella Martellacci, Luca Cervoni, Riccardo Novaro, Il Pomo d’Oro, Andrea De Carlo. 3 CDs, Arcana A 454 (Note 1)

Schon bei Vol.5 ist diese verdienstvolle Gesamtausgabe des Œuvres von Alessandro Stradella angelangt, welcher sich der Dirigent und frühere Kontrabassist Andrea De Carlo verschrieben hat – er gründete dafür eigens ein Festival, in Stradellas Geburtsort Nepi, nördlich von Rom. Stradella war ein produktiver Kleinmeister mit dem gewissen Etwas. Sein gewaltsamer Tod anno 1682, nachdem er wegen Kuppelei aus Venedig verjagt worden war, machte ihn wahrscheinlich bekannter, als seine Werke. Die Mantel-und-Degen-Oper »La Doriclea«, 1670 sein Debüt in diesem Genre, ist eine Komödie der Irrungen innerhalb der frühen Barockoper. Die fabelhafte ungarische Sopranistin Emöke Baráth adelt die Aufnahme. Höchste Wertungen für eine Wiederentdeckung! Sie lehrt, wie bunt und wechselhaft es selbst noch im Kleingedruckten des Barock zugeht. Für die Jury: Kai Luehrs-Kaiser

Oper

Alban Berg: Wozzeck

Christopher Maltman, Eva-Maria Westbroek, Frank van Aken, Marcel Beekman, Sir Willard White, Chorus of Dutch National Opera, Netherlands Philharmonic Orchestra, Marc Albrecht, Regie: Krzysztof Warlikowski. DVD, Naxos 2.110582 / Blu-ray, Naxos NBD0081V

Alle Inszenierungen von Krzysztof Warlikowski umkreisen das Geheimnis von Liebe und Begehren. Seine Version von Alban Bergs »Wozzeck« rückt daher das Sozialdrama in den Hintergrund und verlegt die Handlung in eine soghaft seltsame, surreal melancholische Atmosphäre aus Triebhaftigkeit und Abgrund. Christopher Maltmans Wozzeck ist geprägt von der Unvermeidlichkeit seiner eigenen Zerstörung. Eva-Maria Westbroeks Marie prunkt mit einem sinnlichen Sopran und viel unerfüllter Erotik. Das Kind (Jacob Jutte) rückt in seinem vergeblichen Bemühen, das Schicksal der Familie durch das gefährliche Fahrwasser der Versuchungen und Anfechtungen zu lenken, zur dritten Hauptperson auf. Das Nederlands Philharmonic Orchestra spielt mit schneidender Präzision. Musik und Theater werden in dieser aufregenden Aufführung zur untrennbaren Einheit. Für die Jury: Robert Braunmüller

Chor und Vokalensemble

The Liberation of the Gothic

Thomas Ashwell: Missa Ave Maria; John Browne: Salve Regina, Stabat Mater. Graindelavoix, Björn Schmelzer. Glossa GCD P32115
(Note 1)

Das Ensemble Graindelavoix hat es mit viel Sachverstand und Kreativität geschafft, die Vokalpolyphonie des späten Mittelalters und der Renaissance in einer Art wiederzubeleben, die überrascht und tief berührt. Insbesondere durch den naheliegenden, bislang aber nicht genutzten Bezug zu althergebrachten Singpraktiken des Mittelmeerraumes, wobei dem einzelnen Sänger ein entsprechender Freiraum der Tongestaltung und Verzierung eingeräumt wird, gelingt diesen Musikern eine kaum je gehörte Tiefenwirkung dieser Musik. Die Unerschrockenheit und Musizierlust der Sänger und ihres Leiters Björn Schmelzer zeitigt Ergebnisse, die jenen der Originalklangbewegung im Instrumentalbereich gleichkommen. Für die Jury: Helmut Mauró

Klassisches Lied und Vokalrecital

Frage. Sämtliche Lieder Vol. 1

Robert Schumann: Zwölf Gedichte op. 35; Romanzen und Balladen op. 49; Drei Gesänge op. 83; Sechs Gesänge op. 107; Warnung op. 119/2; Vier Gesänge op. 142. Christian Gerhaher, Gerold Huber. Sony 19075889192

