Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

NEU: Longlist 4/2024, veröffentlicht am 5. Oktober 2024

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Liszt: Faust-Symphonie

Franz Liszt: Faust-Symphonie, Mephisto-Walzer Nr. 3 (arr. A. Reisenauer/K. Karabits). Airam Hernández, Herren des Opernchores des Deutschen Nationaltheaters Weimar und des Landesjugendchores Thüringen, Staatskapelle Weimar, Kirill Karabits. Audite 97.761 (Note 1)

Liszts Tondichtung »Eine Faust-Sinfonie« gehört wie auch viele andere seiner Partituren zu den ungehobenen Schätzen des 19. Jahrhunderts. Nur selten ist das 1854 entstandene und später durch einen »Chorus mysticus« im Finale erweiterte Werk live zu erleben. Die Einspielung mit der Staatskapelle Weimar unter Kirill Karabits rückt die Komposition ins rechte Licht: symphonisch in Anspruch und Ton, dramatisch im Ausdruck, mit hohem Puls bei der Darstellung der zentralen Charaktere Faust, Gretchen und Mephistopheles. Klanglich durchsichtig, partiell fast kammermusikalisch, räumt die Produktion mit vielen Vorbehalten auf. Für die Jury: Michael Kube

Orchestermusik und Konzerte

Rautavaara, Martinů: Klavierkonzerte Nr. 3

Einojuhani Rautavaara: Klavierkonzert Nr. 3 »Gift of Dreams«; Bohuslav Martinů: Klavierkonzert Nr. 3. Olli Mustonen, Lahti Symphony Orchestra, Dalia Stasevska. SACD, BIS Records BIS-2532 (Klassik Center Kassel)

»Traumgeschenk« – der Titel des Klavierkonzerts von Rautavaara bezieht sich auf ein viertöniges Motiv, das der Komponist bereits 1978 den Baudelaire-Worten »le don des rêves« unterlegt hatte. Mit zwingender Folgerichtigkeit gestalten Dalia Stasevska und Olli Mustonen hier die Entfaltung einer kleinen Keimzelle zum riesigen Klangpanorama. Es entsteht ein unwiderstehlicher Sog in eine tönende Traumkulisse. Fantasievolles Spiel, pianistischer Ideenreichtum, blitzschnelle Wendigkeit des Zusammenspiels machen auch das selten zu hörende dritte Klavierkonzert von Martinů zur unerwartet spektakulären Überraschung. Für die Jury: Jörg Lengersdorf

Kammermusik

Ravel, Schumann: Streichquartette

Maurice Ravel: Streichquartett F-Dur; Robert Schumann: Streichquartett op. 41 Nr. 3. Leonkoro Quartett. Mirare MIR674 (harmonia mundi/Bertus)

Was für eine Visitenkarte! Das 2019 gegründete Leonkoro Quartett aus Berlin spielt auf seiner Debüt-CD mit einer Tonschönheit, die von surrealen Klängen bis zu praller physischer Präsenz reicht. Die vier musizieren mit einer Sensibilität für Details und Dramaturgie, mit einer Intelligenz und Neugierde für verschwiegene Botschaften und versteckte Formen, dass wir vom Staunen ins Schwärmen und vom Schwärmen in die höchste Sympathie für das junge Ensemble geraten, unter dessen Händen alles neu wird: auch die berühmten Streichquartette von Schumann und Ravel. Für die Jury: Susanne Stähr

Kammermusik

Sterne steigen dort...