Die zwölf Schumannlieder op.35 nach frei zusammengestellten Texten von Justinus Kerner sind weniger ein in sich geschlossener Zyklus, als kaleidoskopartig zusammengestellte Introspektiven. Christian Gerhaher und Gerold Huber loten sie mit hoher Risikobereitschaft aus, gehen jeder Silbe, jeder Seelenschwingung nach und schaffen trotzdem formale und architektonische Bezüge. Die beiden Künstler übertreffen sich hier selbst. Die CD ist Teil eines Aufnahme-Projekts sämtlicher Lieder von Schumann, das als Zusammenarbeit von Bayerischen Rundfunk, Sony und Heidelberger Frühling entsteht und 2020 abgeschlossen werden soll. Wie unkonventionell Gerhaher an die Stücke herangeht, wird etwa bei der Heine-Vertonung »Die beiden Grenadiere« deutlich, die in dieser Interpretation als fahle Groteske daherkommt, vielfach gebrochen in der Mischung aus Komik und Irrsinn. Für die Jury: Stephan Mösch

Alte Musik

Giuseppe Tartini: Sonate op.1

Nr.5, 10 & 12 und op.26 Nr.15 & 17; Pastorale. Evgeny Sviridov, Stanislav Gres, Davit Melkonyan. Ricercar RIC 391 (Note 1)

Mit ihren unübersehbar vielen Trillern, ihrem virtuosen Passagenwerk sowie mit endlosen Doppel- und Tripelgriffen verlangen die Violinsonaten von Giuseppe Tartini dem Solisten einiges an Technik ab – und doch Evgeny Sviridov gelingt das Kunststück, dies alles in den Dienst eines sehr sensiblen und poetischen Ausdrucks zu stellen. Sein Geigenton besticht durch eine immense Kantabilität und durch subtile Nuancen, seine Artikulation ist sehr rhetorisch, seine Phrasierung schlägt weite, emphatische Bögen. Ein besseres Plädoyer für den spätbarocken Eigenbrötler Tartini ist derzeit kaum vorstellbar. Für die Jury: Matthias Hengelbrock

Zeitgenössische Musik

Anna Korsun: ulenflucht

Anna Korsun: ulenflucht, tollers zelle, plexus, auelliae, wehmut. Anna Korsun, Gustavo Brinholi, Moritz Eggert, Andreas Fischer, Alina Gehlen, Nataliya Hnativ, Sergey Khismatov, Alessia Park, Katharina Schmauder, Roman Sladek, Maciej Straburzyński, Dominik Susteck, Diana Syrse, Stefan Ullmann, Gijs van der Heijden, Johanna Zimmer, Flavio Virzì, Looptail. Wergo WER 6426 2 (Note 1)

Überwiegend komponiert Anna Korsun für akustische Instrumente, wobei sie gekonnt deren Geschichte und Tradition über Bord wirft und unter Einbeziehung zahlreicher Alltagsgegenstände neue Klänge erschafft, die wie elektronisch erzeugt wirken. Sie schreibt, als ausgebildete Sopranistin, für Stimmen, und bei mehreren Stücken wirkt sie selbst sehr wirkungsvoll mit. Beispielsweise bei »tollers zelle«, in dem ihre Stimme mit den Glissandi einer Bottleneck-Gitarre buchstäblich verschmilzt. Im Zentrum dieser faszinierenden CD steht das Orgelstück »auelliae«, bei dem Korsun zwei Winddrossel-Registern geradezu Verblüffendes entlockt! Für die Jury: Marita Emigholz

Historische Aufnahmen

Nathan Milstein

Felix Mendelssohn Bartholdy: Violinkonzert e-Moll op. 64; Antonín Dvořák: Violinkonzert a-Moll op. 53. Recorded live at Lucerne Festival 1953 & 1955. Nathan Milstein, Swiss Festival Orchestra, Igor Markevitch, Ernest Ansermet. Audite 95.646 (Note 1)

Diese in der Edition »Luzerner Festspiele« glanzvoll tönenden Violinkonzerte stehen in besonderer Verknüpfung mit dem Solisten Nathan Milstein. Dvořák starb 1904, das Jahr, in dem Milstein geboren wurde. Für ihn und seine Zeitgenossen Adolf Busch und Vasa Prihoda war der Einsatz für das Werk noch Pionierarbeit. Das gleiche gilt freilich auch für Milsteins Aufführungen des Mendelssohn Konzertes (ein frühes Zeugnis ist eine Liveaufnahme mit Toscanini; dieser dirigierte auch das Gründungskonzert der Luzerner Festspiele, dem Milstein als Hörer beiwohnte). Hier spielt Milstein beide Violinkonzerte mit der unergründlichen Leichtigkeit eines Virtuosen, der sich in den technisch anspruchsvollen Passagen nicht austobt, sondern souverän dem Hörer einen Blick auf die Musik erlaubt. Für die Jury: Stephan Bultmann

Grenzgänge

Fabrizio Cassol: Requiem pour L.

Inspired by Wolfgang Amadeus Mozart, conducted by Rodriguez Vangama, staged by Alain Platel. 7 Wheels/Outhere OUT 663 (Note 1)

Oft schon hat Mozarts letztes Werk, das als Fragment überliefert ist, die Nachwelt zu Bearbeitungen angeregt. In mehrjähriger Forschung vertiefte sich auch der belgische Jazz-Arrangeur Fabrizio Cassol in die Noten. Einer Unbekannten – »L.« steht aber zugleich auch für »elles«, also alle Frauen – widmete er ein weltmusikalisches Requiem für Akkordeon, Gitarre, Bass und Schlagzeug, Euphonium und Lamellenharfe, mit sieben Sängern, die in fünf afrikanischen Sprachen und Latein vortragen. Der Choreograph Alain Platel von Les ballets C de la B sorgte für tänzerische Umsetzung, der kongolesische Hiphopper Fredy Massamba für ein vom Jenseitsglauben Afrikas geprägtes Dies irae. Ein aufwühlender, alle Sinne berührender Beitrag zur ars moriendi, der wohl wichtigsten Welt- und Lebenskunst! Für die Jury: Nikolaus Gatter

Musikfilm

Leonard Bernstein’s Young People’s Concerts with the New York Philharmonic, Vol. 1

New York Philharmonic Orchestra, Leonard Bernstein. 7 DVDs, Unitel edition 800208 / 4 Blu-rays Unitel edition 800304 (Naxos)

Die Aufzeichnungen dieser beispielhaften Konzerte sind nun endlich auch für deutsche Musikhörer zugänglich, digital aufgearbeitet und mit Untertiteln versehen. Leonard Bernstein, so zeigt es jede Folge, schenkt sich, seinen Musikern und dem jungen Publikum in Carnegie Hall nichts. Er setzt seine enorme Musikalität, sein Charisma, seine Redegewandtheit und seine Intellektualität ein, präsentiert Musikbeispiele am Klavier, lässt sie vom Orchester spielen, er singt und animiert die Mädchen und Jungen zum Mitmachen. Eine Mischung aus Vorlesung, Vortrag, Gesprächskonzert und Show – immer seriös, auf höchstem Niveau, spontan, dabei minutiös vorbereitet. Diese Bild-Ton-Dokumente sollten Pflichtlektüre an Schulen und Universitäten sein, sie sind auch für jeden Musikfreund sehens- und hörenswert. Für die Jury: Helge Grünewald

Jazz

Cécile McLorin Salvant: The Window

CD/2 LPs, Mack Avenue MAC1132 (in-akustik)

Die Sängerin Cécile McLorin Salvant covert Klassiker aus dem American Songbook, aber auch weniger Bekanntes mit eigenständigen, oft gegen gängige Muster verstoßenden Versionen. Dabei verleiht ihre wandlungsfähige Stimme jedem Wort eine eigene Bedeutungsnuance. Sullivan Fortner unterstützt diese Interpretationen am Flügel und an der Orgel, vor allem, indem er sich zurücknimmt, Druck macht, verzögert – je nachdem, was erforderlich ist, um die Aussage zu intensivieren. Die sechzehn Titel dieses Albums, aufgezeichnet 2017 live im New Yorker Club Village Vanguard und im Studio, verraten ein inniges musikalisches Einverständnis. Für die Jury: Werner Stiefele