Porträt der Komponistin Albert Maria Herz. Asasello-Quartett, E-MEX-Ensemble, Christiane Oelze. Genuin GEN 23837 (Note 1)

Maria Herz (1878-1950) hat erst mehr Erfolg, als sie ihrem Namen das männliche Albert hinzufügt. Die Intensität ihrer Musik berührt. Sie ist dicht, aussagestark, hat Charme und Fantasie. Der Album-Titel »Sterne steigen dort…« ist einer Gedichtzeile von Stefan George entnommen, die fünf Orchester-Lieder auf Texte des Symbolisten stecken voller rätselhafter Klänge. Christoph Maria Wagner hat sie wirkungsvoll für Kammermusik-Ensemble arrangiert. Das Asasello Quartett, das E-MEX Ensemble und Christiane Oelze spüren dieser Musik wandlungsfähig, sensibel und leidenschaftlich auf allerhöchstem Niveau nach. Gut, dass die Komponistin jetzt wieder entdeckt wird. Für die Jury: Elisabeth Richter

Tasteninstrumente

1923

Werke von Frederick Delius, Joseph Achron, Josef Matthias Hauer, Arnold Schönberg, Hanns Eisler und andere. Yaara Tal. Sony 19658803802

»Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« – so fasst Tobias Bleek, Bookletautor und Ideengeber für dieses Projekt, die Essenz dieser Sammlung von Werken aus dem Jahr 1923 (und zeitlicher Umgebung) zusammen. Yaara Tal nimmt ihre Hörer mit auf eine faszinierende Zeitreise, die das musikalische Nebeneinander und Miteinander von Spätausläufern der Romantik über Atonalität und verschiedene Zwölfton-Ansätze bis hin zur gemäßigten Moderne aufzeigt. Die Pianistin widmet sich den zumeist sehr kurzen Stücken mit großer klanglicher wie artikulatorischer Nuancierungskunst. Dass sie auch zahlreiche Raritäten präsentiert, verleiht der Produktion eine zusätzliche Spannung. Für die Jury: Gregor Willmes

Tasteninstrumente

Frescobaldi and the South

Werke von Girolamo Frescobaldi, Giovanni de Macque, Rocco Rodio, Scipione Stella, Francesco Lombardo, Bernardo Storace u.a.. Francesco Corti. Arcana A547 (Note 1)

Girolamo Frescobaldis überaus moderner und subjektiver musikalischer Stil hatte Vorbilder. Gerade die stupende Tastenmusik der Neapolitanischen Schule mit Komponisten wie Rocco Rodio oder Giovanni de Macque inspirierte den in Ferrara geborenen Frescobaldi zu immer gewagteren Klangexperimenten. Francesco Corti geht diesem Phänomen in dieser neuen Produktion »Frescobaldi and the South« mit scharfsinnigem Gespür und überragender Spielfreude auf den Grund. Auf seiner famosen Entdeckungstour nimmt uns Corti mit bis nach Sizilien zu Bernardo Storace, Frescobaldis großem Verehrer. Für die Jury: Martin Hoffmann

Oper

Marc-Antoine Charpentier: David & Jonathas

Reinoud Van Mechelen, Caroline Arnaud, David Witczak, François-Olivier Jean, Antonin Rondepierre, Geoffroy Buffière, Virgile Ancely, Chœur et Orchestre Marguerite Louise, Gaétan Jarry, Regie: Marshall Pynkoski, Choreographie: Jeannette Lajeunesse Zingg, Ausstattung: Christian Lacroix. 2 CDs, DVD & Blu-ray, Château de Versailles Spectacles CVS102 (Note 1)

In Charpentiers Schüler-Oratorium »David et Jonathas« geht es um Männerliebe und um die Definition guter Herrschaft. Dieser Livemitschnitt, in Bild und Ton, ist die bislang bei weitem prächtigste, sprechendste, ergreifendste Gesamtaufnahme im Katalog. Hier sind beste Kräfte aufgeboten, um die historische Aufführungspraxis auszuweiten auch auf Ästhetik, Gestik, Haptik und Ausstattung eines Gesamtkunstwerks, das zugleich dramaturgisch opernhaft ist und politisch hoch brisant. Für die Jury: Eleonore Büning

Oper

Leoš Janáček: Káťa Kabanová (Katja Kabanowa)