Jazz

The Art Ensemble Of Chicago And Associated Ensembles

21 CDs & 1 Buch, ECM 2630 (Universal)

Dieser musikalische Meilenstein versammelt sämtliche Alben, die das Art Ensemble of Chicago für das Label ECM aufgenommen hat. Es dokumentiert zugleich die wachsenden Kreise, die von dieser kreativen Kerngruppe ausgingen. Horizonterweiterungen, die Öffnung völlig neuer Klangräume im Prozess freien und kollektiven Musizierens, Besinnung auf das afrikanisch-amerikanische Erbe, die Verortung in der Gegenwart mit der Vision einer humanistischen Zukunft – all das spiegelt sich in facettenreichen Aufnahmen variierender Besetzungen wie auch in transatlantischen Brückenschlägen. Begleitet wird die umfassende Box von einem dreihundertseitigen Buch mit erhellenden Texten und fabelhaftem Bildmaterial. Eine editorische Großtat! Für die Jury: Bert Noglik

Weltmusik

Gaye Su Akyol: İstikrarlı Hayal Hakikattir

CD / LP / DL, Glitterbeat GBCD/LP 062 (Indigo)

Die Sängerin und studierte Anthropologin Gaye Su Akyol mischt stilistische Welten. Psychedelischer Rock aus dem Anatolien der siebziger Jahre und dramatische, türkische Arabesk-Lieder aus den Sechzigern, dazu Nirvana, Jefferson Airplane oder Nick Cave, alles passt unter einen Hut. Erfreulich, dass keine undefinierte Stilbrühe dabei entstanden ist, vielmehr ein Album mit klarem Profil! Gaye Su Akyol und ihr musikalischer Partner und Bandleader Ali Güçlü Şimşek nutzen die Kraft des Rock, die Fantasie und Verspieltheit der Psychedelik und das Pathos der asiatischen Geschichtenerzähler, sie formen daraus eine weltmusikalische Pop-Perle. Für die Jury: Jodok W. Kobelt

Folk und Singer/Songwriter

Fara: Times From Times Fall

CPL-Music CPL027 (Broken Silence)

Kein Schlagzeug dabei, kein Bass. Und doch entwickeln die vier Frauen von Fara einen gewaltigen Drive. Überhaupt spielen die Naturgewalten eine wichtige Rolle in ihrer Musik. Fara kommen von den wettergegerbten Orkney Inseln im Norden Schottlands, ihre Songs erzählen viel von Wind, Wellen und wilder Küste. Dichte, vorwärts drängende Arrangements bringen von Anfang an die Füße in Bewegung. Aber es gibt auch Inseln dazwischen, mit zauberhaften Balladen in klarem Harmoniegesang und drei perfekt miteinander verschmelzenden Geigen: Frauenpower mit Feingefühl. Für die Jury: Imke Turner

Pop

Neneh Cherry: Broken Politics

CD/LP/DL, Smalltown Supersound STS343CD (Rough Trade)

Neneh Cherry lässt sich Zeit – Hits in den Neunzigern, ein Comeback vor vier Jahren, und nun »Broken Politics«, ein Album, das es nicht nötig hat zu protzen. Cherry führt politische Klage, sie singt an gegen Kapitalismus und Waffenwahn sowie gegen eine Politik der Selbstsucht, gekennzeichnet von Mangel an Empathie. Cameron McVey produzierte kompakt. Trotz der Fülle an Details ist dies eher ein Kammerspiel, als ein Feuerwerk, und das macht die Musik stark und fokussiert: ein Kompendium von Electronics, Worldbeat, Jazzintarsien und, nicht zuletzt, der Stimme einer Künstlerin, deren Präsenz die Lieder pulsieren lässt. Für die Jury: Ralf Dombrowski

Rock

Element Of Crime: Schafe, Monster und Mäuse

CD/2 LPs, Vertigo Berlin 602567887034 (Universal)

Element Of Crime waren die aktuellen Trends des Zeitgeistes immer schon herzlich egal. Sven Regener sang über die Alltagsprobleme von sehnsuchtsvoll Verliebten am Tresen, als all die netten Singer/Songwriter der letzten Jahre noch nicht einmal Bier trinken durften. Und so singt er auch auf diesem vierzehnten Album von den Gedanken eines Berliners, der, mal verzweifelt, mal verknallt durch die Stadt, die Spätis, Schwimmbäder und das Leben taumelt. Unter dem Ausruf »Da ist immer noch Liebe in mir« rauscht er durch Nächte voller Rauch, Tränen und guter Geschichten – mit Pauken und Trompeten und dieser elementofcrimeschen Mischung zwischen Chanson, großstädtischem Seemannslied und Rocksong. Selten hat jemand so herrlich besungen, wie schön es ist, dass der Sommer endlich vorbei ist. Für die Jury: Juliane Streich

Der Titel gewann sowohl in der Jury Rock als auch in der Jury Liedermacher.