Corinne Winters, Evelyn Herlitzius, Benjamin Hulett, Jarmila Balážová u.a., Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, Wiener Philharmoniker, Jakub Hrůša, Regie: Barrie Kosky. DVD/Blu-ray, Unitel 809108/809204 (Naxos)

Barrie Kosky trifft in Janáčeks Zentrum: Der unterschätzte Tscheche ist der überragende Komponist von Frauen-Lieben-Leiden-Sterben im 20. Jahrhundert. Katjas zentrale Frage »Warum können die Menschen nicht fliegen?« beantwortet die Szene mit der durchweg ihr Leben begrenzend abgewendeten »Gefängnis-Front« aus Dorfbewohnern. Utopisch leuchten die Liebesahnungen von Corinne Winters anrührender Katja und Jarmila Balážovás sonniger Varvara auf – dagegen schneidende Kälte von Evelyn Herlitzius’ Kabanicha – alles ein Verdienst von Dirigent Jakob Hrůša. Eindringlich und bedrückend. Für die Jury: Wolf-Dieter Peter

Chor und Vokalensemble

Reconnaissance

Kaija Saariaho: Chorwerke. Helsinki Chamber Choir, Timo Kurkikangas, Anna Kuvaja, Uusinta Ensemble, Nils Schweckendieck. SACD, BIS Records BIS-2662 (Klassik Center Kassel)

Mitten im spektral-astralen Wohlklang lassen Wurmlöcher der Expressivität die Sphären in Abgründe stürzen: ein Zusammenklingen von Apokalypse und Utopie, das lineare Zeit aufhebt. So rückt die Science-Fiction-Vision von »Reconnaissance« (Erkundung) neben die aus der Zeit fallenden Gedichte des wahnsinnigen Hölderlin. Aber Kaija Saariaho kann auch anders: »Horloge – tais toi!« tickt unerbittlich der Vergänglichkeit entgegen. Diese Uhr schlug der Komponistin am 2. Juni 2023. Die Aufnahme wurde zum würdigen Nach- und leidenschaftlichen Aufruf der exorbitanten Qualitäten von Saariahos Musik: strukturelle Klarheit und entgrenzte Sinnlichkeit. Für die Jury: Martin Mezger

Klassisches Lied und Vokalrecital

Franz Schubert: Die schöne Müllerin D 795

Konstantin Krimmel, Daniel Heide. Alpha Classics ALPHA 929 (Note 1)

Nicht jede Neuaufnahme von Schuberts epochaler »Müllerin« muss sein, gerade im Lied ist der Hang zur Überproduktion gewaltig. Konstantin Krimmels beherzter Schritt ins Allerheiligste des Gesangs ist klug bedacht. Mit kleinen Varianten und raffiniert dosierten Freiheiten gibt er dem Allzubekannten einen persönlichen Spin, wahrt aber, mit dem famosen Daniel Heide zur Seite, eine feine Balance. Und bei aller gestalterischen Intelligenz: Schon die schiere Klangschönheit von Krimmels Bariton ist reine Freude. Für die Jury: Holger Noltze

Alte Musik

Antoine Gosswin: Werkauswahl

Antoine Gosswin: Messsätze, Motetten, Choräle, Lieder, Madrigale. Le Miroir de Musique, Baptiste Romain. Ricercar RIC 450 (Note 1)

Baptiste Romain und sein Ensemble Le Miroir de Musique engagieren sich für eine Randfigur der Renaissance-Polyphonie, den bereits als Jugendlichen in den Dienst der bayerischen Herzogsfamilie getretenen Antoine Gosswin (ca. 1546-1597/98). Die ausgewählten Messsätze, Motetten, Madrigale und deutschen Lieder erweisen ihn als satztechnisch versierten, kompositorisch originellen, alle Formen beherrschenden Musiker. Das aus Vokalisten und Instrumentalisten gemischte Ensemble liefert mit seiner glänzenden, farbenreichen Darstellung ein überzeugendes Plädoyer für den bisher so gut wie unbekannten Gosswin. Für die Jury: Uwe Schweikert