Hard und Heavy

Chapel Of Disease: …And As We Have Seen The Storm, We Have Embraced The Eye

CD/LP/DL, Ván Records 260 (Soulfood)

Das Klischee einer Band, die sich »freigeschwommen« hat, hin oder her: Während die Kölner Chapel Of Disease auf ihren ersten beiden Alben noch klar im Death Metal zu verorten waren, präsentieren sie sich nun selbstbewusst als ein grenzenloses Kollektiv. Mit ihrem Extrem-Sound wildern sie nicht nur in Death- und Black-Metal-Gefilden, sie verarbeiten genauso Classic-Metal- und Hardrock-Sounds und rufen sogar Erinnerungen wach an die Granden des Siebziger-Jahre-Progrock. Die größte Leistung dabei aber ist, dass diese sechs zum Teil überlangen Songs niemals verkopft klingen, vielmehr organischer als nahezu die gesamte Konkurrenz. Klassiker-Potenzial! Für die Jury: Boris Kaiser

Alternative

Low: Double Negative

CD/LP, Sub Pop SP1250 (Cargo)

Das Trio Low aus Duluth, Minnesota, überrascht mit einem radikalen Statement, das wie eine innovative Mutation ihrer eigenen, immer erkennbaren musikalischen DNA klingt. Entwickelt und aufgenommen wurde das experimentierfreudige Album mit B.J. Burton, dessen Fingerabdrücke im Studio auch schon »22, A Million« von Bon Iver veredelt hatten. Die Verwendung von Drones, Effekten und Samples sorgt für unvermutete Kantenführungen und prasselnde Störfeuer, wenn die prägnante Band-Melodik in brandende oder schimmernde Umgebungen arrangiert wird, in denen sich Knarz-Sounds und tiefe Bass-Schläge, Verzerrungsunschärfen und wabernde Ambient- oder Noise-Sounds neben engelsgleicher Akustikweichheit in einer kathedralen Sphäre einfinden. Oft klingt das, wie in einen Tauchsieder gehalten. Für die Jury: Götz Adler

Electronic und Experimental

Kelly Moran: Ultraviolet

CD/LP/DL, Warp 297 (Rough Trade)

Für ihr letztes Album »Bloodroot« war die New Yorker Komponistin und Pianistin auch von den Freunden der zeitgenössischen Klassik gefeiert worden – die New York Times hatte das Werk 2017 unter die fünfundzwanzig besten »Classical Music Recordings« gewählt. Jetzt hat Kelly Moran den akkuraten Weg der an Cage erinnernden Kompositionen verlassen. Nach wie vor steht das präparierte Piano im Mittelpunkt ihrer minimalistisch ruhig temperierten Musik, doch erweitern Improvisationen und schillernde Synthesizer-Schichten das Vokabular. Man denkt an nächtliche Winterlandschaften, von Frost überzogen, das wenige Licht reflektierend, und bisweilen auch an die hypnotischen Cluster eines indonesischen Gamelan Orchesters. Selten herrscht soviel Frieden auf der Welt. Für die Jury: Jürgen Ziemer

Blues

Colin James: Miles To Go

CD/LP, True North TND701 (Alive)

Nach »Blue Highways« hat der kanadische Gitarrist und Sänger Colin James nun erneut ein facettenreiches und exzellent produziertes Album vorgelegt, für dessen Tracklist er vor allem auf Songs von Altvorderen des Genres wie Muddy Waters, Howlin’ Wolf, Arthur »Big Boy« Crudup oder Blind Lemon Jefferson zurückgreift. Und einmal mehr erweist er sich als ein Musiker, der souverän mit unterschiedlichen Spielarten des Blues zu jonglieren weiß: Genreklassiker werden im Spannungsfeld von Tradition und Moderne respektvoll und kreativ interpretiert. Für die Jury: Michael Seiz