Zeitgenössische Musik

Archipels

Klavierwerke von Rebecca Saunders, André Boucourechliev, James Clarke, Rolf Riehm. Nicolas Hodges. bastille musique bm025 (rudi mentaire distribution)

Nein, das ist kein Player-Piano! Schon die Glissandi in Rebecca Saunders »to an utterance – study« lassen einem den Atem stocken. Was man technisch nur vom Player Piano kennt, gelingt Nicolas Hodges. Doch das wirklich Atemberaubende sind seine poetisch feinsinnigen Klangbilder! Man spürt: Hodges lebt seit einem Vierteljahrhundert in den Welten dieser Komponierenden. Seine Live-Kompositionen im Archipel von André Boucourechliev, die Jahrhunderte durchlebende Reise nach Venedig von Rolf Riehm und die glockenhaft umspielte Sonate von James Clarke werden zu Seelenreisen unseres Alltags. Für die Jury: Margarete Zander

Historische Aufnahmen

Wolfgang Schneiderhan: Complete Recordings on DG (1952-1968)

Wolfgang Schneiderhan, Irmgard Seefried, János Starker, Wilhelm Kempff und andere, Berliner Philharmoniker, Radio-Symphonie-Orchester Berlin und andere. 34 CDs, Deutsche Grammophon 00289 486 3789 (Universal)

Wolfgang Schneiderhan ist heute nur noch wenigen Hörerinnen und Hörern durch eigene Konzerteindrücke präsent. Nun hat die DGG eine umfängliche Schneiderhan-CD-Box auf den Markt gebracht, die auf alte LP-Ausgaben zurückgreift und eine vor fast 30 Jahren in Japan veröffentlichte Edition in puncto Aufmachung, Vollständigkeit und besonders Klangqualität in den Schatten stellt. Im Mittelpunkt stehen Sonaten und Konzerte von Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms und Bruch. Partner sind Pianisten wie Carl Seemann und Wilhelm Kempf, Dirigenten wie Wilhelm Furtwängler, Eugen Jochum, Paul van Kempen und Ferenc Fricsay. Hervorgehoben sei die Solo-Partita No. 2 von Bach. Erstmals zugänglich ist hier u. a. der »Kleine Hirte« aus Debussys »Children’s Corner«. Für die Jury: Stephan Bultmann

Jazz

Buselli/Wallarab Jazz Orchestra: The Gennett Suite

CD/LP/Digital, Patois Records PRCD0029 (Direktvertrieb)

Für das Plattenlabel Gennett spielten vor 100 Jahren erstmals Jazz-Giganten wie King Oliver, Louis Armstrong und Bix Beiderbecke in den Aufnahmetrichter. Der Arrangeur Brent Wallarab schrieb jetzt für das von ihm mit dem Trompeter Mark Buselli geleitete und mit inspirierten Sidemen besetzte Orchester eine ausgedehnte viersätzige Suite, in der die einst wegweisenden Themen und Improvisationsmotive, geistreich und modern weitergesponnen, nicht nur auf die Anfänge des Jazz verweisen, sondern ihre zeitlose Gültigkeit und befruchtende Kraft für frischen, fantasievollen Bigband-Jazz beweisen. Für die Jury: Marcus A. Woelfle

Jazz

Joachim Kühn New Trio: Komeda

Joachim Kühn New Trio & Atom String Quartet: Jazz At Berlin Philharmonic XIV: Komeda. ACT 9972-2 (Edel)

Unter dem schlichten Titel »Komeda« veröffentlicht, dokumentiert das Album eine tief emotionale und groß angelegte Hommage an Krzysztof Komeda, den Wegbereiter eines neuen europäischen Jazz. Der Pianist Joachim Kühn, in jungen Jahren Freund und seither Bewunderer des tragisch früh verstorbenen Visionärs, blickt auf Komedas Kompositionen zurück und nimmt sie zugleich zum Anlass, sich mit ihnen auf musikalisches Neuland zu begeben – in faszinierenden Soloimprovisationen, mit seinem New Trio und in der gelungenen Symbiose mit dem ebenso virtuos wie beseelt musizierenden Atom String Quartet. Für die Jury: Bert Noglik

Weltmusik

MirAnda: Uma Mulher Na Cidade

(A Lisbon Woman). Jaro Medien JARO 4369-2 (Direktvertrieb)

MirAnda stammt von der Algarve und ist heute in Almada und Lissabon zu Hause, am anderen Ufer des Tejo. Nicht nur zwischen beiden Städten schlägt sie Brücken, sondern auch zwischen Fado und anderen Ausdrucksformen der portugiesischsprachigen Welt, Argentiniens und Frankreichs. Mit vorwiegend tanzbaren Stilmixturen begann sie 2002 als Frontfrau der Gruppe »Oquestrada«; und mit ihrem ersten, modern arrangierten und facettenreichen Solo-Album, voll von ruhigen und Uptempo-Liedern, würdigt sie jenseits aller Moden die urbane Musik der Straße und der Bars von Lissabon. Das ist wegweisende neue Musik aus Portugal. Für die Jury: Rainer Skibb

Traditionelle Ethnische Musik

Ali Doğan Gönültaş: Kiğı

Mapamundi Música MM001 (Direktvertrieb)

Zehn Jahre lang sammelte der kurdische Sänger Ali Doğan Gönültaş die Volkslieder seiner Heimatregion Kiğı in Anatolien. Einige davon bearbeitete er behutsam und geschmackvoll. So entsteht ein klingender Kosmos musikalischer Traditionen, gesungen in verschiedenen kurdischen Sprachen, aber auch in Armenisch und Türkisch. Gönültaş’ ausdrucksstarke Stimme wird untermalt von farbigen Instrumentalklängen und mehrstimmigem Gesang – eine wunderschöne Hommage an die vielfältige Kultur Anatoliens. Für die Jury: Tom Daun

Liedermacher

Dota: in der fernsten der Fernen

Mascha Kaléko 2. Doppel-CD, Kleingeldprinzessin Records 30661 (Broken Silence)

Zieht da ein Revival herauf? Eine Theater-Uraufführung in Frankfurt erzählt aus dem Leben der Poetin Mascha Kaléko; und Dota Kehr, vor 20 Jahren »Stadtpiratin« mit einer jungen, neuen Chanson-Band, legt abermals eine Doppel-CD mit Kaléko-Texten vor. Gedichte im Ton der »Neuen Sachlichkeit« sind versammelt, auch Epigramme wie von Erich Kästner – und mit »Dota« entstehen knapp und klug bemessene Miniaturen über das Leben und die Liebe. Funny von Dannen, Dirk von Lowtzow, Anna Mateur, Clueso und viele mehr hat Dota eingeladen zum Duett – und alles das passt: für das Bild einer sehr besonderen Lied-Poetin. Für die Jury: Michael Laages

Folk und Singer/Songwriter

Calum Stewart: True North

Digital, Earlywood Music EMCD03 (Direktvertrieb)

Die Uilleann Pipes sind eigentlich ein typisch irischer Dudelsack, aber der Schotte Calum Stewart und seine beiden bretonischen Mitstreiter mit Kontrabass und Citter beweisen auf dieser CD eindrucksvoll, dass wahre Meister für ihr Instrument keine geografischen Grenzen kennen. Alle zehn Tracks der Instrumental-CD haben schottische Wurzeln. Bereits der Anfang zeigt die Breite des Materials: Beim selbstgeschriebenen Titelstück lotet Stewart die emotionalen und harmonischen Grenzen des Instruments konsequent aus und der folgende Set aus drei traditionellen Reels beweist ungeheure Fingerfertigkeit. Höchst ausgereift! Für die Jury: Mike Kamp