R&B, Soul und Hip-Hop

Masta Ace & Marco Polo: A Breukelen Story

CD/2 LPs, Fat Beats l-FB5186

Boom Bap Ende 2018? Ja doch! Denn »Brooklyn is in the house«! Masta Ace und Marco Polo setzen ihrem Stadtteil, der, zunächst von Hipstern wiederbesiedelt, mittlerweile mit explodierenden Mieten und Verdrängung zu kämpfen hat, mit diesem Konzeptalbum ein Denkmal in Longplay-Länge. Dabei finden die hintergründige Poesie des New Yorker Rap-Urgesteins und die fein ziselierte Beat-Arithmetik des Zugezogenen aus Kanada wie von selbst zueinander. Mit Gästen wie Pharoae Monch, Smif-N-Wessun und Styles P, dazu der Boom-Bap-Fassade, die längst zur Trademark von Marco Polo avanciert ist, wird »A Breukelen Story« zu einer sprachbildgewaltigen Ode, einem herausragenden Hip-Hop-Kunstwerk, wie es in Zeiten des ewig nervenden Autotune-Effekts und der schnell verglühender Youtube-Rap-Sternchen heute viel zu selten erschaffen wird. Für die Jury: Torsten Fuchs & Jörg Wachsmuth

Wortkunst

The Poets’ Collection

Englischsprachige Lyrik im Originalton und in deutscher Übersetzung. Herausgegeben von Christiane Collorio und Michael Krüger. 13 CDs, Der Hörverlag ISBN 978-3-8445-2141-2

Ein sensationeller Fund macht hier auf sich aufmerksam, es gilt, in Superlativen zu schwelgen: eine Lyrik-Anthologie, im Originalton von 94 Autoren, von Yeats bis Auden, von Wortartistik bis Lautmalerei – ein Stück weltumspannender Poesie als authentische Klangkunst! 192 englischsprachige Gedichte werden in exquisiter deutscher Textübertragung und Interpretation selbst ungeübten Ohren einleuchtend gemacht, und das prachtvolle, mit Kurzbiographien und Quellennachweisen angereicherte Booklet lässt auf entschieden wissenschaftliche Sorgfalt schließen. Michael Krüger, als Initiator dieses Mammut-Projekts, hat ihm, nach eigenem Bekunden, immerhin vier Jahrzehnte gewidmet. Als Motto der Edition könnte der von ihm im Vorwort zitierte Spruch von Robert Frost gelten: »Das Wesen, das eine Dichtung ausmacht, beginnt mit Glück und endet mit Weisheit.« Für die Jury: Peter Fuhrmann

Kinder- und Jugendaufnahmen

Davide Morosinotto: Verloren in Eis und Schnee

Die unglaubliche Geschichte der Geschwister Danilow. Ungekürzte Lesung. Nicolás Artajo, Gabrielle Pietermann, Reinhard Kuhnert. 2 mp3-CDs, cbj audio ISBN 978-3-837143386

Erneut gelingt es diesem Autor, historische Fakten in eine Erzählung zu verpacken, so spannend, dass selbst eine Geschichte vom (Über-) Leben im Krieg fast zu einem abenteuerlichen Road-Trip wird. Und dabei wird nichts verharmlost. Es ist Sommer 1941, die Deutschen stehen vor dem Einmarsch nach Russland, Leningrad ist besonders gefährdet. Also sollen alle Kinder aus dieser Stadt, darunter auch die dreizehnjährigen Zwillinge Nadja und Viktor, in den Ural evakuiert werden. Beim Abtransport werden sie voneinander getrennt. Wie die beiden versuchen, einander zu finden, welche Abenteuer und Prüfungen sie jeweils erleben, wie sich dabei große Geschichte im Kleinen spiegelt, wird in den Tagebuchnotizen der beiden detailreich, teils schmerzhaft, oft nicht ohne Komik beschrieben – und mit den nuancenreichen und jugendlichen Stimmen von Gabrielle Pietermann und Nicolás Artajo wunderbar lebendig. Für die Jury: Carola Benninghoven

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