Rock

Hannah Aldridge: Dream Of America

CD/LP, Icons Creating Evil Art ICEACD446 (Rough Trade)

Ja, sie ist eine dieser »Töchter von«, also Kind eines Musikers. Hannah Aldriges Vater Walt wurde bekannt als Songwriter im Nashville-Sound – das Schaffen der Tochter aber löst sich von vielen Konventionen, die man mit diesem Ort verbindet. Auf ihrem Album »Dream of America« spielt die Musikerin aus dem »Bible Belt« Americana für die große Kinoleinwand, dunkle Musik mit Melodien, wie sie auch der weniger pop-affinen Lana del Rey hätten einfallen können; mit spukigen Synthesizern und einem verschleppten, fast gespenstischen Cover über »Psycho Killer« von den Talking Heads. Für die Jury: Julia Lorenz

Hard und Heavy

The Night Eternal: Fatale

CD/LP/Digital, Ván Records VAN 376 (Soulfood)

Man sollte das Essener Quintett nicht auf seine Herkunft reduzieren, aber sicher ist: Genau wie das Ruhrgebiet bietet auch »Fatale« Schönheit im Hässlichen, der rabiate, kratzige Heavy Metal der Band wird von sowohl mitnehmender Melancholie als auch unaufdringlicher Zartheit flankiert, die dem Ganzen eine morbide Tanzbarkeit verleihen, wie man sie von anderen Underground-Lieblingen wie Tribulaton oder In Solitude kennt. Mit dem Holzhammer komponieren The Night Eternal indes nicht – die neun Songs des zweiten Albums fordern Aufmerksamkeit ein, sie sind angelegt für die Langstrecke und nicht für den Sprint. Für die Jury: Boris Kaiser

Club und Dance

DJ Mell G: Issues

Digital, Juicy Gang Records JGR006 (Direktvertrieb)

Einschnürend, bedrückend, in ständiger Wiederholung gefangen – was sich wie ein Krisenszenario beschreiben lässt, ist hier ästhetischer Ausgangspunkt eines von Retro-Elektro inspirierten Mini-Albums, auf dem DJ Mell G in gebotener Dringlichkeit und mit der daraus resultierenden Widerstands-Energie aber auch die Auseinandersetzung mit den eigenen Mental-Health-Dämonen betreibt. Das eindrucksvolle Langspiel-Debüt der international gefragten Hamburger DJ auf eigenem Label belebt auf eigenwilligem, düster-brüchigen Terrain aus Beats und Bässen die alte Elektro-Welt – mit Techno-, Acid- und Footwork-Einflüssen. Für die Jury: Christian Tjaben

Electronic und Experimental

»Micro Ambient Music« – Tribute To Ryuichi Sakamoto

David Toop, Otomo Yoshihide, Sachiko M, Alva Noto, Taylor Deupree, Christopher Willits u.a.. Digital, Micro Ambient Music (Direktvertrieb)

Micro Ambient Music liefert vier Stunden Soundkunst von Musikern des New Yorker Labels 12k, das von Taylor Deupree betrieben wird. Zu Ehren des im März verstorbenen Klangforschers Ryuichi Sakamoto sind Werke von Otomo Yoshihide, Alva Noto, David Toop, Christopher Willits, Ken Ikeda, Marihiko Hara, Aoki Takamasa und anderen Musikern versammelt, die teils mit Sakamoto zusammengearbeitet haben. Die Kompilation wird zum Zeugnis für die Welt der Soundkunst, des Ambient und anderer Formen der experimentellen Musik und ihrer Errungenschaften nach den Nuller-Jahren. Ein Teil des Erlöses wird an Trees For Sakamoto gespendet. Für die Jury: Olaf Maikopf

Blues

Selwyn Birchwood: Exorcist

CD/LP, Alligator Records CDAL 5012 (Bertus)

Er selbst nennt seine Musik »Electric Funk Swampin’ Blues«. Man könnte sie aber auch einfach »großartig« nennen. Mit »Exorcist« ist Selwyn Birchwood ein Album gelungen, das einen vom ersten Ton an regelrecht packt und in den nächsten 58 Minuten nicht mehr loslässt. Diese Produktion strotzt vor Selbstbewusstsein und zeigt einen Künstler, der über Albert King und Buddy Guy zum Blues kam und gerade dabei ist, mit immer wieder neuen stilistischen Ideen weit über die beiden hinauszugehen. Was ist das für ein frischer, neuer Fußabdruck in diesem alten Gewerbe; und das mit nicht mal 40 Jahren! Für die Jury: Karl Leitner

R&B, Soul und Hip-Hop

Kool & The Gang: People Just Wanna Have Fun

CD/2 LPs, Astana Music Inc. 0819376047928 (Membran)

Kool & The Gang sind eigentlich eine Jazzband mit Disco-Hits. Live zeigen sie im ausufernden Improvisationsspiel, wohin die Reise nach den The-Jazziacs-Zeiten hätte gehen können. Doch es kam anders, die Hits purzelten jahrzehntelang auf die Tanzflure, denn »People just wanna have fun«. 2024 wird den Band-Angestellten die Lebensleistung einer 60-jährigen Betriebszugehörigkeit bescheinigt – und so feiert die Rest-Gang um Robert »Kool« Bell und George »Funky« Brown auf der mittlerweile 34. LP die ewige Party einfach weiter: mit den Mitteln von heute, aber ohne sich dem Zeitgeist an den Hals zu werfen. Für die Jury: Torsten Fuchs

Wortkunst

Emmanuel Carrère: V 13 – Chronique judiciaire

Hörspiel. Ulrich Matthes, Maren Eggert, Constanze Becker, Alexander Simon, Musik: zeitblom, Übersetzung: Claudia Hamm, Regie: Leonhard Koppelmann. Stream, SWR

Der Titel steht für ein Datum des Schreckens: Am 13. November 2015 – vendredi 13 novembre – fand ein islamistischer Terroranschlag in Paris statt. 130 Menschen starben, fast 700 wurden verletzt. Sechs Jahre später beginnt der Prozess gegen 14 Angeklagte, an dem der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère neun Monate teilnimmt. Er hört zu, berichtet, stellt Fragen, findet keine Antworten. Seine ungewöhnliche Gerichtsreportage haben Regisseur Leonard Koppelmann, der Musiker zeitblom und ein grandioses Ensemble eindrucksvoll umgesetzt: als Hörspiel und achtteiliger Podcast. Man folgt gebannt – mit ratlosem Grauen. Für die Jury: Manuela Reichart

Foto: Der Schauspieler Ulrich Matthes (rechts im Bild) und der Regisseur Leonhard Koppelmann während der Aufnahmesitzungen. © SWR/Leonhard Koppelmann

Kinder- und Jugendaufnahmen

Nils Mohl: Wilde Radtour mit Velociraptorin

Christoph Jöde. Hörcompany ISBN 978-3-96632-071-9

Was haben ein Velociped und ein Velociraptor gemeinsam? Eine Worthälfte, die sich ableitet von der gemeinsamen lateinischen Wurzel velox, also »schnell«. Ein Fahrrad und ein räuberisches Dinosaurierweibchen sind die zentralen Mot(ivat)oren in dieser flotten Fahrradtour. Von A-Z unterhält die wendungsreiche Geschichte auch auf sprachlicher Ebene: In jedem der kurzen Kapitel steht nebenbei ein Buchstabe im Mittelpunkt. Und so fließen auch fahrradspezifische Begriffe locker mit ein – in eine ebenso vergnügliche wie virtuose Miniatur für Klein und Groß, mit akustischem Augenzwinkern gelesen vom Hamburger Schauspieler Christoph Jöde. Für die Jury: Regina Himmelbauer

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